»Operation mitten im Ballsaal« Die Pariser Friedenskonferenz 1919 als Krise der politischen Kommunikation
Im Januar 1919 schien Paris dem jungen britischen Diplomaten Harold Nicolson wie eine »noch vom Nervenschock befallene Hauptstadt«. Das Gewimmel an Menschen, das Nebeneinander von Erwartungen, Nachrichten und Gerüchten bedeuteten für ihn von Anfang an eine enorme physische und psychische Herausforderung. Paris, so schien es Nicolson, »verlor für die Dauer dieser paar Wochen seine Seele. Das Gehirn von Paris, dieses glorreiche Produkt westlicher Zivilisation, hörte auf zu funktionieren. Die Nerven von Paris schrillten misstönend durch die Luft.« Schon bald empfand er die Größe der Stadt, die Theater, Konzerte und Museen, den Verkehr und ein hoch nervöses Publikum als Hindernis für die notwendige Konzentration, die doch alle brauchten, um sich der Architektur des Friedens widmen zu können: »Wir kamen uns vor wie Chirurgen, die eine Operation mitten im Ballsaal vornehmen sollten, mit allen Tanten und Anverwandten des Patienten ringsherum.«[1]
Den Zeitgenossen war bewusst, wie schwer es werden würde, nach diesem totalisierten Krieg und seinen Millionen von Opfern einen Frieden zu schließen. Denn je mehr Opfer der Krieg gefordert hatte, desto weniger kam für die beteiligten Staaten ein Kompromissfrieden infrage, und desto mehr konzentrierten sie sich auf einen Sieg, der in seinen Bedingungen alle zurückliegenden Opfer rechtfertigen musste. Dieser Mechanismus setzte sich fort, bis eine Seite unter der anhaltenden Belastung zusammenbrechen sollte – aber bis in den Spätsommer 1918 blieb für die meisten offen, wer das am Ende sein würde. Anfang 1918 erkannte der französische Kriegspremier Georges Clemenceau, wie eng Sieg und Niederlage nebeneinanderliegen würden. In dieser Situation werde derjenige siegen, der für kurze Frist noch einmal alle moralischen Kräfte mobilisieren könne: »Der Sieger ist derjenige, der es schafft, eine viertel Stunde länger als der Gegner zu glauben, dass er nicht besiegt wurde.«[2]
Als der Krieg dann tatsächlich endete, offenbarte sich ab Januar 1919 wie unter einem Brennglas, worin sich der Friedensschluss nach diesem Weltkrieg von anderen neuzeitlichen Friedenskonferenzen in der Tradition von Münster und Osnabrück 1648 oder Wien 1814/15 unterscheiden würde. Das begann bereits mit der schieren Zahl von Teilnehmern, Agenden und Aufgaben. Ein Zentrum der Welt war Paris im Frühjahr und Sommer 1919 nicht allein wegen der geografischen Agenda, die von Samoa, Schantung und Ostafrika über Mossul, Albanien und Teschen bis nach Eupen-Malmedy und Danzig reichte. An der Konferenz nahmen mehr als zwei Dutzend offizielle Delegationen aus unabhängigen Staaten sowie den britischen Dominions Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika teil, dazu Abordnungen aus Indien und Ägypten ohne offiziellen Status. Insgesamt bildete die Konferenz mit etwa 10.000 Personen – Delegierte, Assistenten, Berater, Experten und Hunderte von Journalisten aus der ganzen Welt – einen eigenen Mikrokosmos. Allein am Gesamtplenum, das auf Vorschlag des amerikanischen Präsidenten den französischen Premierminister Georges Clemenceau zum Vorsitzenden wählte, und den 58 Ausschüssen nahmen bis zu eintausend Mitglieder teil. Hinzu kam – weit über den engeren Kreis der offiziellen Delegierten hinaus – eine internationale Öffentlichkeit, die 1919 in Paris etwa den späteren Ho Chi Minh, William Du Bois oder Aga Khan III. umfasste.[3] Aus dieser rein quantitativen Dimension entstand eine Dynamik, die etwas ganz anderes war als die souveräne Entscheidung souveräner Akteure, das Ergebnis einer geordneten Konferenz in der Tradition der klassischen Diplomatie. In Paris existierte eine globale Konferenzöffentlichkeit – ein Publikum aus offiziellen, halboffiziellen und nichtoffiziellen Teilnehmern, das die Erwartungen an die Konferenzergebnisse vervielfältigte und in die vielen Heimatgesellschaften zurück vermittelte, von denen wiederum die Reaktionen auf den Fortgang der Verhandlungen in Paris ankamen.[4] […]
Anmerkungen
[2] Georges Clemenceau, Rede vom 8. März 1918, zit. nach Michel Winock, Clemenceau, Paris 2007, S. 431; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 864.
[3] Vgl. Manfred Berg, Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt, München 2017, S. 163; Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 2011, S. 49–53; Margaret MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, Berlin 2015 [engl. 2001], S. 533.
[4] Vgl. Leonhard, Frieden, S. 655.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019