Großes, linkes Kino The Wire als Porträt des Oben und Unten US-amerikanischer Politik
Chain of command – von oben nach unten
Dennoch könnte man es sich leicht machen. Schließlich gibt es in der Serie kaum einen Platz, an dem politics keine Rolle spielen würden. Rangkämpfe um Macht und Einfluss kann man an allen Schauplätzen der Serie, der Polizei, der Hafenarbeitergewerkschaft, unter den Kingpins der Unterwelt und selbstverständlich auch in der Kommunal- und Landespolitik beobachten.
Es hilft also, die angesprochene dialektische Methode wörtlich auf die Serie übertragen. Oben angefangen personifiziert der politische Kickstart des jungen demokratischen Stadtratsmitglieds Tony Carcetti „die Politik“. Als Weißer in einer „schwarzen Stadt“ muss er über manche politische Leiche gehen, um sich, beginnend mit dem Bürgermeisteramt in Baltimore, für Höheres zu empfehlen. Mit dieser erwartbaren Darstellung der intriganten offiziellen Seite der Politik, lässt sich die Betrachtung jedoch bestenfalls eröffnen. Die wirklichen Bestandteile, Auswirkungen und Problemstellen des US-amerikanischen politischen Systems werden erst deutlich, wenn man sich durch die Ebenen bewegt.
Auffällig viel dreht sich in den porträtierten Wahlkämpfen bei The Wire um „Tickets“. Diese Tickets versammeln die Gruppe von Politikern, die ein Bürgermeister-, Senatoren-, oder Gouverneurskandidat im Falle seiner Wahl in die Schlüsselressorts einsetzen möchte. Sie sind so zentral, da die politische Administration im hochgradig personalisierten politischen System der USA bei Regierungswechseln annähernd vollständig ausgetauscht wird. Ein zwei-schneidiges Schwert: Wenn sich hiermit auch Chancen für einen Neuanfang ergeben, sind politische Karrieren so doch gleichzeitig selbst auf den unteren Stufen der Positionsleiter stark mit dem Erfolg der Spitzenpolitiker verknüpft.
Das System bedingt also starke Abhängigkeiten in beide Richtungen. Von oben nach unten hängen durch die Nachwahlbesetzungen auch Posten des öffentlichen Dienstes sehr unmittelbar von Wohl und Wehe der Topkandidaten ab, die Leiter einer Behörde sind ihrem gewählten Dienstherren also umso mehr ergeben. Nun ist es allerdings so, dass das Funktionieren der Apparate das einzige Kapital der vom Goodwill der Politiker abhängigen Behördenleiter ist. Bei Defiziten und Funktionsmängeln rollen Köpfe.
Es bedarf wenig Phantasie, um sich das Resultat solcher Abhängigkeitsverhältnisse auszumalen. In der Polizei West Baltimores, der Basis von The Wire, herrschen unerbittliche Hierarchien, deren Druck sich schließlich kon-traproduktiv auf die Verbrechensaufklärung auswirkt. Alles hängt an einer klaren Befehlskette – der chain of command. In aller Kürze bedeutet jene chain of command eine Kommando- und Kommunikationsstruktur, die in beide Richtungen eine stete Kommunikation zwischen den beieinander liegenden Rangebenen ermöglichen und das Umgehen einer zwischengeschalteten Hierarchieebene verhindern soll. Sie gilt es um jeden Preis einzuhalten – konsequenterweise sind es die Verstöße des Mordermittlers Jimmy McNultys gegen sie, die die Serie überhaupt erst beginnen und immerfort weiterleben lassen.
In der Realität bedeutet die chain of command wegen der persönlichen Abhängigkeiten freilich einen unerbittlichen Transmissionsriemen, der oben formulierte Ziele in Erwartungen umformuliert und nach unten überträgt. An-gefangen beim Bürgermeister Clarence Royce, werden Ziele zur Verbrechensbekämpfung ausgegeben. Polizeipräsident Burrell, der auf Royces Ticket sitzt, überträgt diese Ziele – mitsamt dem Auftrag, sie umzusetzen – wiederum an die Leiter der Unterabteilungen, etwa den Leiter des Morddezernats. Dieser wiederum leitet sie schließlich auf diejenigen über, die tatsächlich mit dem Verbrechen in Kontakt kommen. Zunächst an den „Supervisory Detective Sergeant“, Jay Landsman, der die Geschicke der Mordermittlungen koordiniert. Die Vorgabe an ihn ist simpel: Die Mordrate muss um einen bestimmten Prozentsatz gesenkt werden, worauf Landsman die Morde zur Aufklärung an seine Mordermittler – unter ihnen die Hauptcharaktere Jimmy McNulty und Bunk Moreland – überträgt und damit wiederum eine personalisierte Verantwortung einbaut.
Hier nun, an der Basis, kann man das Problem greifen: Die Drogengangs Baltimores tun der Polizei nicht den Gefallen, das Morden einzustellen – die, auch in Folge der Minimalbesteuerung der Wohlhabenden, knappen öffentlichen Mittel erlauben keine nachhaltige, gar präventive Verbrechensbekämpfung. Da die Vorgesetzten aber nicht nur nicht von fehlenden Ermittlungsresultaten enttäuscht werden wollen, sondern darüber hinaus auch persönlich nachverfolgen können, wer die geringste Aufklärungsrate aufweist, geht es für jeden einzelnen Ermittler nur darum, so wenig Morde wie möglich zu „fangen“. Dieser Logik entsprechend erledigen die Ermittler ihre Arbeit: Was nicht zweifellos wie ein Mord aussieht, soll auch keiner werden, man will schließlich keine schlafenden Geister wecken. Das Bestreben darum, sich Mordermittlungen gar nicht erst einzuhandeln, verführt die Ermittler sogar zu einer Art kreativer Buchführung: Wenn möglich, werden bekannte Tötungsdelikte – die Statistiken werden zu bestimmten Zeitpunkten ausgezählt – in den nächsten „Buchungszeitraum“ übertragen.
Auf diese Weise erzwingt die Logik des personalisierten amerikanischen politischen Systems, vermittelt über die chain of command, ein individuell von den Ermittlern verantwortetes unwürdiges Schauspiel, das auf jeder Ebene der Befehlskette bekannt und akzeptiert ist. Was The Wire so zeigt, ist ein System, das bis ins letzte Glied von individuell nutzenmaximierendem Verhalten betrieben wird. Das Porträt amerikanischer Politik bildet so ein notwendiges Resultat von durch freie Konkurrenzbeziehungen geprägten Verhältnissen – und damit letztlich eine klare Analogie kapitalistischer Gesellschaftsordnung – ab.
Drogen, Working Class, Projects – Parallelpolitik in der Parallelgesellschaft
Begibt man sich, einmal am Boden angekommen, auf die entgegengesetzte Warte und betrachtet die politischen Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie sich von unten nach oben fortsetzen, wird deutlich, dass jene alteingesessenen Politiker Macht auf sich vereinen, die solche Bezirke repräsentieren, in denen als wahlentscheidend angesehene Einwohner- und Wählersegmente leben. Die Dramaturgie der Serie will es, dass die konkurrierenden städtischen Spitzenpolitiker im Verlauf der Staffeln vor allem um die Unterstützung bekannter Delegierter ringen, die einen guten Teil der unterprivilegierten schwarzen Bevölkerung in den innerstädtischen Gettos vertreten.
Die Politik liefert auf diese Weise auch einen Schlüssel, um Einblicke in die verschlossenen Lebensbedingungen des US-amerikanischen Prekariats zu erhalten. Der korrupte Senator Clay Davis ist letztlich die entscheidende Person, über die der Brückenschlag in die parallelgesellschaftliche Struktur der drogenbetriebenen Unterwelt gelingt. Ohne Davis’ Einfluss in der schwarzen Community, seine Verbindungen zur bundesstaatlichen Ebene und in die Geschäftswelt sind Wahlen deutlich schwerer zu gewinnen. Der Senator ist skrupellos. Für seine Wiederwahl und persönliche Bereicherung nimmt er Gelder von den Drogenbaronen an und fungiert für diese als Mittelsmann in legale Geschäftswelten. Beherrscher der Drogenimperien wie der intellektuelle Businessman „Stringer“ Bell, dessen Organisation schließlich neben Zwistigkeiten mit seinem Geschäftspartner auch am gewieften Davis scheitert, kaufen sich über ihn in Immobilienentwicklungsprojekte ein und legen so die Basis für den Einstieg in Wirtschaftswelt und Politik.
Über diese Verbindungen von Gangstern und einzelnen Repräsentanten wird der Drogenhandel mit der großen, der offiziellen Politik verknüpft. The Wire legt in seinem Blick auf das gesellschaftliche Unten zunächst offen, wie Politik in einer Stadt wie Baltimore nicht (mehr) funktioniert. Hauptschauplätze der ersten Serienfolgen The Wire sind die heruntergekommenen „Projects“: städtische Sozialbausiedlungen, die sich für ihre Bewohner längst in eine Art sozialräumliches Gefängnis verwandelt haben. Man spürt, den hier aufwachsenden weit überwiegend afroamerikanischen Jugendlichen wird ein „Ausbruch“ aus ihnen kaum gelingen. Nüchtern und mit gemessenem Respekt vor den Menschen in dieser misslichen Situation entsteht eine verstörend deprimierende Milieustudie, in der die allgemeine Ausweglosigkeit in einem Teufelskreis aus dysfunktionalen Familienverhältnissen, Drogenmissbrauch und alltäglicher Gewalt resultiert. Das Politische ist hier etwas, das vollständig äußerlich bleibt. Selbst wenn die Folgen politischer Entscheidungen spürbar sein sollten, ist Politik nichts, auf das die hier Gefangenen selbst irgendeinen Einfluss nehmen könnten.
Dies ergibt sich bereits durch eine enorme Ferne zur öffentlichen Daseinsvorsorge, die kaum mehr bis hier reicht. Keine öffentliche Institution besitzt die Kraft, tatsächlich etwas an den Wurzeln des Übels zu verändern, auch nicht die nur mehr auf symbolisch hartes Durchgreifen getrimmte Polizei. Besonders deutlich zeigt sich dies jedoch in der Darstellung des Schulsys-tems. In Amerika teilprivatisiert, sorgt dieses dafür, dass sich die Ärmsten und Perspektivlosen in den public schools sammeln. Zusätzlich dramatisiert wird diese bedenkliche Ausgangslage dadurch, dass die Mittelausstattung dieser ohnehin notorisch klammen Bildungsstätten stark davon abhängt, wie sie in den landesweiten Lerntests abschneiden. Der zuvor bereits defizitäre Lehrbetrieb mit kaum zu bändigenden Schülern wird hierdurch zusätzlich auf das Einpauken standardisierter Testinhalte verengt. Ein meritokratisches Aufstiegsversprechen bleibt unter diesen Bedingungen kaum mehr als eine zynische Randnotiz. Wissend, dass der Aufstieg aus den Projects aus eigener Kraft kaum gelingen wird, sind die prekarisierten Jugendlichen perspektivlos Gestrandete.
Erst recht, da die US-amerikanische Gesellschaft bekanntlich über keine funktionierende soziale Grundsicherung verfügt. Der Schritt in den einzig florierenden Wirtschaftszweig – die Drogenökonomie – liegt für die ohnehin an wenig zimperliche Viertelsitten Gewöhnten daher sehr nah. Kinder sind in diesen Vierteln nicht in erster Linie Schüler, sondern „Hoppers“: Kaum eingeschult, stehen sie Schmiere, um Drogengeschäfte ohne die Ein-mischung von Polizeistreifen laufen zu lassen, oder bearbeiten die Straßenecken, die „Corners“, auf Geheiß ihrer Chefs selbst. Institutionell ausgesperrt und wohlfahrtsstaatlich blockiert, ist es ihnen nur auf diese Weise möglich, für das eigene Dasein zu sorgen. Natürlich liegt hierin eine besonders fein komponierte Ironie: Tritt doch im Aufstieg vom „Cornerboy“ zum Drogen-Millionär das Stereotyp des American Dream offen zu Tage. Wie in der Gründungszeit der USA wird er hier, so ließe sich sagen, allerdings gänzlich unbürgerlich gelebt: Geld, ein letztlich bürgerliches Lebensmodell mit Anwesen, Kindern und Familie, all das ja, nur stützt sich die Karriere hier eben auf Ellenbogen und 9 mm-Halbautomatik, läuft sie vorbei an formalen Zertifikaten und Aufstiegswegen, die aus der Sicht der Hoppers nur unnötige Umwege darstellen.
Die Vernunft, nach der sich diese Gesellschaft ordnet, ist eine rohe ökonomische. Dies ist kein Geheimwissen, sondern wird gerade auf dem Streetlevel nüchtern anerkannt. In einem Schlüsselmoment der Serie verfolgt Detective McNulty den angesprochenen Drogendealer „Stringer“ Bell in ein Community College und registriert, dass dieser dort Abendvorlesungen in Makroökonomie besucht. Inspiriert von den ökonomischen Lehrbuchweisheiten beginnt Bell schließlich damit, sein Imperium in einer Zeit umzubauen, in der er zwar über die wichtigsten Drogenumschlagplätze der Stadt, selbst jedoch nur über minderwertige Ware verfügt. Schließlich hebt er durch Verständigung mit den Drogenbossen aus anderen Stadteilen Baltimores ein auf Produkt- und Preisabsprachen basierendes (Drogen)Kartell aus dem Boden. In freier historischer Assoziation erinnert all dies, zusätzlich durch Bells Beteiligung an Immobilienprojekten gesteigert, bissig an den auf Kartellabsprachen gestützten Aufstieg des Ölbarons John D. Rockefeller, der später bekanntlich Namenspatron eines der bekanntesten Wolkenkratzer in der Skyline New Yorks wurde.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2014 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014