Nichts ist, wie es scheint Die Erfindung des modernen Konspirationismus in der Aufklärung

Von Ralf Klausnitzer

Wer erinnert sich noch an den nicht unbeträchtlichen Erfolg des US-amerikanischen Schema-Literaten Dan Brown? Am 15. September 2009 erschien bei der Random-House-Tochter Doubleday sein Roman »The Lost Symbol« – und brach schon am ersten Verkaufstag mit einer Million umgesetzter Exemplare einen Rekord. Der Thriller, in Deutschland zum Start der Frankfurter Buchmesse am 14. Oktober 2009 veröffentlicht, kreiste um die geheimnisumwitterte Rolle der Freimaurerei in Geschichte und Gegenwart der USA. Wie in den Vorgängern »Angels & Demons« und »The Da Vinci Code« war auch diesmal wieder der Kunsthistoriker und Symbolforscher Robert Langdon unterwegs, um mithilfe von Kryptografie und Semiotik ein Wissen aufzudecken, das die moderne Welt in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Und wieder ist er nicht nur dem Imperativ zur Enthüllung einer verborgenen Wahrheit gefolgt – »Reveal the Truth!« –, sondern auch den Maximen eines Verschwörungsdenkens, dessen Ursprünge viel weiter zurückliegen, als dem Autor selbst und den meisten seiner Leser wohl bewusst gewesen ist.

Bereits Browns 2003 erschienener und weltweit über achtzig Millionen Mal verkaufter Roman »The Da Vinci Code« hatte seinen kommerziellen Erfolg weniger besonderen ästhetischen Qualitäten oder herausragenden intellektuellen Ansprüchen zu verdanken. Auch der Absatz dieses Werkes, das in einer Vorbemerkung unter dem Titel »Fakten und Tatsachen« den authentischen Status zentraler Textelemente reklamierte, war vielmehr Resultat einer Marketing-Maschine und des vollmundigen Versprechens, die laut Klappentext »größte Verschwörung der letzten 2000 Jahre« aufzuklären – wozu dann auch alle konspirationistischen Register gezogen wurden. Gegen den Harvard-Professor Robert Langdon und die Kryptologin Sophie Neveu agierten scheinbar omnipotente Drahtzieher weitreichender Pläne mit willigen Vollstreckern; mysteriöse Zeichen und chiffrierte Botschaften waren zu entziffern, um ein Geheimnis aufzudecken, welches eine Umkehr des gesamten christlichen Weltbildes bedeuten sollte: Jahrhundertelang habe die institutionalisierte Kirche die Überlieferungen darüber unterschlagen, dass der Menschensohn Jesus und Maria Magdalena verheiratet gewesen seien und ein Kind gehabt hätten. Aus machtpolitischen Gründen habe der Klerus zugleich versucht, die Nachkommen dieser Ehe auszurotten – und damit auch alle Bedeutungen des Weiblichen aus der christlichen Kultur zu tilgen. Doch wird nicht nur die »größte Verschleierungsaktion in der Geschichte der Menschheit« (so der Romantext) aufgedeckt. Im Wettlauf mit den Drahtziehern und Exekutoren des konservativen katholischen Ordens Opus Dei setzen sich mit Langdon & Co. schließlich zudem die Angehörigen der Geheimgesellschaft Prieuré de Sion durch, die ihre Mission zur Wahrung des Wissens um die Identität des Menschen Jesus und seiner Nachkommen auch gegen Widerstände erfüllen können.

Zugleich brachte dieser in Deutschland unter dem Titel »Sakrileg« veröffentlichte Roman eine einträgliche Verwertungsindustrie samt Erläuterungen und Imitationen, Computergames und Verfilmung hervor; allein der flaue Hollywood-Streifen mit Tom Hanks in der Hauptrolle spielte 758 Millionen Dollar ein. Selbst ein Plagiatsprozess und Boykottaufrufe durch Amtsträger der katholischen Kirche schadeten nicht. »The Lost Symbol«, Produkt fünfjähriger Recherchen, kopierte dann den Plot des Vorgängers nahezu vollständig; auch wenn die hier auf zwölf Stunden verkürzte Handlungszeit die Ereignisse zusammendrängte. Wieder wird der Harvard-Professor Robert Langdon in einen mysteriösen Fall verwickelt, der sich als raffiniertes Komplott zur Erlangung streng geheimen Herrschaftswissens erweist: Sein väterlicher Freund Peter Solomon, wie schon George Washington und zahlreiche andere Gründerväter der USA ein Freimaurer und als Angehöriger des 33. Grades in vermeintlich uralte Kenntnisse eingeweiht, ist entführt worden; um dessen Leben zu retten, muss Langdon in die unterirdischen Gänge von Washington D. C. eintauchen und dieses Geheimwissen zutage fördern. Wie schon der Vorgängerroman entfaltet »The Lost Symbol« nun die scheinbar verwirrende, doch schließlich ohne größere Überraschungen aufgelöste Suche nach diesem verborgenen Wissen, das unendliche Macht verspricht und darum auch von nationalem Interesse ist. Wie schon im »Da Vinci Code« wird der Symbologe misstrauisch von Organen der staatlichen Sicherheit observiert. Und wie zuvor agiert ein scheinbar omnipotenter Gegenspieler, der vor keiner Brutalität zurückschreckt. Im Kampf gegen den zugleich von der CIA verfolgten Kidnapper findet Dan Browns Held Robert Langdon wiederum typische Verbündete: Katherine Solomon, die Schwester seines gekidnappten Mentors, laboriert in ihrem Institut für Noetische Wissenschaften an Prozeduren zur mentalen Steuerung physischer Prozesse. Dass die vermeintlich uralte Weisheit der Freimaurerei und moderne Noetik – die nicht weniger anstrebt als eine Beherrschung der subatomaren Welt durch die Kraft gebündelter Gedanken – im Verlauf der zwölfstündigen Jagd zusammenfinden, kann den Leser kaum verwundern. Zu eindeutig hat der Autor seinen Plot konstruiert, zu flach und ohne jede Tiefenschärfe seine Figuren und ihre Konstellationen angelegt. Sobald Emotionen jenseits des obligaten Erschreckens aufkommen, taucht garantiert ein Bösewicht auf. Wenn Gespräche oder Reflexionen die Grenze der Falllösung überschreiten, erzwingen plötzliche Einbrüche von Gewalt ihren Abbruch. Selbst die unterirdischen Gänge, Kammern und Tempel der US-amerikanischen Hauptstadt vermitteln nur selten den Eindruck eines geheimnisvollen Untergrunds; sie bleiben konstruierte Elemente einer gleichsam am Reißbrett des Erfolgs entworfenen Romanwelt.

Damit ließe sich schließen, wenn der Roman und sein kommerzieller Erfolg nicht noch einiges mehr verrieten. Denn ohne Zweifel verweist dieses Werk, das schon am 25. September 2009 die Spitze der New-York-Times-Bestseller-Liste für Hardcover Fiction besetzte, auf tiefer liegende Bedürfnisse. Es ist Resultat und zugleich Katalysator einer Populärkultur, die angesichts fortschreitender Banalisierung des Alltags bei zunehmender Undurchschaubarkeit politischer und ökonomischer Systeme nach inszenierten Geheimnissen und deren wortreicher Enthüllung verlangt. Die symbolüberfluteten Untergrund-Geschichten aus dem Computer Dan Browns erfüllen diese Wünsche. Sie schreiben ein Verschwörungsdenken fort, das im Land der schon paranoiden Furcht vor der eigenen Regierung lange zuvor bizarre Blüten getrieben hat (und noch immer treibt). Und doch sollte man sich hüten, diese und andere Werke als Produkte einer konspirationssüchtigen Fiktionsindustrie »made in USA« zu stempeln.

Verschwörungsszenarien der Gegenwart haben vielmehr eine Geschichte, die in der europäischen Aufklärung beginnt, die nicht nur ein Zeitalter des Selbstdenkens und der reinen Vernunft, sondern auch eine Zeit vielfältiger Recherchen nach verborgenem Wissen und arkanen Kenntnissen begründet hat, welche sich immer auch mit der Suche nach unsichtbaren Drahtziehern hinter den sichtbaren Verwerfungen einer zunehmend komplexeren Gesellschaft verbunden haben. Diese Bewegungen – von deren Intensität wir uns heute kaum mehr eine Vorstellung machen – kulminierten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Während Adam Weishaupt an der Universität Ingolstadt am 1. Mai 1776 den Bund der Perfektibilisten gründete und die Repräsentanten der neuenglischen Kolonien in Philadelphia am 4. Juli die Unabhängigkeitserklärung verabschiedeten, laborierten europaweit vernetzte Freimaurerlogen an Projekten zur Regeneration angeblich verschütteter Weisheiten vorchristlicher Herkunft. Im gleichen Jahr 1776 erscheint Adam Smiths wirtschaftswissenschaftliches Grundlagenwerk »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations«. Diese Untersuchung über die Natur und die Gründe des Reichtums der Nationen formuliert im zweiten Kapitel des vierten Buches eine Aussage, nach der das Wirken einer »invisible hand« die Gesamtheit der individuellen Intentionen so koordiniere, dass die Tätigkeiten selbstbezogener Einzelsubjekte in gesellschaftliche Wohlfahrt mündeten.[1] Während der schottische Steuereintreiber auf die traditionsreiche Metapherder »unsichtbaren Hand« zurückgreift, um zu zeigen, wie das egoistische Bestreben des Einzelnen das allgemeine Wohl (den Commonwealth) einer Gesellschaft befördere (weil eine verborgene Steuerungsinstanz gleichsam hinter dem Rücken der Wirtschaftssubjekte wirke und ohne Rücksicht auf deren Intentionen ein allgemeines Gleichgewicht herstelle), bestimmt der deutsche Philosoph Immanuel Kant die Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«[2] – um nur wenige Sätze nach dieser immer wieder zitierten Bestimmung vor einer Verschwörung gegen das Emanzipationsprojekt zu warnen.[3] Neben Kant kämpfen die Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, Friedrich Gedicke und Johann Erich Biester, gegen die verborgenen Netzwerke, die untergründig und scheinbar omnipotent, unsichtbar und vermeintlich omnipräsent ihr Projekt einer umfassenden Aufklärung bedrohten. Als protestantische Propagandisten der Vernunft ermitteln sie seit Beginn der 1780er Jahre vermeintlich konspirative Widersacher, die sich der aufklärerischen Geheimgesellschaften bemächtigt und Potentaten wie den preußischen König Friedrich Wilhelm II. manipuliert haben sollen.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015