Die Kreation neuer Kritikforen Der praktische Kern digitaler Protestkulturen

Von Mundo Yang

Protestieren mithilfe digitaler Medien ist mittlerweile Normalität. Jonah Perretti verbreitet 2004 via E-Mail, dass Nike ihm kein personalisiertes Paar Turnschuhe mit der entlarvenden Aufschrift »sweat shop« habe liefern wollen. Ein guatemaltekischer Rechtsanwalt prophezeit in einem Video, das sich auf Facebook verbreitet, seine eigene Ermordung von Staats wegen, was nach seinem Tod eine landesweite Welle des Protests auslöst. Auf Twitter wird zum Boykott einer Fast-Food-Kette aufgerufen, weil deren Chef sich abfällig über die gleichgeschlechtliche Ehe äußert. Online-Videos, die bspw. über YouTube Verbreitung finden, rufen zum Protest auf oder stellen ihn dar. Nicht nur die Aktivitäten um das Online-Video »Die Zerstörung der CDU« von Rezo, sondern auch zahlreiche Beispiele aus der Kampagnenarbeit von Organisationen wie Peta oder Greenpeace belegen das. Etwa 37 Prozent der Bundesbürger*innen haben im vergangenen Jahr eine Online-Petition unterschrieben[1] und regelmäßig wird aus dem Internet heraus auch zu Straßenprotesten zum Beispiel gegen Uploadfilter aufgerufen.

Was diese so unterschiedlichen Protestphänomene eigentlich gemeinsam haben und inwiefern sich von einer digitalen Protestkultur sprechen lässt, darüber sollen im Folgenden Überlegungen angestellt werden. Diese laufen jedoch nicht auf die, letztlich unmögliche, Beschreibung einer einheitlichen Netzgemeinde oder Netzöffentlichkeit hinaus. Vielmehr ist das Argument, dass sich trotz der enormen politischen, sozialen und kulturellen Unterschiede im Netz so etwas wie eine wiederkehrende Art und Weise der praktischen Ausführung von digitalisiertem Protest feststellen lässt und dass dieser praktische Kern sich dabei von früheren Protestkulturen in einigen Punkten unterscheidet. Wenn im Folgenden von Kultur die Rede ist, dann im Sinne einer Regelmäßigkeit der sinngebenden und von bestimmten Emotionen angetriebenen Praktiken. Im Unterschied zu gängigen Verständnissen sozialen Handelns, als situatives und intentionales Verhalten, sind Praktiken dabei[2] als relativ stabile Muster des Tuns und Sprechens aufzufassen und bezeichnen im Netz stabile Handlungsmuster wie zum Beispiel Klicken, Posten, Wischen, Weiterleiten, Kommentieren oder Uploaden. […]

Anmerkungen

1 Vgl. Sigrid Baringhorst u. a., Webzentrierte Hybridkampagnen – Ausdruck postdemokratischer Protestpartizipation?, in: Leviathan, Jg. 45 (2017), H. 33, S. 171–197.

2 Vgl. Andreas Reckwitz, Toward a Theory of Social Practices: A Development in Culturalist Theorizing, in: European Journal of Social Theory, Jg. 5 (2002), H. 2, S. 243–263.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019