Dünnes Eis? Ach was! Vier Thesen in Verteidigung des Puritanismus

Von Andrea Roedig

Das Jahr 2018 war das Jahr des »Puritanismus«. Eine kursorische Recherche in der Datenbank Genios für deutschsprachige Printmedien ergibt, dass der eigentlich unmoderne Begriff mit 474 Zitationen fast doppelt so häufig vorkam wie 2017. Dass das Adjektiv »puritanisch« 2017 etwas höher rangierte, lag an einem Massaker an Gläubigen in einer Moschee in Rawda (Ägypten), ausgeführt im Namen des »puritanisch-salafistischen« Islam, über das alle Zeitungen berichteten. Der 2018er Peak bei »Puritanismus« aber geht auf das Konto Catherine Deneuves, die zu Beginn des Jahres prominent den offenen Brief einiger Französinnen gegen #Metoo unterzeichnet hatte. »Genau das ist das Wesen des Puritanismus: Im Namen eines vermeintlichen Allgemeinwohls Argumente für den Schutz der Frauen […] suchen, nur um sie besser anketten zu können […]. Wie in den guten alten Tagen der Hexerei«, hieß es in dem Text, mit dem die Damen ihrer Besorgnis um die Freiheit des heterosexuellen Flirts Ausdruck verliehen.

Obwohl Deneuve sich später für den Brief entschuldigte, sprangen andere KollegInnen und zahlreiche Medien auf jenen Zug auf, der schon lange vor 2018 seinen Bahnhof verlassen hatte: »Die Puritaner sind unter uns« (Welt, 5.2.2018) titelten also die Zeitungen, »Haneke kritisiert ›Hexenjagd‹« (afp, 10.2.2018), »Von Trotta warnt vor Puritanismus« (Münchner Abendzeitung, 28.6.2018), »Die neuen Puritaner« (Tages-Anzeiger, 16.8.2018), »Leben wir schon wieder im 19. Jahrhundert?« (taz, 28.9.2018), »Ingrid Caven fürchtet, dass ein neuer Puritanismus droht« (Spiegel Online, 15.11.2018) und so weiter und so fort. Andere, viel seltenere Verwendungsweisen des Wortes waren überdies »puritanisches Design« oder der »Abgas-Puritanismus unserer Zeit« (Auto-Bild, 2.3.2018).

Es wäre vermessen, zu behaupten, eine zufällige Genios-Abfrage belegte einen Trend zur Rede über neuen Puritanismus.[1] Aber man stößt doch in den letzten Jahren auffällig oft auf die Bezeichnung »puritanisch« bzw. »Puritanismus«, vor allem im Kontext der Auseinandersetzungen um Political Correctness (PC). Dort ist gerne vom »Terror der Tugend« die Rede oder vom »Kulturpuritanismus«, von »Calvinistischem Chor« oder dem »alten Gift Calvins«. Soweit ich sehe, gibt es im westeuropäischen Kulturkreis keine positive Bedeutung
von »puritanisch«, weshalb sich dieses Wort – eng verschweißt mit den Assoziationen »lustfeindlich«, »rigide«, »humorlos«, »verklemmt« – perfekt für Polemik eignet, was die Anti-PC-Fraktion ausgiebig nutzt.

In dieser polemischen Verwendung steckt aber auch etwas Diagnostisches. Vergleicht man unsere heutige mit der Welt der 1970er Jahre, scheint ja tatsächlich nicht nur im Hinblick aufs Sexuelle vieles geregelter, sauberer und gefühlt »puritanischer« zu werden: Wir tragen sogar den Hundekot fein säuberlich in Tütchen fort – eine Absurdität eigentlich –, und dass neben schriftlichen Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen auch Bilder mit Krebsgeschwüren zu sehen sind, mag manchem Tabakfreund wie der perverse Gipfel eines puritanischen Bildersturms erscheinen.

Puritanisch sein möchte niemand. Aber was fürchten wir so daran? Im Folgenden werde ich versuchen, die gängige negative Intuition gegen den Strich zu bürsten, ohne jedoch den diagnostischen Aspekt außer Acht zu lassen. Es ist klar: »Puritanismus« nervt. Vielleicht lässt sich ihm aber doch etwas abgewinnen? Das klingt nach glattem Eis. Versuchen wir es trotzdem und auf dem Weg werden wir neuzeitliche Puritaner treffen, die Sex nicht schlecht finden; moderne Anti-PCler, die vielleicht Recht haben, aber nicht so, wie sie glauben; coole Jungs in der Raucherecke; ausschweifend-asketische Rebellen und einen historischen Gegensatz von feudal und bürgerlich, der vermutlich immer noch gegenwärtige Debatten strukturiert. […]

Anmerkungen

[1] Wenn man mit dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) vertraut ist, hat der Begriff Puritanismus seinen Zenit längst überschritten. Er liegt für die deutschsprachige Verwendung eigentümlicherweise zwischen 1880 und 1980; siehe die historische Verlaufskurve der Verwendungshäufigkeit der Begriffe puritanisch/Puritanismus auf dwds.de, URL: https://www.dwds.de/r/plot?view=1&corpus=public&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=10&prune=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1600 %3A2017&q1=Puritanismus [eingesehen am 07.03.2019].

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019