Großes, linkes Kino The Wire als Porträt des Oben und Unten US-amerikanischer Politik

Von David Bebnowski

Man würde denken: New York. Los Angeles vielleicht oder Chicago. Der Schauplatz der US-amerikanischen Serie The Wire jedoch liegt in Baltimore, einer mittleren Großstadt an der Chesapeake Bay, die dem US-amerikanischen Festland an der Ostküste einen schmalen, zerrissenen Streifen Land vorlagert. Baltimore ist die größte Stadt Marylands, eines dieser neuenglischen Staaten, die so klein sind, dass ihre Namen auf Karten mit einer dünnen schwarzen Linie verbunden mitten im Atlantik stehen. Ganz so, als ob sie jeden Moment untergehen könnten.
Tatsächlich trägt dieses Bild im Falle Baltimores. Die Stadt befindet sich, die Serie zeigt dies, in einer unaufhaltsam wirkenden Abwärtsspirale. Den Boden unter den Füßen im wirtschaftlichen Strukturwandel längst verloren, wird die mürbe Stadt von innen, vom überbordenden Verbrechen, stranguliert. Im real life offenbaren dies bereits oberflächliche Blicke auf US-amerikanische Kriminalitätsstatistiken: Hier rangiert „The Greatest City in America“ nämlich mit deutlichem Abstand vor den drei genannten weltläufigen Metropolen auf einem unrühmlichen Spitzenplatz, in Gesellschaft solch illustrer Hotspots wie Detroit oder New Orleans. Dabei ist Baltimore weder so bankrott wie Detroit noch wurde es von einer so biblisch strengen Umweltkatastrophe heimgesucht wie das unglückliche New Orleans 2005 vom Hurrikan Katrina. Trotzdem ist Baltimore berüchtigt für die vielen Morde, die sich in seinen Stadtgrenzen ereignen. Jahr für Jahr liegt ihre Quote weit über dem Bundesdurchschnitt, 2013 waren es über 230. Ein Graffito im Vorspann der vierten Serienstaffel transportiert mit einem eigentümlichen Zynismus trostlose Resignation: Baltimore, Maryland, das ist Bodymore, Murdaland.
Morden, professionelles Morden umso mehr, steht in den USA in enger Verbindung mit dem Drogenhandel. Die Drogenökonomie bildet das Herzstück der Fernsehserie. In fünf Staffeln entwerfen die Autoren von The Wire, inspiriert vom sozialforscherischen Ansatz der soziologischen Chicago School, dabei jedoch weit mehr als dichte Beschreibungen eines opaken und beängstigenden Milieus. Sie bilden die Realität nicht nur ab, sondern bauen sie nach: Etliche Figuren in der Serie, etwa der schwule Ghetto-Robin-Hood Omar Little, haben reale Vorlagen in den Straßen Baltimores. Der dünne Film der Fiktion wird in The Wire so stets von einer bedrohlichen Realität durchrissen, auch dadurch, dass viele Rollen mit Gangmitgliedern und Polizisten Baltimores besetzt sind. Dies reicht vor allem in den letzten Staffeln der Serie bis ins psychisch Unerträgliche. Besonders dann, wenn die mitleidlos mordende Auftragskillerin Felicia „Snoop“ Pearson eingeführt wird. Nicht einmal ihr Name wurde für die Serie verändert: „Snoop“ spielt in gewisser Weise sich selbst – schon mit 14 Jahren wurde sie wegen Mordes verurteilt.
Den smarten rivalisierenden Drogengangs aus West- und East-Baltimore steht die chronisch unterfinanzierte städtische Polizei gegenüber. Von Anfang an nimmt die Serie dabei aus dem sonst weithin unbeachteten Winkel der US-amerikanischen Strafverfolgung das Lebensgefühl im Post-Nine-Eleven-Zeitalter aufs Korn. Es ist eine besonders feine Anlage der Serie, gerade anhand der Mord- und Drogenermittlungseinheiten zu zeigen, wie sich die Schwerpunkte in der Verbrechensbekämpfung verschoben haben: „What, we don’t have enough love in our hearts for two wars?“, klagt der aufmüpfige Kommissar „Jimmy„ McNulty und meint damit den von George W. Bush gestarteten war on terror, der den rund dreißig Jahre zuvor von Richard Nixon ausgerufenen war on drugs in der Prioritätenliste der Verbrechensbekämpfung abgelöst hat. Würden die Dealer Mohammed oder Ahmed heißen, alles wäre leichter, witzelt man auf den Gängen des Polizeipräsidiums.
Die beiden Pole organisierte Drogenkriminalität und ihre aussichtlose Bekämpfung bilden das dramaturgische Gerüst der Serie. Dieses Gerüst selbst ist jedoch nur Stütze für die eigentliche Story, die die Serie als Gesamtwerk erzählen will: The Wire, das ist mehr als gute Crime-Unterhaltung, es ist ein Porträt des Verfalls einer US-amerikanischen Industriestadt im Zeitalter des Postfordismus. Sie zeigt das Ausbluten staatlicher Institutionen, das Sterben von Gewerkschaften, die Ohnmacht des Rumpfes staatlicher Einflussnahme und den Alltag in einer mitten in „Rationalisierungsmaßnahmen“ steckenden, mehr und mehr auf Profit ausgerichteten städtischen Zeitung.
Schon der Themenwahl halber ist es kein Wunder, dass The Wire eine Lieblingsserie anglophoner Linker ist. Das politische Gespür der Macher, das sich etwa in der ironischen Sozialkritik eines Auftragsmörders der Nation of Islam zeigt, der die Sprengung zweier berüchtigter Sozialwohnungssilos zur Eindämmung der Drogenkriminalität mit dem Posterslogan des Neoliberalismus – „Reform“ – kommentiert, verheißt erzählerische Meisterschaft.
Der Versuch, das Politische in The Wire zu erblicken, heißt, derartige Beispiele als Illustrationen des Ganzen zu verstehen. Politik in The Wire lässt sich dialektisch aus derartigen Szenen entfalten. Es geht darum, „von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta“ zu schließen, bis man, „bei den einfachsten Bestimmungen angelangt“, eine „reiche […] Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen“ erkennt. Allgemeines, meint dies, möchte aus dem Konkreten destilliert werden. Dabei geht es in The Wire um mehr als eine Serie, mehr als Drogen, mehr als Baltimore. The Wire erzählt uns keine bloße Story, sondern liefert Einblicke in unsere eigene Geschichte.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2014 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014