»Die deutsche Streitkultur, das ist ja auch so eine Art Weltkulturerbe« Vom »Habeckisieren«, »Söderieren« und politischem Sprechen generell
Warum ist es überhaupt wichtig, wie Politiker und Politikerinnen sprechen?
Séville (S): Ich gehe davon aus, dass politische Kommunikation per se schon politisches Handeln ist. Denn erstens verändert sie etwas, zum Beispiel die Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit. Und zweitens müssen politische Entscheidungen vermittelt und erklärt werden, gerade in einer repräsentativen Demokratie
Müller (M): Der Kommunikation kommt in der Politik heute insofern eine noch größere Rolle zu als ohnehin schon immer, als sich die Orte, Bühnen und Medien von Politik verändert und erweitert haben. Da gibt es unterschiedliche Arten zu sprechen, unterschiedliche Tonfälle, die von Situation zu Situation variieren können. Die rhetorisch gelungene Rede im Parlament ist nur noch eine Form politischer Kommunikation neben vielen anderen.
Wenn man Politikersprache hört, denkt man natürlich an diese phrasenhafte Plastiksprache, für die Niklas Luhmann den Ausdruck »Lingua blablativa« prägte. War das immer schon so? Und falls es früher anders war, wann hat diese verwaltungstechnisch geprägte Politikersprache Einzug gehalten?
S: Ich wäre vorsichtig mit dem Motto »Früher war alles anders«. Politische Sprache muss viele Anforderungen und Erwartungen zugleich erfüllen. Zum einen muss sie, wie gesagt, Entscheidungen erklären, vermitteln. Mit ihr muss sich zum anderen aber auch ein politischer Akteur auf eine gewisse Art und Weise unangreifbar zeigen. Er oder sie muss in vielerlei Richtungen ein Angebot machen, aber auch wiederum sagen: »Hier stehe ich und ich habe etwas entschieden.« Insofern ist eine gewisse Neigung zu Phrasen dem politischen Betrieb inhärent. Was wohl zugenommen hat mit diesen neuen Formaten und dieser Schnelllebigkeit, auch dem Synchronisationsproblem von Politik heutzutage, ist die Antizipation von Angriffsmöglichkeiten in der eigenen Sprache, also sich zu überlegen, für welchen Satz bekomme ich in den sozialen Medien gleich eine brutale Rückmeldung oder Shitstorms.
M: Ich glaube auch, dass wir die parlamentarische Debatte wahrscheinlich ein bisschen verklären. Man sagt immer: Strauß gegen Wehner, das war ja so großartig. Das war sicher auch großartig. Und als Sternstunden des Parlamentarismus hat man dann jene Bilder und Reden im Kopf, wo Leute am Pult mit sich gerungen haben. Wolfgang Schäuble etwa, als es darum ging, ob Berlin Bundeshauptstadt werden soll, Otto Schily, als es um seinen Vater als Wehrmachtssoldat ging. Das waren aber doch eher seltene Fälle. Einen Großteil der Emotionalität, die früher im Plenum stattfand, kann man jetzt woanders stattfinden lassen, weil es dafür wiederum eigene Kanäle gibt. Wer das gerade strategisch einsetzt, ist die AfD-Fraktion, die in ihre Reden zumindest diese halbe Minute Skandalisierungspotenzial extra für andere Plattformen einbaut.
Sie haben auch viel darüber geschrieben, dass sich in der Politik bestimmte Phrasen ewig wiederholen.
S: Politiker reagieren mit immer neuen Phrasen. Wir müssten über Konjunkturen von Phrasen sprechen. Ich habe beispielsweise viel gearbeitet über die Rhetorik der »Alternativlosigkeit«, die aber so skandalisiert worden ist, dass heute kaum mehr jemand so spricht. Heute stellt sich kaum noch ein Politiker hin und redet von Alternativlosigkeit, weil er oder sie die negative Wirkung schon einkalkulieren muss. Wir haben neue Phrasen. Ich denke da an die SPD, die sich offensichtlich hat beraten lassen zum Framing. Dann gab es plötzlich das »Gute-Kita-Gesetz« und die »Respektrente«, bei der man die Kommunikationsberatung in der Formulierung triefen hören konnte.
Welche Phrasen nerven Sie denn am meisten?
S: Ich glaube, ich habe mich schon geoutet, als ich von »Gute Kita« und »Respektrente« gesprochen habe. Ich bin irritiert, wenn mir als Wählerin oder als Bürgerin vorgelegt wird, was ich zu denken habe, wenn die Sprache schon vereindeutigen soll, wie ich etwas einordnen soll. Das liegt aber natürlich an meiner akademisch vorgebildeten Perspektive, dass ich dann frage: Was soll denn das? Da reagiere ich sehr empfindlich.
M: Bei mir gibt es durchaus Personen – die werde ich aber nicht nennen –, denen ich nur schwer zuhören kann. Aber was ich überhaupt nicht mag – und das gilt überparteilich – sind Fußballanalogien. Edmund Stoiber hat früher gerne die »Champions League« bemüht, jetzt sprechen sogar die Grünen davon. Oder Scholzʼ »Youʼll never walk alone«. Das sind aus einer vermeintlichen Alltagsnähe geborgte Bilder, mit denen ich nichts anfangen kann. Wahrscheinlich sind die getestet und womöglich auch erfolgreich. Aber ich selbst kann das kaum ertragen.
Das »Starke-Familien-Gesetz« gab es auch noch.
S: Ja, richtig. Franziska Giffey war eine Meisterin dieses brutal offensichtlichen Framings. Das ist eine Form von Phrasierung, die reagiert hat auf ein Bedürfnis nach vermeintlich klarer Sprache. Eine der neuen Phrasen von Olaf Scholz ist das »Unterhaken«. Auch das hat er sicherlich von Kommunikationsberatern. Da wurde ihm geraten, eine lebensnahe Metapher zu wählen. Auch da sehen wir den Effekt: Das hat er jetzt schon so oft gesagt, dass man nur noch müde lächelt. Deswegen muss man die zeitliche Dimension von Phrasen beschreiben; die Phrasen, über die wir uns vor zehn Jahren aufgeregt haben, sind heute nicht mehr so einfach sagbar.
Eine weitere beliebte Phrase lautet, »man muss die Bedenken, die Sorgen ernst nehmen.« Was halten Sie davon?
S: Ich fühle mich, sobald ich das höre, nicht ernst genommen. Nicht »abgeholt«. Das haben wir, glaube ich, auch alle durchschaut. Das ist eine völlig abgedroschene Phrase. Das ist einer von diesen Sätzen, die verpuffen. Das ist wie Rauschen.
Auch die Politiker und Politikerinnen wissen ja um diese Klage über ihre phrasenhafte Sprache. Warum sind sie so träge und verwenden sie trotzdem – und wieso wird ihnen noch dazu geraten?
S: Ich weiß nicht, ob sie träge sind. Auch die Politiker testen ja wiederum bestimmte Phrasen bzw. Formulierungen über Fokusgruppen.
M: Du hast ja gesagt, dass man in sehr hohem Maße schon die Reaktionen auf das eigene Gesagte antizipiert. Das gilt heute noch stärker als jemals zuvor, weil diese Reaktion so unmittelbar, so schnell und ungefiltert zu spüren ist. Das ist nicht mehr ein Kommentar am nächsten Tag in der Zeitung, sondern das geschieht in Echtzeit. Und das hat schon eine neue Qualität. Dagegen kann man sich auf unterschiedliche Arten und Weisen schützen. Man kann sich sehr verletzbar, nahbar und persönlich zeigen. Das ist aber auch eine riskante Strategie, weil siedurchgehalten werden muss. Dann will man eben auch den nahbaren, verletzlichen Politiker haben. Oder man schützt sich durch eine Sprache, die slippery, schwer angreifbar ist. Markus Feldenkirchen, der Martin Schulz als Kanzlerkandidat ein Jahr lang begleitet hat, hat an jenem Wahlkampf unter anderem kritisiert, dass er so stark durch Demoskopie gesteuert war und letztendlich nicht zur Person Martin Schulz gepasst hat. Seine Lösung des Problems wäre gewesen, ihn stärker „als Mensch“ zu zeigen. Das halten wir beide für eine nachvollziehbare, aber nicht ungefährliche Strategie, weil man den Menschen in dieser harten Politik und unter permanenter Beobachtung eigentlich schützen sollte – sei es durch die Partei, das Amt oder eben auch die Sprache.
Sind also vielleicht auch die Kommunikationsberatungen sehr träge? Was ist da im Argen?
S: An dieser Beobachtung scheint durchaus etwas dran zu sein. Tendenziell kritisieren wir die politische Sprache, die Kommunikation von einzelnen Akteuren – dahinter steckt aber eine ganze Armada von anderen Akteuren, auch Agenturen. Das muss man sich erst einmal klar machen. Friedrich Merz hat damals seine Parteivorsitzkandidatur von Gauly Advisors – das ist eigentlich eine Unternehmensberatung – durchplanen lassen, auf eigene Kosten. Es steckt immer eine Strategie dahinter, die sich andere Leute ausgedacht haben und demoskopisch erprobt haben. Aber es gibt trotzdem eine gewisse Tendenz zu einer Selbstselektion der Leute, die sich diese Strategien überlegen. Das sind meistens akademisch Vorgebildete, politisch sowieso schon Interessierte. Und es sind Werbefachleute, die über den politischen Betrieb nachdenken und dann Strategien entwerfen. Hier wird mit Marketinginstrumenten Politik betrieben.
M: Die Agenturen sind das eine. Das andere ist das politische Berlin als Ort. Es geht ja nicht nur darum, diese Inhalte, die Sätze und Frames zu bestimmen, sondern auch darum, wer es eigentlich schafft, in Berlin zu überleben? Kurt Beck nicht, Matthias Platzeck nicht. Gerade in der SPD gab es immer wieder Landespolitiker, die extrem erfolgreich waren, aber kaum eine Woche durchgehalten haben in Berlin.
S: Das gilt ja auch für Martin Schulz.
Kommen wir zu spezifischen Kommunikationsstilen, zu Versuchen von Politiker:innen, die kritisierte dröge Phrasensprache, die wahrgenommene Distanz zu überwinden und Nähe zu den Wähler:innen herzustellen. Wie steht es zum Beispiel um das Thema Umgangssprache? Oder wie kann etwa Jugendsprache gezielt eingesetzt werden, um zu wirken? Da kommt dann natürlich die Frage nach Authentizität ins Spiel.
S: Sprachwandel macht eben auch nicht vor Politik Halt. Nehmen wir das Beispiel Robert Habeck, der in diesem Video aus Doha »In your face« sagt. Oder »Kriegste nicht, Alter«. Da werden bestimmte kolloquiale Muster aufgegriffen, in die Politik gebracht, und auch dadurch kann Nähe gestiftet werden. Vielleicht sollten wir das nicht so bildungsbürgerlich abwerten, sondern sagen: Das kann eine Möglichkeit sein, Nähe zu signalisieren. Auch fehlerhaftes Sprechen: »ʼne Pulle Bier«, Gerhard Schröder. Umgangssprachlich zu sprechen kann Nähe erzeugen.
M: Das „Coole“ ist einfach sehr stark an die Person gebunden, die spricht. Eine antrainierte Coolness kann kaum funktionieren. Wir gehen zwar durchaus davon aus, dass Politik immer auf eine Art inszeniert ist, und doch war dieses »Kriegste nicht, Alter« von Habeck insofern authentisch, als das seine Sprache ist, die auch zu seinem Gesicht und zu seinem Körper in dieser Situation gepasst hat. Es gibt sicherlich die Gefahr einer Inflation solcher Sätze, aber Habeck beherrscht diese Wechsel durchaus. Der kann eine Stunde lang in einem Podcast im Seminarton über Martin Heideggers Sein und Zeit sprechen, abends in den Tagesthemen diese flapsige Bemerkung fallenlassen und am Ende doch beides zusammenhalten. Wie oft man das machen kann und ob sich das abnutzt, das muss man natürlich noch sehen.
S: Authentizität ist auch eine Zuschreibung; das lässt sich also nicht einfach kategorisch für alle gleich beantworten. Jugendliche oder junge Wähler können etwas authentisch finden, was wiederum andere nicht authentisch finden. Es gibt unterschiedliche politische Milieus und damit auch unterschiedliche Formen, auf politische Ansprache zu reagieren. Die meisten Erstwähler haben bei der letzten Bundestagswahl die FDP gewählt, vor allem mit Verweis auf diese wirklich guten Soziale-Medien-Kampagnen. Insofern hat man da eine Form von politischer Ansprache, die bei Erstwählern sehr fruchtet, die aber andere Wählergruppen wieder belächeln. Es gibt also keine ehernen Gesetze von authentischer politischer Ansprache.
Ist ein Dialekt auch etwas Hilfreiches bei dem Versuch, Nähe herzustellen?
M: Ja, auf jeden Fall. Das merkt man durchaus bei Wahlkämpfen auf landespolitischer Ebene, dass Dialekt als Mittel eingesetzt wird, von den Leuten, die das heute noch beherrschen. Aber Dialekt ist – genau wie die oben erwähnte „Coolness“ –ein habituelles Instrument, das man mitbringen muss. Nichts ist schlimmer als ein falscher oder nicht eingeübter Dialekt. Man hat das Bierzelt schnell gegen sich, wenn man das nicht beherrscht. Hinzukommt, ein oberbayerischer Dialekt ist sicher in der Landespolitik in Bayern sehr hilfreich, wir wissen aber auch, wie wenig hilfreich er in bundespolitischen Wahlkämpfen ist.
S: Ich ergänze den rheinischen Dialekt. Armin Laschet hatte auch ein bisschen mit dem Vorurteil zu kämpfen: Kann man jemanden mit so einem rheinischen Singsang wirklich ernst nehmen? Was auf landespolitischer Ebene ein Plus sein kann, kann auf bundespolitischer Ebene wieder ein Malus sein. Interessanterweise gilt das aber nicht fürs Hanseatische. Das Hanseatische hat diese Aura des sachlichen, nüchternen, verantwortungsbewussten, ehrenhaften Kaufmanns. Auch Dialekte haben Konnotationen und eine potenzielle Wirkung in politischer Kommunikation, die wir noch gar nicht systematisch durchdacht haben, erst recht nicht akademisch.
Aber wenn wir über Volksnähe sprechen, ist ein Dialekt sicherlich von Vorteil. Wahrscheinlich sind diejenigen politischen Akteure im Vorteil, die das strategisch einsetzen können, die nicht nur den Soziolekt wechseln können, sondern auch das Register von Hochdeutsch zu Dialekt.
M: Wer das kultiviert, ist Cem Özdemir, der seine Rolle in den letzten Jahren immer wieder gesucht und sich neu positioniert hat. Er wechselt ja gern von großer Weltpolitik hin zu den Maultaschen und zum VfB Stuttgart und ändert innerhalb von zwei Sätzen auch seine Melodie und Stil.
Bis vor Kurzem hatte Robert Habeck einen Höhenflug in den Umfragen mit seinem Kommunikationsstil, der auch Dilemmata und Alternativen auch offenlegt. Werden wir in Zukunft mehr von diesem Stil sehen, auch von anderen Politikern?
M: In jedem Fall ist dieses Ausstellen der eigenen Dilemmata, auch das Ringen um die eigene Position, das Nichtverschweigen von Komplexität und Unsicherheit etwas, was Habecks Kommunikation kennzeichnet. Er ist auch jemand, der im Unterschied zu vielen anderen seine Politik und seine Position gerne erklärt. Er selbst hat sein eigenes Politikverständnis mal auf eine Formel gebracht: selbstkritisches Kämpfen. Das ist sehr interessant, weil in dieser Formulierung zwei Dinge zusammengebracht werden, die wir üblicherweise auseinanderhalten: Selbstkritik und offensiver Kampf. Wir haben schon früh betont – auch als die Beliebtheitskurve bei ihm ganz nach oben ging –, dass das eine sehr aufwändige Strategie ist. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass man diese in Regierungsverantwortung durchhalten kann. Daher hat uns erstaunt, dass er selbst zu Beginn des Kriegs und unter extremen Herausforderungen seines Ministeriums an diesem Stil festgehalten hat.
S: Robert Habeck praktiziert eine Form sehr riskanten politischen Sprechens. Es ist immer ein Risiko, die eigenen Dilemmata oder das eigene Ringen um die politische Position so offenzulegen. Sie fragten nach einer Prognose. Ich glaube nicht, dass sich das inflationär verbreiten wird, sondern dass das eine Sprechweise unter vielen sein wird. Gerade in der Ampelkoalition gibt es verschiedene Arten, politisch zu sprechen. Mit Olaf Scholz haben wir immer noch dieses Merkeleske, Enigmatische, dieses Kurze, Knappe, wenig Transparente. Es werden nicht Prozesse oder Entscheidungsprozesse kommuniziert, sondern am Ende Ergebnisse präsentiert. Wir haben aber daneben eben auch einen Robert Habeck. Genau das kennzeichnet unsere politische Gegenwart, diese Gleichzeitigkeit verschiedener politischer Redeweisen. Sicherlich legt Robert Habeck einen Stil vor, der auch Nachahmer finden wird. Man kann das unter anderem an Markus Söder erkennen, der auch verschiedene Sprechstile oder Redeweisen ausprobiert hat. Ich erinnere mich an ein Pressevideo, das er selbst herausgegeben hat, in dem er über die eigenen Fehler der Corona-Politik öffentlich reflektiert. Da dachte ich: Söder »habeckisiert« ein wenig. Jetzt »söderisiert« er wieder. Das meine ich: Es gibt Konjunkturen politischen Sprechens, politischer Phrasen, vielleicht auch politischer Stile. Es gibt Nachahmer dieses Habeck-Stils. Aber diese scharfe Kritik – unter anderem von Friedrich Merz im Bundestag –, man könne Habeck beim Denken zusehen, führte dazu, dass auch das Risiko und die Angriffsfläche deutlich geworden sind und dadurch vielleicht klar wurde: So nachahmenswert für alle ist das nicht.
Sie schreiben von Habeck, dass er den „deutschen Romantiker“ verkörpere. Das ist ja noch einmal eine ganz andere Sicht auf Habeck.
M: Wir haben in unsere Habeck-Analysen ein Carl-Schmitt-Zitat eingebaut. Für Schmitt ist der deutsche Romantiker dieser ewig diskutierende Mensch, der nie zu einer Entscheidung kommt. Das ist aber nur die eine Hälfte, denn gleichzeitig ist Habeck eben auch dieser sich als entschlossener Entscheider darstellende Politiker. Er bringt eigentlich genau diese beiden Pole – diesen deliberativen Geist auf der einen Seite und auf der anderen den Dezisionisten –, zusammen und versucht sie auf eine sehr spezielle Art und Weise zu verknüpfen. Das gilt nicht nur für seine eigenen Bücher, das gilt auch für das Grundsatzprogramm der Grünen.
S: Es ist diese Gleichzeitigkeit von Introspektion, Selbstkritik, Zaudern, Nachdenken und dann aber Selbstsicherheit und unheimlich vielen politischen Entscheidungen. Wenn man sich die Bilanz von Gesetzen und Vorlagen der Ampelkoalition anschaut, herrscht dort eine wahnsinnig hohe Entscheidungsdichte. Introspektion und Tatkraft – das muss man erst einmal zusammenbringen. Das würden wir traditionellerweise – gerade als Politiktheoretiker – auseinanderhalten. Ist man auf der Seite von Schmitt, Gehlen, Schelsky oder ist man auf der Seite von Habermas? Interessanterweise sehen wir jetzt plötzlich: Da gibt es so seltsame Konvergenzpunkte oder Allianzen.
Im Zuge der Debatte um den Streckbetrieb ist Habeck ja auch vorgeworfen worden, er hätte das Nachdenken inszeniert, aber eigentlich wäre klar gewesen, was dabei herauskommen sollte, nämlich das, was ihm parteipolitisch in den Kram passt. Ist dieser Habeckʼsche introspektive Kommunikationsstil auch eine Bewaffnung gegen den Vorwurf vorgefertigter Ideologie, der gegen die Grünen oft erhoben wird?
S: Das Ausstellen von Reflexivität und Selbstkritik ist natürlich auch ein strategisches Argument, um sich gegen Kritik zu immunisieren. Das sah man auf dem letzten Grünen-Parteitag auch bei Annalena Baerbock, die mehrfach auf Dilemmata verwies, aber dann sagte: Wir müssen das jetzt eben machen. Das ist nur eine inszenierte bzw. strategisch platzierte Ideologielosigkeit. Im Falle des Streckbetriebs der Atomkraftwerke kann man natürlich sagen, dass es nicht nur ein strategisches Argument, sondern auch ein Befriedungsargument ist. Gerade indem ich auf Dilemmata und auf den zwingend notwendigen, politisch gebotenen Pragmatismus verweise, indem ich fast schon machiavellistisch auf die necessità verweise, kann ich meine Gegner stillstellen, aber auch gleichzeitig sagen: Ich mache euch ein Angebot, wir müssen diese Strecke gemeinsam gehen.
M: Ich denke, dass die Frage nach dem Streckbetrieb wirklich ein Lackmustest für Habeck war. Derjenige, der immer so gerne nachgedacht hat und das auch so ausgestellt hat, tut es in dieser Situation nicht. Zumindest nicht öffentlich. Niemand hat ihm ernsthaft geglaubt, dass er wirklich über alle Alternativen nachgedacht hätte. Und genau das ist das Riskante an der Strategie der Selbstreflexität: Wenn Habeck sie einmal nicht aufrechterhält, bietet er eine besonders große Angriffsfläche, weil man ihn immer an seinem hohen Anspruch an das eigene politische Dasein und die eigene Sprache misst.
Ist diese Strategie der Selbstreflexivität nicht auch etwas, das besonders bei der grünen Klientel sehr gut ankommt, die selbst sehr diskursfreudig ist und das Reden um des Redens willen zelebriert?
M: Wir haben das Grundsatzprogramm dahingehend untersucht, welche Art der politischen Ansprache dort eingesetzt wird. Wir sind dort immer wieder auf Sätze gestoßen, die man aus dem Universitätsseminar kennt. Da wurde schon klar, dass die Grünen mit einem Gegenüber rechnen, das an diese »Diskursivierung« von Problemen gewohnt, darin auch trainiert ist.
Besteht dadurch auch die Gefahr, dass Politik noch exklusiver wird? Denn diese Fähigkeit, diese Lust am Streit und daran, immer irgendetwas diskursiv auszuhandeln, ist in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen verbreiteter als in anderen und fällt durch eine gewisse Vorbildung auch leichter.
S: Tendenziell ja. Es gibt einen gewissen Bias gegenüber Diskursbereitschaften und eine gewisse soziale Selektion: Wer ist bereit, sich wirklich auf deliberative Verfahren einzulassen? Zudem zeigen Umfragen immer wieder, dass der deutsche Wähler durch verschiedene Milieus hindurch ein sehr paradoxer Wähler ist. Er beschwert sich ganz gerne darüber, dass so viel gestritten wird, aber gleichzeitig vermisst er, wenn einmal nicht so viel oder so offen gestritten wird, sofort die „deutsche Streitkultur“. Das ist ja auch irgendwie so eine Art UNESCO-Weltkulturerbe, die deutsche Streitkultur.
M: Das aktuelle Grundsatzprogramm der Grünen ist sehr voraussetzungsreich. Man muss bestimmte Anspielungen erkennen, und es wird einem beim Lesen durchaus viel zugemutet. Insofern ist es exklusiv; aber das ist ja nicht per se schlecht, denn Parteien müssen ja Angebote für spezifische Gruppen machen.
Was wir so interessant finden, ist, dass die Grünen im Wahlkampf 2021 den Versuch unternommen haben, ein Milieu für sich zu gewinnen, das, wenn man so will, ein Milieu an sich ist, aber kein Milieu für sich. Es gibt großstädtische, akademisch gebildete, progressive Menschen. Diese wollen sich aber gerade nicht als Gruppe verstanden wissen, sondern zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Gruppe sind. Nicht umsonst haben sich die Grünen – und insbesondere Habeck – stark auf Andreas Reckwitzʼ Buch Gesellschaft der Singularitäten gestützt. Habeck hat eine sehr interessante, nämlich politische Lesart dieses Buches angeboten: Wenn es so ist, dass die Gesellschaft in Singularitäten zerfällt und die Einzelnen sich in ihrer Einzigartigkeit auch permanent bestätigen, dann will ich genau diese zu einer Gruppe versammeln. Eigentlich hat Habeck den Versuch einer Vergemeinschaftung der Singularitäten unternommen. Das heißt, er hat das Angebot gemacht, diejenigen zu versammeln, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht versammelt werden wollen, und das, so paradox es klingt, mit einer Ansprache, die eher auf Intellektualität abzielt und nicht auf gemeinsam geteilte Werte. Letzteres tut das Programm der CDU, die sagt: Wir haben die richtigen Werte, wir können sie ableiten aus einer christlich-abendländischen Tradition, und was Sicherheit und Freiheit meint, das wissen wir schon. Die Grünen dagegen sagen: Nee, wir müssen darüber reden. Werte müssen in einer pluralen, liberalen Gesellschaft immer wieder neu ausgehandelt werden. Was heißt eigentlich Fortschritt? Was heißt eigentlich Nachhaltigkeit?
S: Wir haben versucht zu zeigen, ist, dass so etwas wie Diskursbereitschaft und Deliberationskompetenz zu Metawerten werden, die vergemeinschaften sollen, jenseits einer deklaratorischen Logik von Werten. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die CDU jetzt ein neues Grundsatzprogramm schreibt und genau auf dieses Problem reagiert und sich ebenfalls an einer reflexiven Schleife versucht. Auch die CDU merkt, dass sie nicht mehr so einfach top-down sprechen kann, dass es eine andere Form von Vermittlung von Politik geben muss, die anders auf die Erwartungen von Wählerinnen und Wählern reagiert. Das ist noch keine Habeckisierung, aber es findet ein Umbruch politischer Kommunikation statt. Vielleicht befinden sich Bürgerinnen und Bürger und Politikerinnen und Politiker jetzt stärker auf Augenhöhe; zumindest ist es ein anderes Ernstnehmen.
Die Forderung nach mehr Debatte oder nach mehr Streit ist ein Allgemeinplatz geworden und oft verbunden mit der Hoffnung, dass es dadurch besser wird, dass dadurch die besseren Entscheidungen getroffen werden. Ist dem tatsächlich so? Würden längere Debatten im Bundestag zu besseren politischen Entscheidungen führen?
S: Das ist eine Frage, auf die ich mehrere Antworten hätte. Im Habermasʼschen Sinne könnte ich natürlich sagen: Je länger wir deliberieren, desto wahrscheinlicher kommen wir zu einem vernünftigen Konsens. Jetzt sprachen Sie aber vom Bundestag. Nun wissen wir, dass der Deutsche Bundestag ein Arbeitsparlament ist, dass ein Großteil der politischen Arbeit in Ausschüssen stattfindet und dass viele der Debatten eigentlich nur eine Art Inszenierung von Austausch beziehungsweise ein Ex-post-Austausch sind.
Aber was ist denn die Alternative, die Sie da insinuieren? Dass die Politiker weniger reden sollen, weniger öffentlich reden sollen? Die Klagen über zu langes Diskutieren betreffen meines Erachtens folgende Punkte: Erstens, dass es keine Zielorientierung gibt, keine konstruktiven Debatten. Zweitens hat man bisweilen das Gefühl, dass sich die Debatten wiederholen und dann trotzdem verpuffen, also diese Ergebnislosigkeit von bestimmten Debatten. Drittens geht es um die Länge von Debatten. Das ist der klassische demokratietheoretische Einwand: Es dauert zu lange, es wird nur diskutiert. Ich würde tatsächlich sagen, dass vor allem die Ergebnislosigkeit bestimmter Debatten das Frustrierende sein kann, dass man lange über etwas diskutiert, was sich dann als Scheinproblem entpuppt.
M: Aber zur Ausgangsbeobachtung lässt sich doch noch ein Argument anführen: die Betonung und Emphase von Streit als gewissermaßen zivilreligiöses Fundament. Mit dem Papst Jürgen Habermas.
S: Das habe ich eben kokett gemeint, als ich sagte, dass die deutsche Streitkultur als UNESCO-Weltkulturerbe angemeldet werden könne. Das ist so eine Art »Kryptosakralisierung« des Streitens: Wenn wir genug streiten, kommen wir zusammen. Ich habe das vor Kurzem an dem Beispiel Frank-Walter Steinmeiers durchbuchstabiert, um eine Art »Vulgärhabermasianismus« zu zeigen, also inwiefern hier so eine Art zivilreligiöse Komponente hineingebracht wird. Das ist dieses pastorale Motiv von Frank-Walter Steinmeier, die Versöhnung im Streit. Das ist etwas Protestantisches. Wenn wir lange diskutieren, dann kommen wir zusammen und wir sind uns dann gegenwärtig. Das sind sehr pathetische Floskeln und in dieser sakralpastoralen Aufladung finde ich auch eine dunkle Seite der Beschwörung von Streitkultur. Auch die Beschwörung von Streitkultur stößt an eine Grenze. Manche Interessenskonflikte lassen sich gar nicht auflösen und wir werden uns nicht immer pastoral versöhnen lassen können. Aber was ist denn der Gegenentwurf? Das darf natürlich kein Schmittʼscher Dezisionismus sein.
Wie sehen Sie diese Verklärung oder diese Belobigung von Streit und Diskurs aus der soziologischen Perspektive? Und wie sieht das innerhalb Ihrer Disziplin aus?
M: Das Gegenstück zu der problematischen Skandalisierung von Polarisierung wäre dann diese Beschwörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, diese »Kohäsionsfetischisierung«. Wie viel Kohäsion, soziale Kohäsion braucht denn eine pluralistische, demokratische Gesellschaft?
Ich muss gestehen, dass die Streitkultur in meinem Fach, aber nicht nur dort, schon deswegen zurückgeht, weil man hat sich so sehr spezialisiert hat, dass man sich weitestgehend aus dem Weg gehen kann. Auf den großen Fachkongressen befinden sich diejenigen, die in Streit geraten könnten, bereits in separaten Räumen und unterhalten sich vor einem Publikum über eigene Probleme.
Ist das Reden zu einem Wert an sich geworden? Es gibt ja auch ein Recht auf politisches Desinteresse, auf Enthaltung oder Schweigen.
S: Ich habe mir im Zuge meines Habilitationsprojekts angeguckt, wie die Vermittlung, die Reflexion, ja diese Beschwörung von Streitkultur in die Lebenswelt übergehen. Wie wird diese Verhaltenslehre des guten Streitens zum Beispiel formuliert für Sportvereine oder ähnliches? Was passiert, wenn im Bus jemand den Sitznachbarn diskriminiert? Was passiert, wenn der Sportkollege plötzlich Verschwörungstheorien von sich gibt? Da findet man genau diese Beschwörung einer rationalen, aber auch empathischen Sprechkultur. Mir fällt auf, dass vor allem diese Beschwörung von Empathie stark zugenommen hat; wir sollen jetzt alle empathischer sprechen. Wir sehen also: Die Rede übers Reden hat zugenommen. Gleichzeitig sprechen wir auch exponentiell mehr über politische Kommunikation. Wir reden ganz viel darüber, wie ein Politiker, eine Politikerin spricht. Gucken wir uns die journalistische Berichterstattung in Wahlkampfzeiten an, geht es oft um das Wie der Politik und nicht um das Was. Da scheint ebenfalls eine Verschiebung stattgefunden zu haben.
Das Gleiche findet sich auch in meinem Fach. Die Sektion der Politischen Theorie in der DVPW gibt sich jetzt selbst Regeln, wie man konstruktiv und diskriminierungsfrei tagen kann und wie man konstruktiv und sensibel für verschiedene Benachteiligungen Kritik artikulieren kann. Hier haben wir abermals eine Reflexion über die Debattenkultur, die mit Blick auf Empathie und Sensibilitäten operiert. Diese Kultur der Rücksichtnahme stellt meiner Ansicht nach durchaus eine Verschiebung dar. Man könnte sagen: Das ist übertrieben. Man kann aber eben auch sagen: Hier werden bestimmte Redeprivilegien angegriffen. Inwiefern ist es schon diskriminierend, wenn ein etablierter Politikprofessor zu einer jungen Doktorandin sagt, ihr Argument sei unplausibel? Darüber könnte man lange nachdenken.
Was halten Sie davon, wie während der Pandemie kommuniziert wurde, beispielweise mit Begriffen wie »Impfangebot«?
S: Meines Erachtens war die deutsche Debatte zur Impfkampagne, überhaupt zum Impfen, völlig schief. Anstatt das so aufzuladen, sowohl moralisch, politisch, ethisch, in jeglicher Hinsicht – und da argumentiere ich gegen mich selbst –, hätte ich mir fast eine Entpolitisierung bzw. Entdramatisierung dieser Impffrage gewünscht. In bestimmten Situationen – das würde ich auch als Politikwissenschaftlerin sagen – kann es strategisch nützlich sein, zu entpolitisieren, zu entdramatisieren und gar nicht so viel darüber zu reden.
Aber noch einmal zur Rhetorik: In Deutschland sprach man ja bewusst von einem „Impfangebot“. Diese Semantik des Angebots hat uns auch bei den Grünen beschäftigt: eine Politik, die eine Einladung macht, die ein Angebot unterbreitet. Das ist nochmal ein ganz eigenes semantisches Feld, diese Frage von Angebot und Nachfrage. Das ist die Politik als Offerte. Ist das geglückt? Wenn man sich die Impfzahlen in Deutschland im internationalen Vergleich anguckt, eher nicht.
M: Es hat sich in den letzten Jahren doch einfach durchgesetzt, dass das autoritäre, direktive Sprechen eher vermieden wird. Man soll stattdessen Angebote machen und Einladungen aussprechen. Jedoch konnte man sehen, dass in der Pandemie diejenigen besondere Beliebtheit genossen haben, zumindest kurzfristig, die die Härte der Verhältnisse gerade nicht verschwiegen haben, etwa Markus Söder, der immer zwischen fürsorglichem Vater und düsterem Mahner hin- und hergewechselt ist. Auch Karl Lauterbach wäre sicher nicht in seinem Ministerium, wenn es für diese Art zu sprechen keinen Resonanzboden gäbe. Selbst Uli Hoeneß hat sich dann in einem Interview als Fan von Lauterbach bekannt, weil dieser ein Macher sei. Da sind dann doch ein paar Klischees über das politische Sprechen einfach über den Haufen geworfen worden.
S: Das hat auch etwas damit zu tun, ob wir über Krisenkommunikation sprechen oder nicht. In der Impfdebatte schien die Semantik der Freiwilligkeit, des Angebots eher als Diskrepanzerfahrung erlebt zu werden. Wie kann man denn ein Angebot machen, wenn doch eigentlich klar ist: Hier muss jetzt etwas geschehen. Ich vermute, dass hier Deckungsgleichheit eher hätte verfangen können, dass also ein autoritäres, fast schon apokalyptisches Sprechen in der Krise durchaus vielen als angemessen erschien.
Diplomaten sprechen in der Regel sehr behutsam. Nun hatten wir mit Andrij Melnyk ein Gegenbeispiel, der mit seiner Art, zu kommunizieren, einiges erreicht hat. Glauben Sie, dass das Nachahmer finden wird?
S: Andrij Melnyk ist als Phänomen deswegen erfolgreich, gerade weil er als Diplomat undiplomatisch spricht. Das ist eine Art und eine Form von Deutlichkeit, einer aggressiven Brutalität. Ich glaube nicht, dass das Schule macht.
M: Auch Annalena Baerbock ist solch eine andere Figur. Sie hat einen deutlicheren und härteren Ton anschlagen, als wir ihn aus dem Außenministerium gewohnt waren.
S: Natürlich gibt es da deutliche Unterschiede: Melnyk konnte ein bisschen wie der Hofnarr, der Wahrheit spricht, den Finger in die Wunde legen und so auch eine Doppelmoral offenlegen. Aus einer gewissen Distanz zum politischen Betrieb hat mir sehr gut gefallen, dass da jemand ist, der die Verlogenheit der Deutschen thematisiert. Der Botschafter von Katar hat das auch gemacht: »Ihr wollt unser Flüssiggas, aber die WM dann boykottieren.« Das ist gewissermaßen der unique selling point undiplomatischer auswärtiger Diplomaten, überhaupt einer auswärtigen Perspektive. Das kann Annalena Baerbock natürlich viel weniger. Sie spricht aus dem Amt heraus, während Melnyk eben von außen darauf zeigen kann. Das sind unterschiedliche Formen undiplomatischer Diplomatie.
Wie bewerten Sie die politische Kommunikation der Regierungskoalition bislang?
M: Sehr interessant fanden wir, wie in den Koalitionsverhandlungen nichts an die Öffentlichkeit gedrungen ist und wie dort eine neue Art der Zusammenarbeit ausprobiert wurde. Drei Parteien, die sich historisch nicht immer ganz grün waren, müssen jetzt zusammenarbeiten und kriegen es doch hin, zu verhandeln, ohne dass die Öffentlichkeit wirklich viele Interna mitbekommen hat.
Heißt das, dass es bei aller Forderung nach mehr Transparenz trotzdem wichtig ist, dass die Politik ihre geschützten Kommunikationsräume hat?
S: Studien zeigen, dass Verhandlungen anders ablaufen, wenn sie im Diskreten stattfinden. Das ist auch wieder ein Spannungsfeld von demokratischer Politik und demokratischen Praktiken, das Aushandeln von Transparenz und Diskretion.
Die Ampelkoalition hat für sich das Narrativ der »Fortschrittskoalition« gefunden. Wie überzeugend finden Sie das?
M: Nicht wirklich überzeugend, aber ich würde sie durchaus in Schutz nehmen: Das meiste, was die sich programmatisch vorgenommen haben, konnten sie bisher gar nicht umsetzen. Das liegt auch an der politischen Situation in Europa. Olaf Scholz muss zudem mit zwei sehr starken Figuren neben sich regieren. Weder der Kanzler noch der Wirtschafsminister noch der Finanzminister kann im Moment die Politik durchsetzen, die er eigentlich machen wollte.
S: Ich würde stark machen, vor welchem Hintergrund wir Fortschritt erst einmal definieren müssen. Die Ampelregierung steht vor wahnsinnigen Herausforderungen, sie ist mit einem Krieg konfrontiert, eigentlich mit einem kompletten Auseinanderfallen der Weltordnung. Im Vergleich zu 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels gelingt es ihr, inmitten dieser Krisen immer noch pragmatisch zu ringen, viele Punkte ihrer politischen Agenda nicht so recht durchsetzen zu können, aber trotzdem vieles voranzubringen. Bei den LNG-Terminals etwa sehen wir eine Beschleunigung von politischen Prozessen. Das ist auch programmatisch durchaus fortschrittlich.
Zumindest am Anfang wurde auch eine neue Form des politischen Umgangs erprobt. Das konnte man beispielsweise in der Pressekonferenz erkennen, in der der Koalitionsvertrag vorgestellt wurde. Angela Merkel hat es immer geschafft, dass die SPD die Politik, bei der sie sich durchsetzen konnte, nie für sich verbuchen konnte. Das scheint eine Novität zu sein dieser Regierung, diese Pluralität der Stimmen zuzulassen; dass man zurechnen kann, wer für was zuständig ist, und dass es Spielräume der einzelnen Koalitionspartner zu geben scheint, die nicht zugekleistert werden. Es wirkt gerade so, als ob nicht alles von Olaf Scholz käme.
Welche Rolle spielt Olaf Scholz dabei? Wie kommuniziert der einstige »Scholzomat« als Kanzler?
S: Bei Angela Merkel wurde ja diskutiert, dass sie das Bundeskanzleramt auf eine gewisse Art und Weise präsidialisiert habe, über dem politischen Betrieb schwebe. Bei Olaf Scholz bin ich mir noch nicht so sicher. Er scheint sich an einer Form von Präsidialisierung innerhalb des Kabinetts zu versuchen. Gleichzeitig merkt er aber, dass dieser Stil politischen Handelns an die Grenzen gestoßen ist. Ihm wurde lange attestiert, er sei Angela Merkels politischer Erbe, vom Auftreten, vom Stil, vom Kommunikationsverhalten her. Jetzt scheint er zu merken: Das funktioniert so nicht mehr.
Wenn Scholz eine Entscheidung getroffen hat, hat er das ja schon versucht, irgendwie auch ein bisschen neu zu verkaufen: »Bazooka«, »Wumms«.
S: Stimmt. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen, über diese Comicsprache: »Wumms« und »Doppelwumms«. Das ist ja eine Infantilisierung von Politik, » Wumms«, »Doppelwumms«. Da müsste man natürlich auch fragen: Wofür ist das eigentlich symptomatisch?
M: Scholz würden wohl nur die wenigsten einen guten Rhetoriker nennen, weil er zu lakonisch, fast schon sprachlos ist und sich Journalisten gegenüber geradezu verweigert. Interessanterweise ist er jedoch tatsächlich ein begnadeter politischer Redner, zeigt das aber nur noch sehr selten. Angela Merkel beherrschte das öffentlich Sprechen ja nicht so sehr und hat es also auch eher vermieden. Aber Olaf Scholz verzichtet auf etwas, was er eigentlich ziemlich gut kann. Als er etwa am 1. Mai 2022 auf der DGB-Kundgebung in Düsseldorf angegriffen wurde und dann aus dem Stegreif gegen ein pfeifendes Publikum einen Spontanvortrag hielt, bei dem jeder Satz saß und pointiert war, dachte ich mir: Wenn der mal ein bisschen die Fassung verliert, ist der richtig gut.
S: Auch während der Bundestagsdebatte mit Friedrich Merz, als Scholz sein Skript weggelegt hat, hat man gesehen, was das für ein starker Rhetoriker sein kann. Das ist ein wichtiger Punkt: Der „Scholzomat“ ist nur eine Seite. Das ist eine Masche, das ist eine Strategie, während es bei Angela Merkel eine Unfähigkeit war.
Haben Sie eine Idee, warum er auf diese Fähigkeit verzichtet?
M: Er hat für sich eine regierende Persona entworfen, an der er festhält, und bislang ist er sehr selten aus dieser Rolle gefallen. Ansonsten ist es doch beeindruckend, wie er diesen kalten, sachlichen Verwaltungsbeamten spielt. Das ist eine Rolle, die er sich zugelegt hat, wie andere für sich ein Kostüm erfinden und das dann anbehalten.
S: Das ist auch vielleicht eine Form von hanseatischem Amtsverständnis, oder?
Es ist eine Entpersonalisierung für das Amt.
M: Es hängt mit seiner Koalition zusammen, aber auch mit einer persönlichen Eigenschaft: Wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt – und ich glaube, er hat ohnehin ein großes Misstrauen Journalisten gegenüber –, dann übertreibt er diese Rolle noch stärker.
Sie plädieren für einen „progressiv-pragmatischen Pessimismus“ und dafür, dass die Politik mehr die „worst cases“ antizipieren müsste. In dieser Rahmung hätte Scholz sein zögerliches Handeln zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine doch kommunizieren können, nach dem Motto: „Ich habe mehrere alternative Szenarien im Kopf.“
S: Mir scheint in der politischen Vorbereitung, Bearbeitung und auch Nachbereitung von Krisen viel zu kurz zu kommen, dass man verschiedene Szenarien durchdenkt und sich dann überlegt: Wie könnten wir darauf reagieren? Das heißt aber noch nicht, dass ich eine Dramatisierung politischer Kommunikation befürworte. In der Coronapandemie hat man gesehen, wie Emmanuel Macron und Angela Merkel die Herausforderungen im Vergleich verbalisiert haben. Der eine sprach von einem Krieg, die andere eher noch beruhigend. Erstes galt für manche als Überdramatisierung, hysterisch, Alarmismus. Aber das Zweite kann auch zu beruhigend wirken. Da den Mittelweg zu finden, heißt auch, mal pragmatisch zu sagen: »Wir müssen das Worst-case-Szenario benennen, wir müssen klar machen, was auf dem Spiel steht.« Ich denke, dass es auch eine produktive Form politischer Kommunikation sein kann, nicht immer zu beschönigen oder zu verschweigen oder gar zu vertuschen. Das lässt sich auf viele Krisen übertragen.
Was heißt das mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die damit verbundenen fundamentalen Urängste, zum Beispiel die Angst vor Energieausfällen, Kälte, Frieren?
S: Die Ampelkoalition hat sich seit März ʼ22 vorbereiten können. Erst hieß es Gaspreisbremse, Gasumlage etc. Dann hätte man auch überlegen können, wenn das und das passiert, was folgt daraus? Wenn wir zum Beispiel leere Gasspeicher hätten, was wären die nächsten Schritte? Mein Plädoyer lautet: Es muss immer Optionen geben, und das beinhaltet auch das Denken in Szenarien – eben nicht nur in beschönigenden Szenarien, mit denen man sich selbst beruhigen kann. Schließlich ist es ein Plädoyer für Vorbereitung, Preparedness, Krisenresilienz.
Ein besonders wirkmächtiges Narrativ ist die populistische Dichotomie: Hier das Volk, da die bösen Eliten. Tun nichtpopulistische Politiker genug, um das zu entkräften?
S: Das spielt ein bisschen darauf an, wie sich eigentlich liberale demokratische Akteure selbst erzählen und proaktiv oder zumindest reaktiv eine Gegenerzählung zum populistischen Narrativ anbieten können. Wenn man die Beschwörung von Streitkultur als derzeit dominante Gegenerzählung von liberalen Demokraten betrachtet, die besagt: „Wir müssen Pluralismus ernstnehmen“, dann übersetzt sich Pluralismus politisch in Konfliktkultur, Streitkultur, überhaupt erst einmal in eine Affirmation von Konflikten. Das ist eines der gängigsten Gegennarrative zum Populismus, weil Populismus immer davon zehrt, den Volkswillen als Willen ex ante, also vor dem politischen Prozess, zu hypostasieren, als die einzige politische Größe, auf die sich politische Akteure beziehen können. Es geht darum, eine höhere Legitimität des Volkswillens zu behaupten – bei dem nicht so ganz klar wird, wie er prozedural eigentlich zustande kommt. Insofern ist es durchaus sinnvoll, auf Streitkultur zu setzen. Aber wir haben natürlich auch noch ganz andere liberaldemokratische Gegenerzählungen, von Rechtsstaatlichkeit, von Minderheitenschutz, von einer Austarierung des Mehrheitsprinzips. Ich glaube, dass es sehr wichtig für die Demokratie in ihrer jetzigen Verfasstheit ist, immer zu reflektieren, was die dunkle Seite der Demokratie ist, und diese dunkle Seite der Verführbarkeit des Volkes durch Demagogen auch zu thematisieren. Wenn wir so wollen – und das klingt jetzt ebenfalls sehr pastoral-protestantisch –, dann ist eine Ausstellung und Betonung von Selbstreflexivität, von Selbstkritik auch eine Gegenerzählung zu Populismus, weil Populismus davon zehrt, starke Sätze zu behaupten mit Verweis auf den Volkswillen und auf den vermeintlichen Antagonismus, die Dichotomie zwischen Establishment und Volk.
Dummerweise haben sich die Rechtspopulisten sich ebenfalls auf die Fahnen geschrieben, dass sie diejenigen sind, die für mehr Demokratie, mehr Meinungsfreiheit stehen.
M: Die reflexiven politischen Kommunikationsstile, die wir uns angeschaut haben, kennzeichnen im Moment noch eher die liberale Mitte, könnten aber sicherlich auch in populistische Programme übersetzbar sein. Ich denke etwa an die Ausstellung von Verletzlichkeit oder die Betonung eigener Reflexivität. Warum sollte das nicht auch für politische Positionen in Anschlag gebracht werden können, die außerhalb der Mitte liegen?
S: Das ist aber etwas anderes. Mir ging es darum, welche Narrative gerade mobilisiert werden, welche Muster dominant sind. Ich habe noch nicht über politische Aneignung gesprochen. Jeder Satz ist potenziell politisch aneignungsfähig von verschiedenen Seiten. Es gibt nicht immer eine eindeutige Ideologisierbarkeit.
M: Wir haben früher bestimmte Theorien ganz selbstverständlich links verordnet, und auf einmal werden diese in Schnellroda oder an anderen Orten nicht nur gelesen, sondern in Alltagshandeln übersetzt. Man kann mit Deleuze und Foucault ganz gut auch als Identitäre auf die Straße gehen, so absurd das für uns immer klang. Das funktioniert. Daher könnte ich mir auch vorstellen, dass man sich auch bestimmte Formen der politischen Kommunikation aneignen kann.
S: Diese Verschiebung findet in alle Richtungen statt. Heute scheint es viel schwieriger, eine Rede zu lesen und dann eindeutig zu erkennen: Ist die von einem CDU-Politiker, ist die von einem SPD-Politiker oder ist die womöglich sogar von einem Rechtspopulisten? Es finden sich austauschbare Muster und Begriffe. Genau diese Verschiebungen sind das Interessante. Die Alternative für Deutschland ist angetreten damit, die Streitkultur zu revitalisieren, eine Alternative zu bieten zur Alternativlosigkeit. Deswegen hatte ich mit meiner Dissertation zum TINA-Prinzip …
There is no alternative …
… immer solche Probleme, weil mich Rechtspopulisten gerne einladen wollten und sagten: »Sie sind ja auch eine der großen Merkel-Kritikerinnen. Kommen Sie doch zu uns!« Ich hatte ein Angebot, jemanden von der AfD politisch zu beraten, und dachte: Was ist da schiefgelaufen? Aber es war ja die strategische Selbsterzählung der AfD, für Streitkultur zu plädieren. Doch wir haben längst begriffen, dass das nur eine Inszenierung, eine strategische Hülse dieser Partei ist. Man könnte natürlich sagen, dass die AfD im gewissen Sinne das auch selbst erzeugt hat, dass der performative Widerspruch also ein doppelter ist: Sich Streitkultur auf die Fahnen zu schreiben, aber selbst überhaupt nicht streitfähig zu sein, weil man immer apodiktisch argumentiert, sich auf metaphysische Entitäten wie den Volkswillen beruft; und trotzdem ließe sich sagen, dass die AfD die Demokratie ein Stück weit revitalisiert oder dynamisiert hat, denn jetzt ist klar: Es steht etwas auf dem Spiel, wir müssen Demokratie erklären. Das war jetzt sehr »steinmeierhaft« gesprochen, weil sich der Bundespräsident ja ganz gezielt der Demokratieförderung verschrieben hat.
Welchen Politikerinnen hören Sie besonders gerne zu?
S: Das können wir gar nicht beantworten, weil wir immer mit einer professionellen Deformation hören. Diese Deformation hat einen guten Grund: Julian Müller und ich arbeiten gemeinsam mit Christian Kichmeier von der Universität Groningen in einem von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderten Forschungsprojekt, in dem wir uns mit politischer Ansprache und Fürsprache auseinandersetzen. Wir haben eine wahnsinnige Ambivalenz – gleichzeitige Skepsis und Faszination – für die Figur Robert Habeck. Das heißt, ich höre ihm „gerne“ zu, ich höre ihm viel zu.
M: Kevin Kühnert ist auch ein rhetorisches Talent und macht jetzt eine Metamorphose durch, die interessant ist, bei der ich aber noch nicht weiß, ob die gut endet. Er will unübersehbar zu einem Staatsmann reifen, und ich bin mir nicht sicher, ob das klappt. Ich glaube, dass er sich seiner größten Stärke beraubt. Der junge, bissige Kevin Kühnert war ein großes rhetorisches und auch politisches Talent.
S: Man kann natürlich auch noch über andere politische Sprecher nachdenken. Luisa Neubauer etwa hat ein unglaubliches Talent, politisch zu sprechen, politische Probleme zu benennen, politische Akteure zu stellen und überhaupt in solchen Konflikten standhaft zu bleiben. Diese Außenposition einzubauen und enorm professionell zu sprechen – damit ist sie schon eine interessante Figur für den politischen Betrieb. Ich muss gestehen, ich höre auch unheimlich gerne Boris Johnson zu, aber tatsächlich aus so einer Faszination, aus einer Ambivalenz heraus. Wir haben seine Weihnachtsansprache angeschaut: Da ist eine unheimliche Nahbarkeit, eine unheimlich gute Adressierung des Volkes, aber trotzdem ist diese Figur hochgradig problematisch. Darüber ist schon alles gesagt worden: clownesque, unernst, populistisch – das ist alles eingepreist in meine Beobachtung. Aber Sie haben mich gefragt, wem ich gerne zuhöre, und da ist es so, dass Johnson einfach eine unheimlich interessante Art hat, im politischen Raum zu sprechen.
Er hat auch immer wieder so altertümlich klingende Vokabeln ausgegraben, bei denen die Leute teilweise gar nicht mehr wussten, was es überhaupt heißt. Geht es am Ende nur um das Auffallen?
S: Zum einen diese überkommenen Formulierungen, zum anderen aber auch das Gegenteil, eine unheimliche Nähe, ja Nahbarkeit. Nehmen Sie zum Beispiel die Abschiedsrede im House of Commons, in der er sagt: »I’ll be back«, ein Terminator-Zitat. Das ist das gleiche wie bei Trump, nämlich das Gefährliche: Dieses Satirische, das Humoristische mit dem Effekt, dass man Politik eigentlich als Satire wahrnimmt und über politische Sprache lacht. Das macht es aber nicht weniger interessant.
Hat er dann über diese Begrifflichkeiten – gerade in England, wo der Klassenkonflikt zwischen Ober- und Unterschicht noch sehr relevant ist – eine breite Anschlussfähigkeit, bevor er dann weiter polarisieren kann? Er kriegt diesen Spagat rhetorisch sehr gut hin, oder?
S: Ja, klar. Sie haben einen typischen britischen Upper-class-Vertreter, der aber – die Bilder sind ja schon ikonisch – als Bürgermeister mit Sturmfrisur auf dem Fahrrad durch London fährt. Oder auch die Szene, wo er Fußball spielt und ein Kind umnietet. Das gehört alles auch zur politischen Ansprache: Diese Szenen, die ikonisch werden, die dann immer wieder geteilt werden, die memefiziert werden.
M: Ich wusste nicht, dass du da so eine Faszination hast (lacht).
S: Das ist so eine Faszination fürs Hässliche.
Zum Thema Faszination des Bösen: Ist nicht auch Björn Höcke rein handwerklich gesehen sehr gut in dem, was er tut, also zum Beispiel wie er so zweideutig mit diesen historisch kontaminierten Ausdrücken operiert und solche Begrifflichkeiten wie »Denkmal der Schande« verwendet? Ist er – auf eine mephistophelische Art und Weise – nicht auch sein sehr guter Politiker?
M: Da muss man ein bisschen aufpassen. Das galt für linkextreme und für rechtsextreme Politiker immer: Das sind natürlich Kommunikationsprofis, denn das ist ihre Aufgabe. Da sie fast nie in Regierungsverantwortung kommen, da sie nie entscheiden müssen, haben sie oft die besten Kampagnen, Plakate, Slogans, auch Anbindungen an Subkultur. In dieser Hinsicht waren sie immer im Vorteil gegenüber den Volksparteien, die das zum Glück nicht machen müssen und auch in der Regel nicht tun. Insofern stimmt das, wenn man das wirklich loslöst und politische Kommunikation nur auf einer handwerklichen Ebene betrachtet. Aber das würde ich hier ungerne genannt haben als ein gutes Beispiel für politische Kommunikation.
Ein kleiner Themenwechsel: Sie haben sich ausführlich mit Podcasts befasst. Was können Sie sagen zu politischer Kommunikation in diesem Format?
M: In der hektischen Welt des politischen Alltags fungieren viele Podcasts als mediale Inseln, auf denen sehr ausführlich, sehr nahbar und bisweilen intim über Politik gesprochen wird.
Ich habe mich zunächst damit beschäftigt, wie politisches Sprechen im Alltag stattfindet, wie sich „normale“ Subjekte als politische Subjekte beschreiben und über welche Themen das geschieht. Oft sind das Themen, die wir früher eher als eher unpolitisch betrachtet hätten. Im Zuge dessen habe ich mich gefragt, was dieses sehr ausführliche Reden über das eigene Leben bewirkt, was das Neue ist an dieser Form, biografisch zu sprechen. Es gab immer Biografisches, aber nicht so ubiquitär und auch nicht so leicht zugänglich.
Zudem machen das ja auch immer mehr Politikerinnen und Politiker. Beispielsweise gibt es sehr viele Habeck-Podcasts: seine liebsten Bücher, sein Leben, seine Lieblingsmusikstücke. Das ist nicht mehr wie bei Helmut Kohl, der dann einmal bei Alfred Biolek saß und über seine liebste Nachspeise spricht und einmal im Jahr Urlaubsfotos vom Wolfgangsee verbreitet – das war doch eine wohldosierte Investition des Privaten in die Politik. Jetzt ist das aber allgegenwärtig. Wenn wir wollen, können wir sehr viel erfahren über das Leben vieler Politiker heute. Christian Lindner hat jetzt sogar einen eigenen Podcast, Friedrich Merz auch.
Wer ist das eigentlich, dieser neue erzählende oder moderierende Politiker? Wir glauben, dass es eine neue Form des politischen Sprechens gibt: der Politiker nicht mehr nur als aktiver, heroischer Entscheider, sondern als jemand, der auch als der Zuhörende, der Erlebende, der Moderierende auftritt, was eine ganz andere Art des Sprechens ist. Wenn Christian Lindner etwa Michel Friedman befragt, ist er auf einmal jemand, der anderen Fragen stellt.
Und noch etwas ist an einem Podcast wahnsinnig faszinierend, nicht nur in Bezug auf die Politik: die mediale Situation. Zwei Menschen, ein kleines Studio, eine unglaubliche Nähe, in der Regel kein Bild. Das erzeugt Sätze, auf die wir sonst nicht so vorbereitet sind. Das ist doch etwas anderes als ein anderthalbminütiges Interview im Fernsehen. Fünf Stunden Zeit-Podcast mit Armin Laschet, der eine Dreiviertelstunde darüber spricht, wie sehr ihn bis heute mitnimmt, dass er sich im Wahlkampf so falsch wahrgenommen gefühlt hat. Da ist jemand, der noch einmal ausführlich vor Publikum darlegt, dass er doch niemand sei, der andere auslache. Das ist eine neue Qualität, wie Persönliches ins Spiel kommt, und das lässt sich nicht einfach als das Eindringen von Authentizität in den politischen Betrieb beschreiben mit. Das gilt zwar zweifellos auch. Aber vor allem haben wir heute zum einen andere Erwartungen an Politiker, zum anderen sind dies medialen Situationen so neu, dass das noch nicht trainiert ist. Habermas schreibt in Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit über die sozialen Medien: Als der Buchdruck in die Welt kam, wie lange haben die Menschen gebraucht, um lesen zu lernen? Heute können wir alle publizieren, aber wie lange brauchen wir, bis auch alle publizieren können? Und da ist natürlich schon etwas dran: Nicht der Einzelne, sondern wir als Gesellschaft sind noch nicht gut vorbereitet, so zu publizieren – in selbst produzierten Podcasts, in öffentlichen Fotoalben auf Instagram oder Kurzvideos auf TikTok, die kaum mehr ein Argument im klassischen Sinne zulassen.
Podcasts sind ja auch ein sehr minimalistisches Medium. Man hört einfach nur.
M: Wir assoziieren mit der Stimme ja maximale Intimität. Das zieht sich durch die gesamte Geistesgeschichte. Nichts scheint so unmittelbar wie die Stimme. Hinzu kommt: Wie konsumieren wir das? Wir haben auf einmal Politiker, die uns direkt ins Ohr sprechen, während wir durch die Stadt oder durch die Gegend laufen. Das ist eine merkwürdige Situation.
S: Wir sind dem immer ausgesetzt, wir haben gar keine Distanz dazu.
M: Ja, genau, die sind in unserem Ohr.
S: Ich schlaf leider immer ein.
Das Interview führten Dr. Volker Best und Katharina Rahlf.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2023