Was wäre, wenn… Preppen in der Mitte der Gesellschaft

Von Julian Genner

Die Rede von Krise führt in ihrem Schlepptau sowohl die Hoffnung als auch die Aufforderung mit sich, dass – da sie alle betrifft – alle dasselbe Maß an Einsicht zeigen und dieselben Schlussfolgerungen ziehen. Nun, die Corona- Krise hat diese Hoffnung gründlich zerschlagen. Während der Pandemie zeigte sich, dass Krisen uns eben nicht alle gleich betreffen und uns auch nicht zu identischen Wahrnehmungen zwingen. Eher machten es die zwischenzeitlich lauten Appelle an die »Solidarität« schwieriger, über Ungleichheiten zu sprechen und konstruktiv mit Dissens umzugehen. Wenn es etwas gibt, das uns alle in dieser Situation verbunden hat, dann ist das der Riss zwischen Erfahrung und Erwartung, zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Gemeinhin nutzen wir unsere Erfahrungen, um einer Zukunft, die wir nie wirklich voraussehen können, Sinn zu verleihen. Ein normales Leben – was immer »normal« konkret bedeuten mag – zu führen, ist mit der Idee verbunden, dass die Zukunft bis zu einem gewissen Grad berechenbar ist.[1] Der Begriff der Krise in seiner wörtlichen Bedeutung als Wendepunkt hingegen verweist auf einen Bruch in der Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft. Erscheint die Zukunft unberechenbar, prägen Unsicherheit und Ungewissheit die Wahrnehmung der Gegenwart.[2] Die Frage, wie sich dieser zwischen Erfahrung und Erwartung klaffende Riss kitten ließe, wurde zum Dauerthema politischer, wissenschaftlicher, gesellschaftlicher Debatten – die mal mehr, mal weniger schrill geführt wurden. Und wer es sich leisten konnte, hielt sich gar nicht erst lange mit Debatten auf, sondern wählte einen praktischeren Ansatz, um die Zukunft ein Stück berechenbarer zu machen – und räumte kurzerhand die Supermarktregale leer. [...]

[1] Vgl. Rebecca Bryant & Daniel M. Knight, The Anthropology of the Future, Cambridge 2019.
[2] Die Erfahrung, keine Zukunft zu haben, prägt die Lebensrealität von Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, vgl. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2010, S. 265ff.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-4-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022