Wer hat Angst vorm Schwarzen Markt? Drogenpolitische Menschenbilder im Wandel

Von Carlo Brauch

Am 23. Februar 2024 hat der Deutsche Bundestag die Teillegalisierung von Cannabis beschlossen. Zuvor war der ursprüngliche Konzeptentwurf um das Vorhaben der Einführung eines regulierten, legalen Marktes gekürzt worden.[1] Zusätzlich wurden im Zuge anhaltender Haushaltsstreitigkeiten die Mittel für die Umsetzung stark eingeschränkt. Dennoch verkündeten die Fraktionen der SPD und FDP zum Bundestagsbeschluss vollmundig einen Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik – der jedoch durch die Eingrenzung auf den Umgang mit Cannabis, das heißt auf einen Teilbereich der Drogenpolitik, und die Ausdünnung des ursprünglichen Konzeptes umgehend relativiert wird. [2]

Der Begriff des Paradigmenwechsels, seit seiner Prägung durch den Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn 1962 im Sprachgebrauch der Politik beinahe zur Floskel verkommen, beschreibt ursprünglich eine Veränderung der Grundannahmen wissenschaftlicher Theoriebildung.[3] Das bestehende Theoriekonstrukt wird nicht nur ergänzt, sondern auf Basis neuer Erkenntnisse in seinen Grundfesten erschüttert. Vollzogen ist der Paradigmenwechsel erst, wenn die sich die Konkurrenz zwischen den etablierten Grundannahmen und der neuen Theoriebildung in der wissenschaftlichen Disziplin zugunsten des Neuen auflöst.

Im Bereich der Politik, in dem es um das Leben von Menschen in Gemeinschaft geht, können wir den Begriff des Paradigmas in die normativen Grundannahmen über die soziale und politische Konstitution des Menschen und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Regelung gesellschaftlicher Anliegen übersetzen. Ein tatsächlicher Paradigmenwechsel in der Politik impliziert daher eine Revision des Menschenbildes, das der bisherigen Politik zugrunde lag, und aller daraus abgeleiteten Institutionen und Handlungsoptionen politischer Akteure.

Diesen hohen Anforderungen wird die Teillegalisierung von Cannabis schwerlich gerecht, indes weist auch diese Debatte ebensolche normativen Annahmen über den Menschen und seine Beziehung zur Gesellschaft auf. Die Entscheidung, eine bestimmte Handlung, in diesem Fall den Besitz, Handel und die Produktion von Cannabis, strafrechtlich zu ahnden beziehungsweise dies nicht mehr zu tun, beinhaltet die Frage, ob die Gesellschaft ein berechtigtes Interesse an der Verhinderung von Cannabiskonsum[4] hat und auf welche Weise diesem Interesse Rechnung getragen werden kann. Grundsätzlich sind der Drogenpolitik demnach normative Annahmen und Ziele implizit, die zunächst begründen sollen, warum der Konsum bestimmter Substanzen der Aufmerksamkeit staatlicher Organe bedarf. Doch auch der Auswahl des Vorgehens, sei strafrechtliche Verfolgung oder kontrollierte Duldung, zum Zweck solcher Ziele sind Annahmen über den Menschen und die Frage, wie und ob auf ihn eingewirkt werden kann und soll, implizit.

Im Folgenden soll daher die Teillegalisierung von Cannabis in Deutschland genutzt werden, um ebendiese normativen Annahmen, die Menschen- und Gesellschaftsbilder zu analysieren, die der bisherigen Drogenpolitik, aber auch den aktuellen Bestrebungen nach einer drogenpolitischen Wende zugrunde liegen. Die Analyse beginnt mit den Ursprüngen der Drogenverbotspolitik und ihrer ideologischen Rechtfertigung im 19. Jahrhundert und stößt hier bereits auf den weltanschaulichen Widersacher dieses ersten drogenpolitischen Paradigmas, den Liberalismus. Die Problematisierung von Drogenkonsum und die strafrechtliche Vorgehensweise im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erscheinen in dieser Retrospektive als Biopolitik[5], die auf dem Welt- und Menschenbild einer christlichen Reformbewegung fußt, sich in der politischen Kontinuität aber von dieser emanzipiert bzw. säkularisiert hat.

Mit den normativen Grundannahmen der bisherigen Drogenpolitik vor Augen, werden im letzten Abschnitt die aktuellen Tendenzen einer – vermeintlichen – drogenpolitischen Wende dahingehend analysiert, inwiefern sie auf einem alternativen Menschenbild basieren und welches staatliche Vorgehen sie implizieren. Mit anderen Worten wird gefragt, wie ein wirklicher Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik aussähe.

 

Die Moderne und das Drogenverbot

 
Heutzutage wird die Einteilung in legale und illegale Substanzen als selbstverständlich hingenommen und die strafrechtliche Verfolgung von Konsument:innen und Händler:innen illegaler Substanzen prägt längst alltägliche Erfahrungen, vor allem in städtischen Gebieten. Aus der Perspektive der Politikwissenschaft ist hierbei besonders bemerkenswert, dass die Fortführung der strafrechtlichen Kontrolle bis dato verbotener Drogen als natürliche Aufgabe des Staates betrachtet wird und zumindest bis vor Kurzem in vielen Staaten überparteilicher Konsens war.[6] Die jüngeren Bestrebungen der Entkriminalisierung des Konsums einzelner Substanzen stellen diese Grundannahme des Diskurses über Drogenpolitik nur sehr bedingt infrage. Einerseits wird zwar die strafrechtliche Verfolgung der Konsument:innen problematisiert, nicht aber die der Händler:innen und Produzierenden. Andererseits beschränken sich die meisten Entkriminalisierungsinitiativen auf einzelne Substanzen und agieren somit weiterhin auf der Basis der Einteilung in legale und illegale Substanzen. Selten wird hinterfragt, ob das Vorgehen der strafrechtlichen Verfolgung in Bezug auf Substanzkonsum und -handel überhaupt mit den Grundsätzen der liberalen Demokratie vereinbar ist.

Mit Blick auf die politische Ideengeschichte mutet dies paradox an. Zunächst ist der Drogenkonsum unabhängig der jeweiligen Motive der Konsument:innen als eine Handlung zu betrachten, die auf sich selbst bezogen ist, insofern der eigene Bewusstseinszustand und nicht der anderer Personen beeinflusst wird. Somit scheint keineswegs schlüssig, dass sich der Staat, wie ihn liberale Theoretiker:innen im Sinn hatten, überhaupt damit beschäftigt. Die Freiheitskonzeption John Stuart Mills betont in diesem Sinne die Individualität nicht nur des Denkens und der Rede, sondern explizit auch des Handelns, die erst dort legitimerweise durch den staatlichen Eingriff beschränkt werden darf, wo die Interessen anderer Mitglieder der Gesellschaft betroffen sind.[7] Hieraus lässt sich zwar keine Absage an Drogenpolitik im Allgemeinen ableiten, sehr wohl jedoch an eine strafrechtlich geleitete Drogenpolitik. Indes sieht Mill ein, dass »lasterhaftes« Verhalten gegenüber sich selbst auch mit Pflichtverletzungen gegenüber Anderen, insbesondere vom Individuum abhängigen Angehörigen, einhergehen kann, und in der Ahndung dieser Nachlässigkeiten sieht er durchaus ein legitimes Handlungsfeld der Autorität.[8] Die strafrechtliche Verfolgung von Substanzkonsum per se lässt sich mit diesem liberalen Argument aber nicht rechtfertigen, da sie unabhängig von etwaigen Pflichtverletzungen erfolgt.

Auf der Suche nach dem weltanschaulichen Ursprung der aktuellen Drogenpolitik wird man jedoch auch in Mills Essay On Liberty fündig. Nicht etwa in seinen eigenen liberalen Argumenten, jedoch in den Tendenzen und Bewegungen, durch die Mill die Freiheit bedroht sieht und gegen die er anschreibt. Das Vordringen einer gesellschaftlichen Gleichschaltung unter der Tyrannei der Mehrheit[9], wie Mill sie dem Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts diagnostiziert, oder unter einer milden Despotie, wie Tocqueville diese Tendenz beinahe gleichzeitig in Bezug auf die amerikanische Demokratie benennt,[10] impliziert, dass die Grenze zwischen Angelegenheiten, die das Individuum betreffen, und solchen von Tragweite für die Allgemeinheit aufgehoben wird. Die Bedingung für die Auflösung dieser Grenze, der der Liberalismus große Bedeutung zuschreibt, besteht in der Auffassung, dass individuelle Entscheidungen aufgrund der Zugehörigkeit des Individuums zur Gesellschaft von allgemeinem Belang sind und somit in die Zuständigkeit von politischen Akteuren fallen. Als Treiber dieser antiliberalen Tendenzen betrachtet Mill die calvinistische Reformbewegung,[11] die Ausdruck einer christlich-protestantischen Weltanschauung ist, die sich im 19. Jahrhundert in Großbritannien und den USA als mehrheitsfähig erweist.

 

Die christliche Begründung der Biopolitik

 
In dieser protestantischen Ideologie ist auch die christliche Mäßigungs- und Sittenlehre enthalten, die Andrew Monteith in seinem Werk Christian Nationalism and the Birth of the War on Drugs als einen der Ursprünge der modernen Drogenpolitik identifiziert.[12] Monteith beschreibt, wie in den USA des 19. Jahrhunderts eine protestantische Enthaltsamkeitsbewegung entsteht, die sich eine allgemeine Abstinenz des Volkes zum Ziel setzt und ihren Einfluss auf die Öffentlichkeit ausbaut. Beleg für ihre erfolgreiche direkte oder indirekte Einflussnahme auf politische Akteure ist der 13. Zusatzartikel der US-Verfassung zum Verbot von Alkoholverkauf und -produktion, dessen Gültigkeitszeitraum von 1920 bis 1933 heute als Prohibition bekannt ist und dessen Etablierung eines der primären Anliegen der Abstinenzbewegung war.[13]

Das Interesse der Enthaltsamkeitsbewegung am Drogenkonsum nicht nur der eigenen Mitglieder, sondern der gesamten Bevölkerung wurzelt in der Prädestinationslehre des Calvinismus.[14] Sie löst die katholische Vorstellung vom Sündenausgleich mittels planloser guter Taten durch den Glauben an die Vorherbestimmtheit der Empfänger:innen von Gottes Gnade ab.[15] Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe der auserwählten Christ:innen ist zwar für das Individuum nie gesichert feststellbar, äußert sich jedoch in einem christlichen Habitus, der die Gesamtheit des alltäglichen Lebens erfasst und dieses zum Gegenstand der protestantischen Ethik und einer unaufhörlichen Selbstkontrolle bzw. einer »methodischen Sittenlehre« macht.[16] Hierbei wird der rationalistische Ansatz des Katholizismus übernommen, insofern Affekte und Triebe suspekt erscheinen und als Verführung zur Sünde interpretiert werden. Diese Vorstellung wird im Calvinismus aber allumfassender und totalitärer, indem die guten Taten im alltäglichen Habitus verankert werden und die Triebnachgabe das Auserwähltsein verunmöglicht und keine Möglichkeit der Rehabilitation eröffnet.[17] Implizit ist diesem Ansatz natürlich die Spaltung der Gesellschaft in die Gruppe der Auserwählten, die zu Ehren Gottes einen asketischen Lebensstil verfolgen, und diejenigen, die, in der Lesart des asketischen Protestantismus, der Verführung nachgeben und aufgrund ihres triebgeleiteten Lebensstils von der göttlichen Gnade und der Erwartung der christlichen Erlösung ausgeschlossen sind.[18]

Diese Spaltung wirft die Frage nach dem Umgang der asketischen Gläubigen mit dem Rest der Gesellschaft auf, die in der US-amerikanischen Enthaltsamkeitsbewegung eine zweifache Antwort erfährt. Einerseits deuten Proteste in Kneipen, die direkte Ansprache von Alkoholkonsument:innen, aber auch Selbsthilfeformate wie die Alcoholics Anonymous auf einen Bekehrungsglauben hin, der in gewissem Widerspruch zur Lehre von der göttlichen Vorherbestimmtheit steht, in der Enthaltsamkeitsbewegung jedoch stark verankert ist.[19] Auch die strafrechtliche Verfolgung kann als abschreckende, erzieherische Maßnahme der Bekehrung interpretiert werden. Die Isolierung der straffällig geworden Drogenkonsument:innen ohne überzeugende Rehabilitationsangebote unterläuft diese Argumentation jedoch. Eine Bekehrung derjenigen, die gegen die strafrechtlichen Bestimmungen bereits verstoßen haben, scheint daher nicht im Fokus dieses Bekehrungsglaubens zu liegen.

Vielmehr ist die strafrechtliche Verfolgung als zweiter Weg des Umgangs mit Konsument:innen und Händler:innen zu betrachten, bei dem das Ziel einer erlösten christlichen Nation im Diesseits durch die Exilierung von Abweichenden erreicht werden soll. Als besonders relevantes Argument gilt hierbei der Schutz der nicht betroffenen Bevölkerung vor der Verführung durch Drogenkonsument:innen und Händler:innen.[20] Aus diesem Argumentationsdiskurs ist uns bis heute das Bild des Drogendealers erhalten geblieben, dessen primäres Anliegen es sei, Unschuldige in Versuchung zu führen.[21]

 

Die Säkularisierung der Drogenverbotspolitik

 
Vor dem Hintergrund der Zielsetzung einer christlich-asketischen Gemeinschaft und der Vorstellung von Konsument:innen, insbesondere aber Händler:innen als Verführer:innen zu triebgeleitetem Verhalten erscheinen sowohl Bekehrung als auch Aussonderung dieser Menschengruppe als Zeichen des Fortschritts in Richtung einer gottgewollten Gesellschaft.[22] Dieser Fortschrittsglauben, der dem Protestantismus immanent ist, bietet einen Anknüpfungspunkt für das kapitalistische Narrativ der Moderne, insofern ökonomische Fortschritte als Ausdruck der göttlichen Vorherbestimmtheit interpretiert werden können. Aus diesem Grund war auch die Argumentation, Substanzkonsum schade der Ökonomie im Sinne ausfallender Arbeitskräfte, bereits in den dezidiert christlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts weit verbreitet.[23] Insbesondere Max Weber wies auf diese ideologische Vereinbarkeit von protestantisch-calvinistischer Weltanschauung und ökonomischem Fortschrittsgedanken der Moderne hin und betonte die Relevanz der protestantischen Arbeitsmoral für den kapitalistischen Fortschritt.[24]

Das utilitaristische Argumentationsmuster der Einschränkung individueller Freiheiten zum Zweck eines gesamtgesellschaftlichen Fortschritts erweist sich auch im Hinblick auf die Drogenpolitik als ideologisch anpassungs- und säkularisierungsfähig. Bereits auf der ersten Opiumkonferenz[25] im Jahr 1912, die die US-Regierung auf Drängen der amerikanischen Enthaltsamkeitsbewegung initiierte, wurde die christliche Begründung des Verbots in ein humanitäres Anliegen übersetzt. Die strafrechtliche Verfolgung des Handels mit sowie die Herstellung und der Konsum von Opium, Morphium, Kokain und Hanf, die im Rahmen der Konferenz internationalisiert werden sollte, begründete der US-Delegierte Hamilton Wright beispielsweise mit dem gewohnheitsbildenden Effekt dieser Drogen, der eine Gefahr für die moralische, physische und ökonomische Wohlfahrt darstelle.[26] Der Drogenkonsum wird in dieser Lesart zum Akt kontra den zivilisatorischen und ökonomischen Fortschritt der Moderne.

Der gesamte Säkularisierungsprozess, der die strafrechtlich bestimmte Drogenpolitik zumindest scheinbar von der christlichen Weltanschauung abgelöst und bis heute erhalten hat, ist zu langwierig und vielseitig, um hier in Gänze erfasst zu werden. Es genügt, zunächst festzustellen, dass die Drogenverbotspolitik dem Muster utilitaristisch begründeter und international verbreiteter Biopolitik folgt. Der strafrechtliche Zugriff auf die einzelnen Gesellschaftsmitglieder wird jeweils mit gesellschaftlichem Fortschritt begründet, wobei Begriffe wie Christenheit, Nation, Volkswirtschaft, Allgemeinheit, Öffentlichkeit und Volkskörper auswechselbar sind. In der Bundesrepublik wurde seit Erlass des Betäubungsmittelgesetzes im Jahr 1972, das das Opiumgesetz von 1930 ablöste, das drogenpolitische Vorgehen zumeist mit der öffentlichen Gesundheit begründet. Dass gesundheitlichen und suchtspezifischen Folgen des Strafvollzugs kaum Rechnung getragen wird, zeigt, dass von einem kollektiven Gesundheitsbegriff ausgegangen wird, der eng verknüpft ist mit Konzeptionen von Produktivität und Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung.[27] Die Inhaftierung erfolgt keineswegs zur Gesundheitsförderung der Inhaftierten, vielmehr werden Drogenkonsum und Sucht als ansteckende Krankheit interpretiert, deren Ausbreitung nur durch die Isolation von Konsument:innen und Händler:innen gewährleistet werden kann.[28] Zusätzlich unterminiert wird diese Argumentation durch die pragmatisch-ökonomischen Ausnahmen für Alkohol und Tabak.

 

Drogenpolitische Menschenbilder im Wandel?

 
Die strafrechtliche Einwirkung des Staates auf den Drogenkonsum ist in einem protestantischen Menschenbild begründet. Der Mensch wird als Mängelwesen gedacht, das von den eigenen Trieben und Emotionen in Versuchung gebracht wird, von dem »richtigen«, nämlich dem christlich-asketischen Weg abzuweichen. Unfähig, der Verführung eigener Triebe und bereits verführter, »infektiöser« Personen standhalten zu können, muss er sich der höheren Macht Gottes hingeben, um auf den – vermeintlich – rechten Weg geleitet zu werden.[29] Das Drogenverbot und die strafrechtliche Verfolgung von Konsument:innen und Händler:innen versucht die Momente der Verführung zu reduzieren, um die Mitglieder der christlich-asketischen Gemeinschaft und Bekehrungswillige zu schützen. Im Unterschied zum Bild von Händler:innen, die durchwegs als teuflische Kräfte der Versuchung charakterisiert werden, kommt Drogenkonsument:innen hierbei notwendigerweise eine ambivalente Rolle zu. Sie bergen sowohl das Potenzial, durch Bekehrung Mitglieder der christlichen Gemeinschaft zu werden, als auch die Gefahr, mit ihrem lasterhaften Lebensstil andere »anzustecken«. In dieser Doppeldeutigkeit begründet sich das Vorgehen, Konsument:innen einerseits durch strafrechtliche Sanktion zu isolieren und sie andererseits mittels Angeboten wie Narcotics Anonymous zu bekehren.

In der Debatte um die Legalisierung von Cannabis ist im Bild der Konsument:innen der deutlichste Wandel des Menschenbildes zu erkennen. Entsprechend einer ordoliberalen Anpassung der liberalen Perspektive auf den Drogenkonsum wird zwar dem liberalen Prinzip der Eigenverantwortung Rechnung getragen, durch die Intervention des Staates aber Qualität und Informationsverfügbarkeit garantiert – freier Konsum und regulierter Markt. Konsument:innen werden weniger als triebhaft-verführte Mängelwesen denn als vernunftbegabte Subjekte betrachtet.

Diesem Prinzip folgt auch der Plan der Teillegalisierung in einem zentralen Punkt. In der Befürwortung einer legalen Verfügbarkeit, wie auch immer diese im Konkreten ausgestaltet ist, ist die Annahme enthalten, dass Konsument:innen in der Lage sind, auf eigenverantwortlicher Basis die gesundheitlichen Risiken des Konsums einzuschätzen und sich zu mäßigen. Diese klassisch liberale Auffassung wird im beschlossenen Gesetzentwurf durch die Betonung von Aufklärung und Informationsverfügbarkeit um Voraussetzungen eines rationalen Konsumverhaltens ergänzt. In diesem Sinne folgt die Ampelkoalition auch bei Ausbleiben einer marktwirtschaftlichen Einführung einem ordoliberalen Drehbuch im Umgang mit Cannabis, wobei die nach wie vor eingeschränkte Verfügbarkeit einen breiten Masseneffekt, der den illegalen Handel verdrängen könnte, sehr unwahrscheinlich macht.

Trotz der Betonung von Aufklärung und Eigenverantwortung ist in den Argumentationen Karl Lauterbachs für die Teillegalisierung auch das christliche Narrativ der Verführung enthalten. Besonders deutlich wird dies anhand des verallgemeinernden Begriffs des Schwarzmarkts, auf dem Lauterbach zufolge Händler:innen aus niederträchtigen Motiven Drogen potenzieren[30], vermischen, verunreinigen und strecken.[31] Der Gesundheitsminister bedient sich damit des alten Feindbildes von gewissenlosen Drogendealer:innen, die Menschen verführen und ausnutzen, mit dem auch die Verschärfung der Strafverfolgung durch das Betäubungsmittelgesetz begründet wurde.[32]

Dieser imaginierten Sozialfigur schreibt Lauterbach die Verantwortung für mehrere Phänomene des illegalen Drogenmarktes zu, die keineswegs alle belegbar oder plausibel sind. So wird die Hochpotenzierung von Cannabis als angebotsinduzierte Veränderung des Produktes interpretiert, der das Interesse von Händler:innen an der Erzeugung von Sucht zugrunde liegt. In einem unregulierten Markt ist allerdings nicht in Erfahrung zu bringen, ob Potenzierung auf Nachfrage oder Angebot zurückzuführen ist. Beispiele der Vermengung und Verunreinigung von Cannabis sind zwar zweifelsohne angebotsinduziert, von diesen Beispielen auf generalisierende Aussagen über den gesamten Schwarzmarkt zu schließen, ist jedoch fragwürdig. Initiativen von Konsument:innen und Suchtforscher:innen[33] deuten auf Möglichkeiten hin, Händler:innen für diese Praxis abzustrafen und aus dem Markt zu drängen, zumindest an Orten eines breiten Angebots.

Das Festhalten am Feindbild skrupelloser Drogendealer:innen ist nicht nur bedauerlich, da es die Möglichkeit verspielt, einen Teil dieser Gruppe aus der Illegalität zu holen, sondern auch, da in seinem Schatten die fortdauernde Kriminalisierung bestimmter Konsument:innengruppen lauert. Die Verfügbarkeit von Cannabis durch Eigenanbau im Privaten oder die Mitgliedschaft in einem Cannabis Social Club enthält formelle und ökonomische Hürden.[34] Konsument.innen, die die Ressourcen für eine Clubmitgliedschaft oder den Eigenanbau nicht aufbringen können, für die es sich angesichts nur gelegentlichen Konsums nicht lohnt oder die befürchten, durch Assoziierung mit Einrichtungen des legalen Konsums soziale Ächtung zu erfahren, werden sich auch weiterhin auf dem illegalen Markt tummeln – und damit strafbar machen. Auch die Weitergabe durch legal beziehende Personen ist im Übrigen durch die Strafbestimmungen des Gesetzentwurfs ausgeschlossen.

Es würde jedoch zu kurz greifen und den Entstehungsprozess von Gesetzesentwürfen verkennen, für diese Ambivalenzen des Menschenbildes einzelne Personen wie Karl Lauterbach verantwortlich zu machen. Politische Normen und Ideologien sind in die Strukturen und Institutionen eingeschrieben, die politische Handlungsspielräume begrenzen. Resultat der US-zentrierten Enthaltsamkeitsbewegung waren auch die internationalen Bekenntnisse zur Drogenverbotspolitik, die Teil internationalen Rechts bilden und aus der einstigen Struktur der League of Nations in die heute bestehende Struktur der Vereinten Nationen überführt wurden.

Aktuell macht sich die Opposition ebendiesen Umstand zunutze,[35] um das Vorhaben der Ampelregierung zu torpedieren, das aufgrund internationaler Verbindlichkeiten ohnehin abgespeckt und widersprüchlich daherkommt. Der Beschluss einer vorigen Regierung zum Beitritt zu einem internationalen Abkommen beschränkt hier das Handeln der gegenwärtigen Regierung auch über ideologische Grenzen hinaus.

Eine tatsächliche drogenpolitische Zäsur hätte es daher auch erfordert, die Argumente für eine Legalisierung von Cannabis nicht nur auf nationales, sondern zusätzlich auf internationales Recht anzuwenden. Lehnt die Regierung das drogenpolitische Menschenbild des modernen Protestantismus und die in ihm begründeten Handlungsoptionen ab, dann gilt dies für das Betäubungsmittelgesetz auf nationaler Ebene ebenso wie für das Einheitsabkommen über Betäubungsmittel auf internationaler Ebene. Der bewusste und medial vermittelte Bruch mit diesem und anhängigen internationalen Vereinbarungen, der durchaus eine Reform hätte anstoßen können, wäre hier die Voraussetzung für einen konsequenten Paradigmenwechsel gewesen.

 

[1] Als Grund hierfür wurden europarechtliche Bedenken angeführt, die auf den Beitritt der Europäischen Union zu den zentralen UN-Übereinkommen zur Drogenbekämpfung verweisen. Vgl. Jonas Jordan, Cannabis-Legalisierung: Wo das EU-Recht im Wege steht, in: vorwärts, 17.02.2023, tinyurl.com/indes234f1.

[2] Vgl. Pressemitteilung der FDP Bundestagsfraktion, Lütke: Cannabisgesetz ist Paradigmenwechsel, 02.02.2024, tinyurl.com/indes234f2 und Pressemitteilung der SPD Bundestagsfraktion, Startschuss für eine neue Drogenpolitik, 23.02.2024, tinyurl.com/indes234f3.

[3] Vgl. Thomas Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1970, S. 52f.

[4] In der strafrechtlich bestimmten Drogenpolitik gilt es zu unterscheiden zwischen politischem Ziel und strafrechtlichem Vorgehen im Sinne des Ziels. Verboten ist zwar nicht der Konsum, sondern Besitz, Handel und Produktion, das politische Ziel dieser Bestimmungen liegt jedoch in der Reduzierung beziehungsweise Vermeidung von Drogenkonsum.

[5] Der Begriff der Biopolitik bezeichnet hier in Anlehnung an Foucault einen Prozess, in dem die biologische Verfasstheit der Bevölkerung zum Gegenstand politischer Strukturen wird. Die Lebensprozesse der Einzelnen werden verwaltet, um die Verfasstheit des Ganzen, der menschlichen Gattung beziehungsweise der Gesellschaft zu beeinflussen. Vgl. Thomas Lemke, Biopolitik zur Einführung, Hamburg 2007, S. 13f.

[6] Beispielhaft hierfür ist die Debatte über die Einführung des Betäubungsmittelgesetzes 1971, in der sich die Mittelwahl der Strafverfolgung zur Eindämmung des Drogenkonsums als Konsens darstellte und lediglich die Härte des Vorgehens Gegenstand der Diskussion zwischen Regierung (SPD und FDP) und Opposition (CDU/CSU) war. Vgl. Deutscher Bundestag, Protokoll der 108. Sitzung der 6. Wahlperiode, Bonn 1971, S. 6355–6358, tinyurl.com/indes234f4.

[7] Vgl. John Stuart Mill, Über die Freiheit, Hamburg 2009, S. 79f.

[8] Vgl. ebd., S. 104f.

[9] Vgl. ebd., S. 9.

[10] Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 1976, S. 813f.

[11] Vgl. Mill, S. 87f.

[12] Vgl. Andrew Monteith, Christian Nationalism and the Birth of the War on Drugs, New York 2023, S. 4.

[13] Vgl. ebd., S. 51f.

[14] Max Weber, II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: ders., Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, hrsg. v. Werner Sombart u. a., Tübingen 1905, S. 35f.

[15] Vgl. ebd., S. 26f.

[16] Vgl. ebd., S. 34f.

[17] Vgl. ebd., S. 28f.

[18] Vgl. ebd., S. 73.

[19] Vgl. z. B. Monteith, S. 48.

[20] Vgl. z. B. ebd., S. 50f.

[21] Vgl. bspw. Jasper Barenberg, Gesundheitsminister: Schwarzmarkt wird einbrechen. Interview mit Karl Lauterbach, in: Deutschlandfunk, 20.02.2024, tinyurl.com/indes234f5.

[22] Vgl. Monteith, S. 34f.

[23] Vgl. ebd., S. 35.

[24] Vgl. Weber, S. 99f.

[25] An der Konferenz beteiligt waren neben den USA Delegationen aus Deutschland, China, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Persien, Portugal, Russland, Siam und den Niederladen.

[26] Vgl. Hamilton Wright, International Opium Conference, In: American Journal of International Law, H. 1/1913, S. 108–139, hier S. 109.

[27] Beispielhaft hierfür ist die Begründung der Änderung des Opiumgesetzes in der Plenardebatte, bei der die »soziale Schädigung« hervorgehoben wird. Vgl. Deutscher Bundestag, Protokoll der 108. Sitzung der 6. Wahlperiode, Bonn 1971, S. 6355–6358, hier S. 6356, tinyurl.com/indes234f6.

[28] Vgl. Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Opiumgesetzes (Gesetzentwurf der Bundesregierung), Drucksache VI/1877, 25.02.1971, S. 5.

[29] Eine unverfälschte Wiedergabe dieses Menschenbildes bezogen auf den Umgang mit Sucht findet sich auch heute noch in den zwölf Schritten der Alcoholics und Narcotics Anonymous, tinyurl.com/indes234f7.

[30] Gemeint ist hiermit die Dominanz und Züchtung von Cannabissorten mit besonders hohem THC-Anteil. Indizien für ein Nachfrageinteresse an dieser Potenzierung liefert die anhaltende Nachfrage an diesen Sorten in Regionen des kommerziellen Handels mit Cannabis wie den Niederlanden.

[31] Vgl. Jasper Barenberg, Gesundheitsminister: Schwarzmarkt wird einbrechen. Interview mit Karl Lauterbach, in: Deutschlandfunk, 20.02.2024, tinyurl.com/indes234f8.

[32] Vgl. Deutscher Bundestag, Protokoll der 108. Sitzung der 6. Wahlperiode, Bonn 1971, S. 6355–6358, hier S. 6356, tinyurl.com/indes234f9.

[33] Vgl. z. B. tinyurl.com/indes234f10.

[34] Vgl. Deutscher Bundestag, 20. Wahlperiode, Entwurf eines Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Gesetzentwurf der Bundesregierung), Drucksache 20/8704, 09.10.2023.

[35] Vgl. o.V., Deutsche Cannabis-Legalisierung bricht laut Fraktionschefs von CDU und CSU Völker- und Europarecht, in: Deutschlandfunk, 04.03.2024, tinyurl.com/indes234f11.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.4-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024