Editorial Heft 3-4-2022
»ARD, ZDF, C&A …«, so begann Rapper Smudo von den Fantastischen Vier 1999 den Song »MfG (mit freundlichen Grüßen)«, in dessen Strophen assoziativ Abkürzung an Abkürzung gereiht wurde. Im Refrain hieß es: »Die Welt liegt uns zu Füßen / denn wir steh’n drauf« – eine unbeschwerte Zeit, der russische Präsident hieß noch Boris Jelzin, in New York erhoben sich die Twin Towers und die deutsche Techno-Combo Scooter veröffentlichte »Fuck the Millennium«.
21 Jahre später sendeten ARD und ZDF quasi rund um die Uhr Sondersendungen zu den neuesten Inzidenzzahlen. C&A war geschlossen, wie die meisten nicht lebensnotwendigen Geschäfte. Lockdown. Freundliche Grüße gingen meist über Videokonferenzen raus, Smudo investierte in eine App zur Nachverfolgung von Infektionsketten, und Scooter veröffentlichte »FCK 2020«. Die Abkürzungen der Stunde waren Sars-CoV-2, später dann B.1.1.7, B.1.617.2 und B.1.1.529, a.k.a. Alpha, Delta und Omikron, und AHA, später dann AHA+A+L, R-Wert, PCR, 2G, 2G+, 3G … Corona war früher kaum jemandes Bier, nun war es unser aller Bier. Und wir tranken reichlich im Lockdown, schalteten um von ARD und ZDF auf Netflix für ein wenig Eskapismus und von C&A auf Amazon für alles nicht Lebensnotwendige.
Irgendwann hinterfragte niemand mehr, warum noch AHA gesagt wurde, obwohl die improvisierten »Alltagsmasken« aus Stoff längst professionellen FFP2-Exemplaren weichen mussten. M wie »Maske« statt A wie »Alltag«, wir stellen um, lösen und können HALMA spielen – mit maximal einem weiteren Haushalt, versteht sich. Manche hinterfragten hingegen bald alles, dachten quer und kreuz und sich um den gesunden Menschenverstand in dieser Pandemie, die mit Covid 19 ff. (noch so eine Abkürzung) trefflich auf den Begriff zu bringen ist – denn wie viel da noch folgt, scheint unabsehbar.
Kurz nach Ausbruch der Pandemie hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April 2020 bekundet: »Die Welt wird eine andere sein« – und damit die Post-Corona-Ära gemeint. Keine zwei Jahre später, im Februar 2022, wählte Bundeskanzler Olaf Scholz ganz ähnliche Worte, als er prognostizierte: »Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor« – rekurrierte damit aber auf Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine. Zwei Zeitenwenden innerhalb von 24 Monaten – wenig überraschend, dass sich ein gewisser Pandemie-Überdruss, eine Coronakrisenmüdigkeit breitgemacht haben. Auch wir haderten mit dem Thema – hatten wir doch den Bonner Neustart von INDES just mit einem Zeitenwende-Heft eingeläutet. Jetzt gewissermaßen einen Schritt zurückgehen und wieder mit Inzidenzen, Infektionen und Immunitäten hantieren, nachdem sich doch die Zeitläufte längst ein weiteres Mal dramatisch geändert hatten?
Vermutlich werden auch manche Leser:innen sich fragen: Wissen wir nicht längst genug über Corona? Wir meinen indes: Aus politik- und sozialwissenschaftlicher Perspektive bleiben durchaus noch interessante Fragen. Wie steht es nach zwei Jahren Pandemie um den Zustand von Gesellschaft und Demokratie? Wo hat sich Steinmeiers Ahnung nachhaltiger Veränderungen bereits bewahrheitet, haben sich vielleicht sogar einige positive Nebeneffekte eingestellt bei all dem Übel? Und wo war das »neue Normal« allzu schnell wieder wie das alte, war das wirklich Neue so schnell verzogen wie der flugzeugfreie blaue Himmel des ersten Lockdowns? Was lässt sich vielleicht trotzdem aus der Pandemie für die Zukunft lernen?
Zudem ahnten wir während der Planung des Heftes in den Sommermonaten, als etliche Sonnenstunden die Menschen ins (Viren-)Freie trieben, dass der nächste Herbst, der nächste Winter bestimmt kommen. Und tatsächlich, pünktlich zum kühlen Regenwetter steigen nicht nur die Corona-Fallzahlen, auch Erkältungskrankheiten und Grippen lassen – mal wieder – Verkehrs-, Bildungs- und natürlich Gesundheitswesen unter hohen Ausfallquoten ächzen. Der Winter 2022/23 verspricht angesichts steigender Energiepreise, drohender Gasknappheit und Einsparmaßnahmen eine besonders paradoxe Situation: Einerseits gilt es Abstand zu halten und sich möglichst wenigen Infektionsrisiken auszusetzen, andererseits heißt es angesichts unbeheizter Räume zusammenzurücken.
Gründe genug jedenfalls, ein Heft über die Corona-Pandemie zu machen. Neben Analysen zu unterschiedlichen gesellschaftlich relevanten Effekten von Covid-19, etwa der steigenden sozialen Ungleichheit, dem Befinden von Kindern und Jugendlichen, sichtbar werdendem Antisemitismus oder neuen Formen von Wissenschaftskommunikation, widmen sich die Beiträge auch »abseitigeren« Sujets, etwa dem Maskenspiel im Theater, der »Normalisierung« des Preppens oder dem Gesellschaftsspieleboom (nein, nicht HALMA). Außerdem führten wir Gespräche über die Auswirkungen auf die Arbeitswelt sowie über die historischen Vorläufer von Corona und die Frage, wie Menschen in ähnlichen Situationen handelten und was der Blick in die Geschichte lehrt. Denn, so präzedenzlos uns die Situation auch erscheinen mag, natürlich ist dies nicht die erste Pandemie – und es wird auch nicht die letzte sein.
Um möglichst viele verschiedene Blickwinkel zu eröffnen, präsentieren wir erstmals ein neues Format: die Interviewcollage. Zehn Vertreter:innen unterschiedlicher Fachrichtungen beantworten – bewusst knapp – die drei gleichen Fragen nach den relevantesten und überraschendsten Erkenntnissen der Pandemie, nach Leerstellen und Desideraten sowie etwaigen positiven Effekten – jeweils aus Perspektive ihrer Disziplin. Dieses Panorama illustriert einmal mehr, dass der Blick über den disziplinären Tellerrand so manche übersehene Facette zutage fördern kann.
»Vorbei« ist Corona also keineswegs, und wird es vielleicht auch nie sein. Derzeit vermengt sich die virale Krise zudem mit anderen, ebenfalls existenziellen Krisen – und wir werden sehen, ob die Welt von diesen (um im Pandemieduktus zu bleiben) Wellen überrollt wird oder ob sich so etwas wie eine Krisenfestigkeit gebildet hat, die auch andere Krisen zu bewältigen hilft.
Auch musikalisch – um einigermaßen holprig den Bogen zum Anfang zu schlagen – hat die Pandemie jedenfalls schon Wirkung gezeitigt: Entstanden ist die – wohl erste? – Hymne auf einen Virologen. »Guten Tag, sie kennen sicher alle meinen Namen. Sie erkennen mich an meinen schönen Haaren«, so dichtete die Punkrockband ZSK (noch eine Abkürzung) über Christian Drosten, der dank abgeklärtem Erklärengagement geradewegs zum Krisenhelden avancierte.
Wie sich die Pandemie in Kunst und Kultur niederschlägt, wo – so eine Binsenweisheit – Krisen oftmals die Inspiration zu großen Werken liefern, auch das wäre sicherlich ein erkenntnisreiches Thema. Erst in einigen Jahren allerdings, noch sind wir zu sehr »mittendrin«. Einstweilen hoffen wir, dass das vorliegende Heft einige Facetten bereithält, welche die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der Covid-Pandemie zu verstehen und einzuordnen helfen und vielleicht auch Lehrreiches für den Umgang mit gegenwärtigen und zukünftigen Krisen bereithalten.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-4-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022