Editorial Heft 1-2023
Bibel: Im Anfang war das Wort, sechs Tage Schöpfung, Sonntagsruhe. Demokratie: Im Anfang Wahlversprechen, vier Jahre Regieren, Erschöpfung, Sonntagsreden. Frei nach Aristoteles sind wir Menschen ebenso satzbildende wie gemeinschaftsbildende Wesen; wir sind der Sprache mächtig und sprechen der Macht zu. Doch wie spricht sie zurück, wie ist es um ihre Responsivität bestellt?
Im Anfang war Adenauer, so begann Arnulf Baring seine Habilitationsschrift zur Außenpolitik in dessen Kanzlerdemokratie. Von dem „Alten von Rhöndorf“ ist zum Komplex Politik und Sprache das Zitat überliefert: »Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?« Na klar, die da oben, versprochen / gebrochen, da gibt es einer sogar dreist zu! Der folgende Satz des ersten Bundeskanzlers, »[N]ichts hindert mich, weiser zu werden«, oft nicht mitzitiert, gibt der Sentenz freilich einen anderen Dreh, weniger Arroganz der Macht, eher verantwortungsvolle Politik, die auf neue Informationen reagiert. In immer kürzeren Soundbites droht immer mehr verloren zu gehen, schrumpft unsere eigene Responsivität.
Zeit für ein paar Antworten. So gehen wir in diesem Heft dem Komplex Politik und Sprache auf den Grund. Dazu gehen wir zurück bis ins antike Griechenland, dessen Polis von Gerüchten beherrscht wurde. Wir unternehmen eine Tour d’horizon zur »lingua blablativa«, wie Niklas Luhmann einst die Sprache von Politiker:innen scholt, und fragen danach, worin Reiz und Risiko Robert Habecks andersartigem Sprechen besteht. Wir besuchen Parlamente als Orte politischer Debatten. Vom Plenum steigen wir anschließend hoch in die Abgeordnetenbüros auf der Suche nach denen, aus deren Feder die gerade vernommenen Worte stammen. Wir überschreiten die innerbelgische Sprachgrenze, zu deren Seiten Flämisch und Französisch als Spaltpilze sprießen. Blühende Metaphernlandschaften erstrecken sich auch in den bundesrepublikanische Kontroversen auf den Begriff bringenden Schlagworten. Wir schreiten die Geschichtserzählungen deutscher Parteien ab, spüren dem Sprachwandel und seiner politischen Gestaltbarkeit nach, tauchen in Kunstsprachen ein, besichtigen den Einfluss von Political Correctness auf die Kunst, ergehen uns in Ironie und Zynismus und lauschen der Pausenmusik auf dem letzten CDU-Parteitag nach.
Wie immer bei INDES gehen dabei politisch-gesellschaftlicher Inhalt und sprachliche Form Hand in Hand, sind wir um so verständlich wie anregend formulierte Beiträge bemüht. Passend zum Schwerpunktthema und angelehnt an die Debatte zu Sinn oder Unsinn von Parlamentspoet:innen Anfang letzten Jahres geben wir dabei auch zwei Dichter:innen ein Forum, zum politisch-sprachlichen Komplex Stellung zu beziehen. Ein kleiner Schritt über Genregrenzen für INDES, ein großer Schritt für die Erkenntnis? Wir schaffen das.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2023