Spanische Erinnerungskulturen im Widerstreit Über das Ringen von Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit und politischer Lagerbildung
Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert sah sich Spanien mit einer sensationellen Bewegung konfrontiert. In den Regierungsjahren des konservativen Ministerpräsidenten José María Aznar (1996–2004) kam es nämlich zum ersten Mal seit Francos Tod (1975) in breiten Bevölkerungskreisen zu einer ernsthaften und weitverbreiteten Reflexion und Diskussion über den Bürgerkrieg, das franquistische Unrechtsregime und den Übergang von der Diktatur zur Demokratie – mit all seinen Licht- und Schattenseiten.[1] Plötzlich setzte eine Art Vergangenheitsaufarbeitung ein, die im Spanischen memoria histórica genannt wird. Bis dahin war in der Historiografie und im politischen Diskurs die Transition zumeist als großer Erfolg dargestellt worden. Für die neue spanische Demokratie war die Transition nämlich der Gründungsmythos schlechthin, der neuer Symbole bedurfte: des Bildes der nationalen Versöhnung, der volkstümlichen Monarchie, der Verfassung für alle politischen Lager, des friedlichen Zusammenlebens nach jahrhundertelanger Konfrontation.
Da diese Bilder der Legitimierung der neuen demokratischen Staats- und Regierungsform dienten, war die Zeitgeschichtsschreibung zum Übergang vom autoritären System des Franquismus in die parlamentarische Demokratie überwiegend positiv und lediglich vereinzelt von kritischen Stimmen gebrochen worden, die auch nach dem »Preis« der Transition fragten. Ein zentraler Aspekt der Argumentation der frühen Kritiker war der Verweis auf das Verdrängen der »historischen Erinnerung«. Der hochgelobte gesellschaftliche »Konsens« der Übergangszeit sei mit einem Verschweigen der Vergangenheit (amnesia colectiva), einer Tabuisierung der franquistischen Verbrechen, erkauft worden. In der Tat war es in Spanien weder zu einer juristischen Aufarbeitung der Diktatur noch zu einer breiten gesellschaftlichen oder politischen Diskussion über Verantwortlichkeiten in der Diktatur gekommen. An vielen Orten überlebte auch das franquistische Symbolsystem, was die Spanier viele Jahre lang daran erinnerte, dass die politische Reform aus einem Pakt hervorging, der innerhalb der autoritären Institutionen ausgearbeitet worden war und schließlich zum Übergang in die Demokratie geführt hatte.[2] Diesem Übergangscharakter entsprechend gingen die Streitkräfte, der juristische Apparat, die Bürokratie sowie alle anderen staatlichen Instanzen ohne jegliche Art von Säuberung von der Diktatur in den Postfranquismus über.[3] […]
Anmerkungen
[1] Vgl. Gregorio Marañón, El precio de la transición, Barcelona 1991.
[2] Vgl. Ramón Cotarelo (Hg.), Transición política y consolidación democrática. España (1975–1986), Madrid 1992.
[2] Vgl. Teresa M. Vilarós, El mono del desencanto, Madrid 1998.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019