Wilhelm Reich Von sterbenden Göttern und wundersamen Maschinen
Es ist das große Finale. Am 4. Mai 1956, dem dritten Verhandlungstag, will Wilhelm Reich den großen Bogen spannen und dem Gericht erkennbar machen, in wessen Dienste es sich stellte, wenn es ihn für schuldig befände. Bis zum Ende ist er sich sicher. Er braucht keinen Anwalt. Denn er hat Freunde, mächtige Freunde, und sie alle sind informiert. Eisenhower, Hoover, die Air Force – sie haben seine Berichte erhalten, und wenngleich sie sich nicht offen dazu bekennen, werden sie es nicht geschehen lassen. Sie werden ihm helfen. Es steht zu viel auf dem Spiel.
Am 4. Mai 1956 findet der dritte Verhandlungstag im Verfahren Wilhelm Reich et al., Defendants, Appellants, versus United States of America statt. Wilhelm Reich, einst kontroverser und doch anerkannter Psychoanalytiker der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, nunmehr der Öffentlichkeit bekannt durch eine Vielzahl desavouierender Zeitungsartikel, die seit 1947 über ihn erschienen sind, hat sich entschieden, auf einen Anwalt zu verzichten. Er verteidigt sich selbst. In dem Prozess geht es um den Verstoß gegen das Verbot des Handels mit Schriften und Geräten, die Reich in der Counterculture der 1950er Jahre Popularität eingebracht haben. Der Prozess gegen Reich stößt auf große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, vor allem aufgrund dessen Symbolik für die amerikanische Nachkriegsmentalität: Reich verkörpert die Angst vor kommunistischen Umtrieben in den USA, vor Sittenverlust und den sich seit den 1940er Jahren formierenden subkulturellen Gruppen, vor Hipstern und Beatniks, die an West- und Ostküste alternative Lebensmodelle praktizieren und damit die biedere Kultur des mittleren Westens herausfordern.
1956 ist das Jahr der Niederlage. Auf Anordnung des Gerichts werden Reichs Bücher verbrannt und die noch in seinem Besitz befindlichen Orgon-Akkumulatoren zerstört. […]
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015