Schöpferische Zerstörung des liberalen Europa Auswirkungen der Corona-Krise auf Gesellschaft, Politik und Union
Die Corona-Pandemie hat die politischen Systeme nicht nur der Demokratien Europas schlagartig in eine Ausnahmesituation versetzt: Verordnungen, die Grund- und Freiheitsrechte einschränken, werden scheinbar im Akkord verabschiedet. Politische Entscheidungen werden im schnellen und verkürzten Verfahren im Parlament oder sogar an den Parlamenten vorbei »durchgepeitscht «. Ihre Grundlage ist weniger der offene, pluralistische Wettbewerb um die beste Lösung als vielmehr der Rat von ausgewählten Experten. Auch in der Außenwahrnehmung schlägt mehr denn je die Stunde der Exekutiven: Regierungschefs und Minister der sogenannten Corona-Kabinette dominieren die mediale Berichterstattung, dies auf Kosten der Fraktionsspitzen, der Vertreter der Opposition und vor allem der Zivilgesellschaft, deren Stimme auch angesichts der eingeschränkten Versammlungsfreiheit schnell verhallt.
All dies mag zwar funktional geboten und in der Ausnahmesituation auch berechtigt erscheinen. Denn schnelle Entscheidungen sind Kernpunkte eines jeden Krisenmanagements, soll es Früchte tragen. Doch verstärkt die heutige Situation bedenkliche Entwicklungen, die wir in Ansätzen schon weit vor der Corona-Krise beobachten konnten, die jetzt aber eine neue Intensität und damit Dringlichkeit erfahren: Gemeint sind die schleichende Entparlamentarisierung, eine Entpolitisierung des vorpolitischen Raums und insgesamt ein antipluralistisches Moment, insoweit Meinungsvielfalt, Kontroversität und ein offener politischer Wettbewerb beeinträchtigt sind bzw. als unerwünscht angesehen werden. […]
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020