Editorial

Von Danny Michelsen  /  Katharina Rahlf

Akademische Schulen im Sinne von Lehr- und Lerngemeinschaften, die sich um eine dominante Gründerpersönlichkeit gruppieren und ein von ihr ge­prägtes Forschungsparadigma über mehrere Generationen hinweg tradieren, kennen wir im Prinzip schon seit der griechischen Antike: Das Konkurrenz­verhältnis zwischen der Schule des Isokrates und der Akademie Platons stellt ein besonders bekanntes Beispiel aus der frühen Wissenschaftsgeschichte dar. Im 19. und 20. Jahrhundert haben die Geistes- und Sozialwissenschaften eine Vielzahl bedeutender Schulen hervorgebracht, wobei die meisten ihren Namen dem Ort der jeweiligen Universität verdanken, an der sie entstanden und ihre Blütezeit erlebten. Man denke nur an die stilbildenden Denkschu­len der deutschen Nachkriegspolitologie, von denen allerdings jede ebenso untrennbar mit dem Namen ihres Gründers und Hauptvertreters verbun­den ist. Ob nun die Freiburger (Bergstraesser), Marburger (Abendroth), die Heidelberger (Sternberger) oder auch die um Ferdinand Hermens zentrierte Kölner Schule, die Ellen Thümmler in ihrem Heftbeitrag porträtiert – sie alle repräsentieren vollkommen unterschiedliche Forschungsansätze, die seiner­zeit zusammen das ganze theoretische Spektrum der Politikwissenschaft ab­deckten, mit der Folge, dass in der Gesamtschau eine überaus pluralistische Forschungslandschaft entstand.

Dagegen scheint es innerhalb von Schulen wenig pluralistisch zuzugehen. Dabei handelt es sich offenkundig um ein notwendiges Gebot: Denn Schu­len müssen einen „Mindestgrad an kognitiver Kohärenz“ (Hubertus Buch­stein) aufweisen, um das eigene Forschungsprogramm, die eigene Methode oder auch nur den eigenen Stil gegen Angriffe von außen zu festigen. Natür­lich besteht hier ständig die Gefahr, dass Schulen allzu homogene Identitä­ten entwickeln, um sich gegen unmittelbare Kritik zu immunisieren. In der Folge droht das Abrutschen in die Isolation, in das Sektendasein. Sind die meisten Schulen vielleicht gar „keine Forschungszusammenhänge, sondern konsolidierte Dogmatiken der Interpretation“ (Rudolf Stichweh), die nur so­lange überleben, wie es ihren Gründern gelingt, Gläubige zu rekrutieren, die bereit sind, an der Lehre des Meisters unkritisch festzuhalten? Und: Ist der Begriff „Schule“ überhaupt (noch) brauchbar? Diese Frage stellt sich umso mehr in Bezug auf die Gegenwart, auf jene rasenden kommunikativen und infrastrukturellen Veränderungen, mit denen sich der Wissenschaftsbetrieb konfrontiert sieht: Was bedeuten die allgegenwärtigen Gebote, globales „net­working“ zu betreiben und „interdisziplinär“ zu arbeiten, für die Herausbil­dung lokaler Wissenskulturen? Uns interessiert zudem die Frage nach den für eine Schulenbildung günstigen Rahmenbedingungen, den besonderen Persönlichkeitsprofilen, die die Gründer erfolgreicher Schulen auszeichnen, und der typischen internen Organisationsstruktur solcher Schulen, denen wohl nicht ganz zu Unrecht häufig eine elitäre Aura unterstellt wird.

Dies sind einige der Leitfragen, die uns zur Konzeption des vorliegenden Titelhefts angeregt haben und die insbesondere den Beiträgen im ersten Teil unseres Themenschwerpunktes zugrunde liegen. Erste Antworten liefert Ralf Klausnitzers wissenschafts- und begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der „wissenschaftlichen Schule“. Mit seinem Rückgriff auf eine Vielzahl historischer Beispiele gelingt es Klausnitzer, allgemeine Aus­sagen über Kernmerkmale von Schulen und über die Voraussetzungen ihrer Entstehung zu treffen. Der hierauf aufbauenden Frage, welche spezifischen Funktionen Schulen innerhalb der scientific community traditionell erfüllen und in Zukunft erfüllen könnten, widmet sich Jan-Hendrik König im Zuge seiner „wissenssoziologischen Suchbewegungen“. Allerdings kann man auch ganz grundsätzlich fragen, ob es sich aus theoriegeschichtlicher Perspektive überhaupt lohnt, auf Schulen zu fokussieren. In ihrem Beitrag über Denkschu­len in der US-amerikanischen Politikwissenschaft vertritt Emily Hauptmann die provozierende These, dass die Bedeutung von Schulen in den Systemen der universitären Wissensproduktion äußerst gering sei.

Für Nachwuchswissenschaftler war und ist die Aufnahme in einen Schul­zusammenhang stets mit einer Vielzahl von Privilegien verbunden. Immer­hin vermittelt die Integration in einen Schul-Komplex ein Gefühl der Zuge­hörigkeit, des Schutzes und der Ordnung in einer zunehmend kompetitiven Wissenschaftslandschaft. Doch meist erwarten die Lehrer von ihren Schülern im Gegenzug uneingeschränkte Loyalität; die oft patriarchalischen Lehrer/ Schüler-Beziehungen können auf die Kreativität des Nachwuchses enorm ein­engend wirken, was dann zur Folge hat, dass innovative Weiterentwicklungen des jeweiligen Schul-Paradigmas ausbleiben. Diese Ambivalenzen beschreibt Stefan Haas, der in seinem Beitrag die Entwicklung geschichtswissenschaftli­cher Schulen im Zusammenhang mit der Veränderung der Medienlandschaft nachzeichnet und fragt, inwieweit moderne interaktive Kommunikations­technologien Möglichkeiten bieten, neue Formen von wissenschaftlichem community building jenseits der alten Schul-Strukturen mit ihren persönli­chen Treue- und Dienstverhältnissen zu schaffen.

Im zweiten Abschnitt unseres Schwerpunktteils finden sich Analysen zu einzelnen Schulen, von denen einige über die Grenzen ihrer Fachbereiche hinaus berühmt geworden sind – und manchmal auch berüchtigt, wie im Falle der von Danny Michelsen betrachteten US-amerikanischen Straussians, die als eine besonders elitär-verschlossene Denkschule galten und eine bis heute überaus umstrittene Tradition der ideengeschichtlichen Forschung be­gründet haben. Eine andere Schule der politischen Ideengeschichte, die Cam­bridge School, deren kontextualistische Methodologie im Gegensatz dazu in den vergangenen vierzig Jahren einen beispiellosen Aufstieg in die Mitte des Fachs erlebt hat, wird von Martin Baesler porträtiert.

Dass eine enge Bindung an einen akademischen Lehrer und Schul-Gründer keineswegs immer mit einem rigiden Zwang zur Anpassung an eine einheit­liche Lehre oder gar an die politischen Ansichten des Meisters einhergehen muss, zeigt Christoph Nonn in seinem Aufsatz über den streitbaren Histori­ker Theodor Schieder. Unter dessen talentiertesten Schülern befand sich u. a. Hans-Ulrich Wehler, der in den 1970er Jahren zusammen mit Jürgen Kocka die Bielefelder Schule der „Historischen Sozialwissenschaft“ begründen sollte. Einen sehr persönlichen Einblick in den Entstehungs- und Tradierungspro­zess dieser Schule gewährt unser Interview mit Professor Kocka, das wir mit ihm knapp eine Woche nach dem plötzlichen Tod seines Freundes und Kol­legen Wehler führen durften.

Eine INDES-Ausgabe zu wissenschaftlichen Schulen kann jedoch schlech­terdings nicht auskommen ohne einen Beitrag über die ohne Zweifel promi­nenteste sozialwissenschaftliche Schulenbildung im Deutschland der Nach­kriegszeit: allerdings argumentieren Hannes Keune und Julian Schenke in ihrem Beitrag über die „Frankfurter“ gerade gegen deren Einordnung in das Schulen-Konzept, da sie hierin eine „Akademisierung“ am Werk sehen, die ihrer Meinung nach die Kritische Theorie ihres Wesenskerns – nämlich: ihres „außerakademischen Impulses“ – beraubt. Politisch ähnlich relevant wie die Frankfurter Schule war die wohl bekannteste wirtschaftswissenschaftliche Schule der deutschen Nachkriegszeit, die Freiburger Schule mit ihren Haupt­protagonisten Walter Eucken und Alfred Müller-Armack, deren ordoliberales Programm bis heute einen starken Einfluss auf die deutsche und europäische Krisenpolitik hat – so jedenfalls die These von Ralf Ptak, der die Freibur­ger Schule (mit bewusster Zweideutigkeit) eine „deutsche Legende“ nennt.

Im „Perspektiven“-Teil geht es diesmal inhaltlich wieder sehr vielfältig zu: Franz Walter erinnert an den Tod von Philipp Scheidemann und Otto Wels im Exil vor 75 Jahren und zeichnet anhand dieser beiden Protagonisten Aufstieg und Scheitern der sozialdemokratischen Generation aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nach. Wilfried von Bredow wirft einen Blick auf die Deutungskämpfe, die die Selbststilisierung und Rezeption Carl Schmitts als intellektuellem Außenseiter in der Nachkriegszeit begleitet haben. Ab­schließend plädiert Samuel Salzborn – in einem weiteren Beitrag der Rubrik „Konzept“ – für eine neue Perspektive auf die festgefahrene duale Unter­scheidung von qualitativen und quantitativen Methoden der Sozialforschung.

Seite ausdrucken Download als PDF

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2014 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014