Editorial

Von Marika Przybilla-Voß  /  Matthias Micus

Meldungen über Kriege und Konflikte sind in den Tagesnachrichten allgegen­wärtig – Handelskonflikte, Bürgerkriege, Stellvertreterkriege. Abrüstungs­abkommen werden gebrochen, Atomverträge gekündigt und die weltweiten Verteidigungsausgaben steigen immer weiter, auch wenn Deutschland ab­sehbar weit unter dem von den NATO-Mitgliedern vereinbarten Ziel bleiben wird, den Militäretat bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufzustocken.

Die Thematik von Krieg und Konflikt ist mithin omnipräsent – und den­noch: Die Antworten auf die Frage, was ein Krieg oder ein Konflikt denn nun sei, bleiben diffus. Bereits im 19. Jahrhundert widmete sich Carl von Clausewitz ebenjener Frage und stellte seither vielzitierte Prinzipien auf – etwa, dass Krieg die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln sei –, welche die Wahrnehmung von Kriegen und Konflikten zumindest in der westlichen He­misphäre bis heute prägen.

Zu Zeiten des preußischen Generals zeigte sich zwar schon die Wandel­barkeit des Krieges, schon damals wurde er als ein »Chamäleon« beschrieben, dessen Gestalt entsprechend der jeweiligen Kontextbedingungen vielfarbig schillere, doch scheint sich ebenjene Wandelbarkeit im 21. Jahrhundert in Tempo und Ausmaß potenziert zu haben. Selten nur passt noch das über­kommene dualistische Verständnis einer klaren Trennung zwischen Front und Hinterland, Zivilisten und Soldaten, Sieg und Niederlage zu aktuellen Kriegen und Konflikten, welche sich vielmehr gerade durch Entgrenzung und Unberechenbarkeit auszeichnen.

Selten ist der Angreifende klar zu benennen, die Motivation hinter einem Angriff bleibt vielfach unklar und eine (territoriale) Grenzziehung unmög­lich. Eine Konstante von Kriegen und Konflikten ist jedoch geblieben: Sie fin­den nicht isoliert statt, sind sowohl an die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontexte als auch an spezifische Bedingungen gekoppelt – und sie fordern Opfer. Ihre Auswirkungen sind stets innerhalb der Gesellschaft zu spüren und sie greifen in den Alltag der Zivilbevölkerung ein, verändern ihn und stellen die Betroffenen vor neue Herausforderungen.

Welche Herausforderungen die neuen Formen der Kriegsführung nicht nur auf begrifflicher, definitorischer Ebene mit sich bringen, erläutert Felix Was­sermann im Interview in der vorliegenden Ausgabe der Indes. Die Frage nach Reaktionsmöglichkeiten sowie Deutungsmustern aktueller Kriege und Kon­flikte ergänzt den einführenden Blick auf den Schwerpunkt dieser Ausgabe.

Die Philosophin Nadia Mazouz thematisiert die Herausforderungen neuer Kriegspraktiken und legt die Debatten innerhalb der Moralphilosophie dar. Dabei liegt ihr Augenmerk auf den Theorien eines gerechten Krieges, die sie kritisch reflektiert und diskutiert. Was bedeutet das Attribut »gerecht« in Ver­bindung mit Krieg? Welche Rolle spielt hier die Moral? Besonders Letzteres ist gegenwärtig relevant, stehen doch sicher geglaubte Regeln von Kriegen und Konflikten – etwa der Verzicht auf chemische Waffen, der Schutz der Zivilbevölkerung und die Vermeidung von Angriffen auf humanitäre oder zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen – in Anbetracht aktu­eller Geschehnisse mehr denn je zur Disposition.

Nun liegt die Annahme recht nahe, dass spätestens seit 2001 ein neues Zeitalter angebrochen sei, mit Kriegsformen, -praktiken und -strategien, die Grenzziehungen mit Blick auf das Kriegsgebiet und Kriegshandlungen diffus werden lassen und zumindest in Europa und der westlichen Welt seit dem Zeitalter der Aufklärung unbekannt waren. Dass diese Art der Kriegsführung jedoch auch in Europa oder jedenfalls bei den europäischen Kriegsparteien diesseits aller Beschwörungen von Menschenrechten und der Unantastbar­keit menschlicher Würde durchaus bekannt blieb, zeigt ein Blick auf die imperiale und koloniale Vergangenheit des Kontinents. Wie dessen Staaten außerhalb der eigenen Grenzen Krieg führten, zeigt der Beitrag von Dieter Langewiesche eindrücklich.

Dass Frieden und Sicherheit bloß ein vorläufiger und somit durchaus wa­ckeliger Zustand sein können, ist angesichts dessen beinahe zu einem Ge­meinplatz geworden. Wie solch eine stetige Bedrohung die eigene Wahrneh­mung einer Gesellschaft beeinflusst, die Rolle und das Ansehen der Armee formt, thematisiert Moshe Zuckermann in seinem Beitrag.

Ein Blick auf das derzeitige Europa und die Europäische Union macht da­rüber hinaus deutlich, dass das Ausscheiden Großbritanniens nicht nur zu lähmenden Konflikten in der Union, zwischen der EU und Großbritannien sowie innerhalb des britischen Parlaments führt, sondern auch die Zerris­senheit der britischen Bevölkerung vertieft. So droht der Nordirlandkonflikt aktuell neu aufzuflammen – die jüngsten Bilder und Geschehnisse lassen frisch verheilte Narben der Bevölkerung in der Region wieder aufbrechen und den Glauben an Frieden bröckeln. Thomas Noetzel ermöglicht mit sei­nem Artikel einen Einblick in dieses Konfliktfeld.

Als roter Faden scheint sich schließlich jene bereits aufgeworfene Konstante durch die vorliegende Ausgabe zu ziehen: Kriege und Konflikte geschehen niemals isoliert. Stets ist die Gesellschaft, die in welcher Form auch immer in den jeweiligen Krieg oder Konflikt eingebunden ist, betroffen und Verände­rungen unterworfen. Diese können sich auf das Verhalten, das Sicherheits­gefühl, die individuellen Freiheiten und Zukunftspläne eines jeden Individu­ums auswirken. Ebenso zeigen die unterschiedlichen Beiträge des aktuellen Schwerpunkts die Vielfalt der Thematik Krieg und Konflikt auf, die zumeist als Diffusität wahrgenommen wird und gleichermaßen Theorie und Praxis, Täter und Opfer, Sicherheit, Frieden und Angriffe umfasst.

Mit der vorliegenden Ausgabe der Indes versuchen wir, wie gewohnt einen möglichst reflektierten, disziplinübergreifenden und hoffentlich auf­schlussreichen Einblick in dieses changierende Themenfeld zu geben. Wir wünschen viel Freude und manch neue Perspektive bei der Lektüre.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019