Editorial

Von Marika Przybilla-Voß  /  Matthias Micus

Immer wieder freitags ist es so weit und Schüler, Studierende, aber auch de­ren Eltern und weitere Erwachsene laufen durch die Straßen deutscher Städte, halten Plakate und Schilder in die Luft, auf denen sie ein Umdenken in der (Klima-)Politik einfordern. Friedlich, aber doch lauthals rufen sie Parteien und Regierung zum Handeln auf und verweisen auf bisheriges Fehlverhal­ten in der Politik. Immer wieder montags ist es so weit und Bürgerinnen und Bürger laufen durch die Straßen deutscher Städte mit Bannern und Trans­parenten, auf denen sie zur Verteidigung des Abendlandes aufrufen, um es vor der vermeintlichen Islamisierung zu schützen. Auch sie fordern die Politik und Regierung zum Handeln auf, fordern ein Umschwenken im bisherigen Kurs und tun lauthals ihren Unmut kund.

Proteste sind allgegenwärtig – ob gegen Bahnhöfe, für das Ende des Braun­kohleabbaus, gegen die Abholzung von Wäldern oder für eine offene und to­lerante Gesellschaft. Die Schlagzahl von Protesten hat sich gefühlt erhöht, sie sind medial lauter geworden und nehmen mit ihren von außen an die Politik herangetragenen Forderungen in der Öffentlichkeit ihren Raum ein, finden Unterstützer wie auch Gegner sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch in den Reihen von Politikschaffenden. Fridays for Future, Ende Gelände und Unteilbar auf der einen und die – wenn auch nur noch überschaubare – Per­manenz von »Pegida« sowie die auf Öffentlichkeitswirkung ausgerichteten rechtsradikalen Provokationen der neurechten »Identitären« auf der anderen Seite: Die Gesellschaft ist (wieder) in Bewegung geraten. Neue und alte Ak­teure, Ideen, und Konfliktlinien werden wieder stärker außerhalb des Parla­mentes, außerhalb der Parteien verhandelt. Und das nicht nur in Deutschland, sondern international, wovon die Präsidentschaftswahl in der Ukraine und die jüngsten Proteste der Gelbwesten in Frankreich wie auch jene gegen die Regierung Viktor Orbáns in Ungarn zeugen.

Die politischen Strukturen scheinen ihr Vermögen, politische und gesell­schaftliche Interessen innerhalb der Bevölkerung wahrzunehmen, zu adres­sieren und auf diese zu reagieren, zunehmend zu verlieren. Oder zumindest scheint das Vertrauen innerhalb der Bevölkerung in die etablierten Strukturen und Parteien, diese Bündelung zu vermögen, angesichts der Vielzahl von Pro­testbewegungen fortschreitend zu schwinden. Wer nun laut das Wort »Politik­verdrossenheit« rufen möchte, sollte an dieser Stelle jedoch innehalten, einen Blick auf die Motive, Adressaten und Forderungen ebenjener Protestierenden werfen. Denn in Anbetracht der bereits genannten Proteste ist das Interesse in der Bevölkerung an Politik und somit den zu treffenden Entscheidung über das gesellschaftliche Zusammenleben und dessen Ausgestaltung sehr wohl vorhanden. Nur werden eben andere, alternative, ja außerparlamentarische Artikulationsformen und Strukturen genutzt. Die Parteimitgliedschaft ist nicht mehr zwingend notwendig, um sich politisch zu engagieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und »etwas zu bewegen«. Politische Organisationen, Initia­tiven, Einzelprojekte, die mal lose, mal eng vernetzt sind, vermeintlich jedoch mit weniger Bindungskraft als ein Parteibuch, sind attraktive Anlaufstellen geworden. Somit wird eine Form gewählt, die außerhalb des etablierten Poli­tischen steht, abseits von Parlament und Parteien. Dabei wird versucht, von außen Einfluss auf die Politik und Politikschaffenden zu nehmen. Die demo­kratische Legitimierung des Handelns wird dabei durch die Zahl von Unter­stützenden begründet. Wenn am 20. September 2019 um die 1,4 Millionen Bürgerinnen und Bürger für eine bessere, andere und wissenschaftsorientierte Klimapolitik eintreten, liegt eine demokratische Legitimierung recht nahe, oder etwa nicht? Ein Ende der Proteste und Bewegungen ist zumindest nicht in Sicht.

Der Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe der Indes spürt diesen Ent­wicklungen und Phänomenen nach und stellt dabei den Versuch dar, Ver­gangenheit und Gegenwart des Protestes zu verhandeln. Der Titel mag dabei irritieren und doch naheliegend sein: »Apo« verweist auf die Namensgeberin der »Außerparlamentarischen Opposition«, der Zusatz »4.0« darauf, dass die heutigen Proteste in einer Nachkriegstraditionslinie mit den früheren Apos – der »Kampf dem Atomtod«-Kampagne Ende der 1950er Jahre, der Studenten­bewegung und ihrer Ausläufer in den 1960er und 1970er Jahren sowie der Bürgerbewegung in der DDR 1989/90 – stehen, und markiert zudem die Be­deutung des Internets für gegenwärtige Mobilisierungen. Was also ist »neu« an der aktuellen Apo? Welche Inhalte, Akteure, Praktiken kennzeichnen die Protestkultur im 21. Jahrhundert? Und was bedeutet die Apo 4.0 für die Demokratie? Hat Protest sich gewandelt? Ist er angepasster? Wird (noch) die Systemfrage gestellt? Und: Welche Rolle spielen einzelne Persönlichkeiten für die Mobilisierung und die jeweiligen Proteste?

Der Blick auf dieses Themenfeld ist weit und dessen Analyse erfolgt oft­mals über die exemplarische Darstellung von Protesten. Was überhaupt unter Protest und Opposition verstanden werden kann, wie diese sich entwickelt haben und was es für den Erfolg einer Protestbewegung braucht, legt das einführende Interview mit Wolfgang Kraushaar dar und vereint dabei histo­rische Linien mit der Analyse aktueller Proteste wie etwa Fridays for Future. Auf diese geht auch Christiane Frantz in ihrem Beitrag ein. Darin erweitert sie die Perspektive auch auf NGOs und fragt nach deren Angebot auf poli­tischer Ebene sowie ihrem Potenzial als Politikakteurinnen. Frantz verweist dabei auf Gründungsimpulse und den Entstehungskontext ebenjener Organi­sationen, womit sie deren analytische Einordnung ermöglicht und erleichtert. Der Aspekt »4.0« findet in dem Beitrag von Mundo Yang Platz, in welchem der Autor auf die digitale Protestkultur eingeht, sie in ihrer Kreativität und Strahlkraft darlegt. Dabei thematisiert er auch das Spannungsfeld zwischen Demokratie und möglicher befürchteter gesellschaftlicher Polarisierung. Dass ebenjene Polarisierung nicht zwangsläufig nur im Digitalen zu finden ist, zeigt wiederum der Beitrag von Danny Michelsen, der nach Frankreich und auf die Gelbwestenproteste blickt. Im Fokus steht dabei auch deren politische Rückkopplung sowie die Frage nach einem linken Populismus. Mittlerweile wurde auf einige Forderungen der Gelbwesten politisch eingegangen, Macron lud zu Gesprächen ein und reagierte – daran zeigt sich, dass ebensolche Be­wegungen Erfolg haben können. Einen Blick nach rechts wirft hingegen der Beitrag von Mobit, welcher die Strategie der Neuen Rechten zur Erlangung kultureller Hegemonie exemplarisch anhand der Initiative »Ein Prozent« illus­triert. Keine politische Ausrichtung, kein politisches Lager oder Thema kann Proteste und Bewegungen für sich beanspruchen – sind sie doch allerorten zu finden. Eines ist jedoch klar erkenntlich: Die Bewegungen und Proteste stellen die etablierten Parteien auf vielen Ebenen vor Herausforderungen. Was dies zum einen für Parteien und zum anderen für die Demokratie bedeutet, zeigt Uwe Jun in seinem Beitrag. Darin werden sowohl die Verbindungslinien als auch die Konkurrenz zwischen Bewegungen und Parteien ersichtlich. Denn letztlich stehen sich diese in einem Wettbewerb gegenüber.

Die Bandbreite der Beiträge dieser Indes-Ausgabe zeigt vor allem eines: Die hier thematisierte »Apo 4.0« ist vielfältig, von verschiedensten Motiven, Strategien und Persönlichkeiten geprägt. Sie beeinflusst die Politik sowohl in ihrer Agenda als auch in ihrer Handlungsstrategie. Dass dieses Verhältnis von Spannungen geprägt ist oder sein kann, scheint beinahe unumgänglich. Wir wünschen viel Freude und manch neue Perspektive bei der Lektüre.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019