»Wir müssen über hybriden Frieden nachdenken« Ein Gespräch mit Felix Wassermann über asymmetrische Kriegführung, Herausforderungen für die Wissenschaft und imperiale Mächte

Interview mit Felix Wassermann

Eine Reaktion auf die sich verändernde Kriegführung seit den 1990er Jahren besteht in der Verwendung des Begriffs »hybrider Krieg«. Sie deuten diese Be­zeichnung als einen Ausdruck der Orientierungslosigkeit auf begrifflicher und politischer Ebene. Worin besteht die Orientierungslosigkeit und von welchen Akteuren geht sie aus?

Ich glaube, mit dem Jahr 2014 wurde die Semantik des Hybriden durch zwei Phänomene prominent. Erstens: Was in der Ostukraine und auf der Krim geschah, wurde weithin als ungewöhnlich wahrgenommen. Russland tat etwas Überraschendes. Die internationale Staatengemeinschaft wusste zunächst nicht, ob sie es mit einem inner-ukrainischen Konflikt oder einem zwischenstaatlichen Kriegszustand zu tun hatte. Die Nato war schlicht­weg überrumpelt: Ein Staat hatte aus den Vorgehensweisen nichtstaatlicher Akteure gelernt – nämlich wie man ohne Uniform, ohne Hierarchie, ohne Kriegserklärung, sondern verdeckt und dezentral und somit eigentlich par­tisanenartig operiert.

Zweitens erschien, am anderen Ende der Skala zwischen Staatlichkeit und Nichtstaatlichkeit, der sogenannte Islamische Staat auf der Bildfläche. Zwar ist diese Terrorgruppe jetzt territorial wieder zurückgedrängt, doch hatte sie zeitweise zwischen Syrien und Irak quasistaatliche Strukturen aufgebaut und war somit in Richtung der hybriden Mitte gewandert. In diesen Bereich be­wegte sie sich genau wie Russland hinein, aber aus der umgekehrten Rich­tung kommend, von der Nichtstaatlichkeit her.

Diese beiden gegenläufigen, in der hybriden Mitte zusammentreffenden Entwicklungen sind verwirrend, weil wir bestimmte Dinge aus dem Blick verloren haben. Wenn wir an Krieg denken, sind wir es gewohnt, an Unifor­men zu denken, an Schlachten, an Kriegsdenkmäler und an Friedensschlüsse. Diese Bilder und Begriffe in unseren Köpfen haben uns allerdings verges­sen lassen, dass Krieg auch ganz anders ablaufen kann. Die Orientierungs­losigkeit ist also nicht unbedingt eine Folge der völligen historischen Neuheit der Phänomene, sondern sie resultiert aus unserer Überforderung mit dem gemischten, zwitterhaften, eben hybriden Charakter des jüngeren Konflikt­geschehens. Denn der hybride Krieg unterläuft die klassischen Unterschei­dungen aus dem Zeitalter der Staatenkriege, an die wir uns gewöhnt haben: die Unterscheidungen zwischen Krieg und Frieden, Staatenkrieg und Bür­gerkrieg, Außenpolitik und Innenpolitik, Militär und Polizei. Gerade das Verwischen dieser Unterscheidungen führt zur Orientierungslosigkeit, und eben das zeigt die Semantik des Hybriden an: dass unsere alten Begriffe, wie Staatenkrieg und Frieden, nicht mehr taugen. Deswegen ist es produk­tiv, darüber zu sprechen, wo die Grenzen des alten Vokabulars liegen, und im nächsten Schritt zu schauen, was genau das Hybride ausmacht und wie man damit strategisch und politisch umgehen kann.

Warum braucht es, anstatt an den jeweiligen Kontext der Phänomene anzuknüp­fen, einen definierten Begriff des Krieges? Was ist bei einer begrifflichen Unklar­heit zu befürchten?

Grundsätzlich ist es die Aufgabe der Geisteswissenschaft, die Dinge auf den Begriff zu bringen, sie zu verstehen und zu ordnen. Die politische Ideen­geschichte von Krieg und Frieden hat in diesem Sinne Begrifflichkeiten an­zubieten, die zur Beschreibung politischer Gewalt genutzt oder auch hierfür adaptiert werden können. Die empirische Kriegs- und Konfliktforschung kann natürlich auch differenzierter herangehen und eine Vielzahl von Kontextvariablen einbeziehen. Sie kann bspw. untersuchen, ob die Wahrscheinlich­keit gewaltsamer Konfliktaustragungen mit dem Ausmaß von Armut steigt und inwiefern Gewaltkonflikte in Gebieten häufiger sind, in denen es Ge­birge gibt. Aber ohne einen theoretisch geschärften Kriegsbegriff bleibt leicht unklar, was daran eigentlich das Kriegerische ist – man könnte ja ansons­ten auch von Kriminalität sprechen. Neben begrifflichen Ordnungsaspekten kommen hier politische Aspekte hinzu. Denn für die Sicherheitspolitik stellt sich irgendwann die Frage, wie man reagiert, also ob man kriegerisch ant­wortet oder nicht. Wir sind es wie gesagt gewohnt, binär zu denken: entwe­der Frieden oder Krieg, entweder Polizei oder Militär. Die politische Theorie von Krieg und Frieden kann mit ihren Begriffsangeboten zur Klärung solcher Urteile beitragen – gerade auch in Situationen, in denen die Lage unklar ist, weil etwa vordergründig ganz zivile Dinge passieren, Massendemonstratio­nen stattfinden, Stromnetze zusammenbrechen und Einflussnahmen allenfalls zu vermuten sind. Auf der Krim ist fast kein Schuss gefallen, während in den Auseinandersetzungen der Ostukraine bis heute Menschen sterben – teilweise unter Ausschluss der europäischen Öffentlichkeit. Bisherige Parameter und Begrifflichkeiten laufen hier leicht ins Leere. Deswegen finde ich es wichtig, zu überlegen, wie man das begrifflich fasst – und wie man dann damit um­geht, falls man zu dem Schluss gelangt, das lasse sich begrifflich eigentlich nicht mehr fassen.

Wie begründen Sie, gerade wenn es um begriffliche Klarheit geht, dass etwa im Kontext Afghanistan in den 2000er Jahren der Kriegsbegriff zu vermeiden ver­sucht und stattdessen von bewaffneten Konflikten gesprochen wurde?

In der politischen Sprache kann es Gründe dafür geben, etwas nicht Krieg zu nennen. Im Fall Afghanistans sorgte wohl die Überzeugung dafür, es ver­ringere die gesellschaftliche Unterstützung für den Einsatz, wenn dieser als Kriegseinsatz bezeichnet würde. Ein anderer Grund, den Kriegsbegriff zu meiden, ist, dass diese Bezeichnung immer schon eine bestimmte Antwort nahelegt. Wenn etwa ein terroristischer Anschlag als Krieg bezeichnet wird, dann liegt eine militärische Reaktion nahe. Es gibt aber gute Gründe, Ter­rorismus nicht als Krieg zu behandeln, etwa weil eine militärische Reaktion Terrorgruppen auch stärken kann. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wiederum hat man durchaus auch etwas zu verlieren, wenn man auf den Kriegsbegriff verzichtet, nämlich das ganze analytische Instrumentarium, das uns die Kriegstheorie seit Carl von Clausewitz, eigentlich schon seit Thuky­dides oder Sunzi bietet. Insofern empfiehlt es sich, zwischen politischem und wissenschaftlichem Sprachgebrauch zu unterscheiden, wenn man überlegt, warum jeweils von Krieg die Rede ist oder gerade nicht.

Herfried Münkler hat daran erinnert, dass auch die klare Unterscheidung von Krieg und Frieden eine (positive) Folge der Verstaatlichung des Krieges gewesen ist. Zuvor war es insbesondere an den Rändern der alten Großreiche ständig zu einer Diffusion von Kriegs- und Friedenszuständen gekommen. Erleben wir, zum Beispiel mit Blick auf die ukrainisch-russische Grenzregion, derzeit einen Rück­fall in solche vorstaatlichen, vormodernen Konstellationen?

Das lässt sich mit Begriffspaaren wie Symmetrie und Asymmetrie beschrei­ben. Das symmetrische Modell ist jenes nach dem Westfälischen Frieden 1648. Die Symmetrie äußert sich darin, dass sich die Gegner wechselseitig als Gleiche anerkennen, einander dasselbe Recht zur Kriegführung zuspre­chen und sich zudem auf dieselben Regeln im Kriege verpflichten – zumindest idealtypisch, denn diese Regeln wurden, vor allem in den Kolonialkriegen, aber nicht nur dort, immer wieder verletzt. Grundlage der Symmetrien war, dass es sich bei den Kontrahenten in Europa seit 1648 in der Regel um in­stitutionelle Flächenstaaten handelte. Diese sind ähnlich territorial verortet, füreinander sichtbar und deswegen auf gleiche Weise verwundbar. Hier­durch kommt eine spezifische symmetrische Rationalität ins Spiel – und so standen sich auf den europäischen Schlachtfeldern nicht nur ähnlich orga­nisierte Truppen gegenüber, die vergleichbar rekrutiert, equipiert und trai­niert waren, sondern die Staatenheere wendeten auch ähnliche Strategien an. All das ist nicht der Fall, wenn sich die Gegner nicht als im Prinzip Gleiche wahrnehmen und anerkennen, wenn also etwa die eine Seite untertaucht, nicht mehr auf der Landkarte sichtbar und territorial verortet ist, oder wenn die andere Seite imperial auftritt, sich für übermächtig oder in moralischer Hinsicht überlegen hält und daher ihre Gegner nicht als Gleiche anerkennt. Dann kommt entweder eine Partisanen-Guerilla-Logik oder eine imperiale Logik ins Spiel, also in beiden Fällen: Asymmetrie. Diese Logik der Asym­metrie beruht im Kern darauf, dass beide Seiten sich nicht mehr wechselsei­tig als Gleiche wahrnehmen und anerkennen, und sie führt dazu, dass sie auch nicht mehr dem gleichen Entwicklungspfad folgen.

Im symmetrischen Konflikt folgt die Entwicklung dem Prinzip der Nach­ahmung: Wenn Frankreich die Wehrpflicht einführt, holt Preußen das nach. Und wenn den einen eine Rüstungsinnovation gelingt, dann überlegen sich die anderen eine spiegelbildliche Verteidigungsmaßnahme oder Nachrüstung. Asymmetrie bedeutet demgegenüber, dass die Entwicklungspfade grundsätz­lich verschieden sind und in verschiedene Richtungen weisen. Wenn der eine auf Drohnen setzt, setzt der andere, weil er sie technologisch nicht erreichen kann, auf Selbstmordattentate. Sie sind technologisch billiger, aber setzen Heroismus voraus: Entschlossenheit bis zum Opfer. Diese Ressource wiede­rum ist in westlichen Gesellschaften vergleichsweise knapp. Hier gewinnt also – zusätzlich zu den organisatorischen, technologischen und strategischen Asymmetrien zwischen einer nichtstaatlichen Kämpfergruppe, einem Territo­rialstaat und einem Imperium – eine Asymmetrie der Entschlossenheit und des Heroismus an Bedeutung. Das Problem ist, dass sich heroische Akteure nicht leicht zur Beendigung der Kampfhandlungen oder gar zu Friedens­schlüssen bewegen lassen, nicht einmal durch schwere Niederlagen. Aber auch imperial auftretende Mächte sind schwerlich in Friedensarrangements einzubinden, wenn diese auf Reziprozität und Symmetrie beruhen. Eben des­wegen droht unter Bedingungen der Asymmetrie die Grenze zwischen Krieg und Frieden zu verwischen. Irgendein Akteur ist immer der Meinung, den Kampf weiterführen zu können und zu sollen. Ob das jetzt wiederkommt? In mancherlei Hinsicht scheint es sich tatsächlich um eine Wiederkehr zu handeln. Es erinnert etwa an den Dreißigjährigen Krieg, wo die symmetri­schen Grenzziehungen noch nicht so deutlich waren. Doch daneben lassen sich immer wieder auch Innovationen in diesem asymmetrischen Feld be­obachten, die keine direkten Vorläufer, ihrerseits aber Nachahmer haben – von der kreativen Umnutzung ziviler Infrastrukturen offener Gesellschaften durch Terrorgruppen bis zu Strategien drohnengestützter Überwachung und Tötung durch technologisch führende Mächte.

Sie schreiben, die entscheidende Herausforderung der westlichen Außen- und Verteidigungspolitik in den kommenden Jahren sei, »jene Symmetrie, die infolge der historischen Umbrüche und Asymmetrierungsschübe nach 1991 und nach dem 11. September 2001 unter- und verlorengegangen ist, durch ein neues ange­messenes Maß auf höherer Ebene wiederherzustellen, also eine neue ›Syn-Metrie‹ als ›Wohlgeordnetheit‹ im Verhältnis zwischen Symmetrie und Asymmetrie zu bestimmen und zu verwirklichen«. Was meinen Sie damit? Wie könnte eine sol­che »Syn-Metrie« aussehen?

Dem alten griechischen Wortsinn nach meint Symmetrie ja, zusammen­gesetzt aus syn und metron, eben dies: das richtige, angemessene Maß. Erst in der Neuzeit tritt demgegenüber die Bedeutung von Symmetrie als Spiegel­gleichheit in den Vordergrund. Wenn nun in den asymmetrischen Konstella­tionen unserer Zeit die Spiegelgleichheit zwischen den politisch-strategischen Akteuren verlorengeht, weil sich die Gegner nicht mehr als gleichartig wahr­nehmen und anerkennen, dann könnte es sich lohnen, darüber nachzuden­ken, wie eine zeitgemäße, angemessene und in diesem Sinne syn-metrische Ordnung zu beschreiben und umzusetzen wäre. Ich habe eine solche syn-metrische Ordnung als ein Neben- und Gegeneinander von Symmetrien und Asymmetrien zu umreißen versucht. Als Theoretiker nehme ich dabei das Privileg für mich in Anspruch, Fragen zu formulieren und Herausforderun­gen zu präzisieren. Wenn Praktiker – friedenspolitische Akteure oder auch die Bundeswehr – mich fragen, was das denn konkret heißt und was nun die operative Antwort ist, betone ich, dass das doch eigentlich ihre Aufgabe sein müsste: die Konkretion für die Praxis. Wenn die politische Theorie diese Aufgabe auch noch übernähme und versuchte, die Syn-Metrie und den Um­gang mit ihr exakt zu benennen, bekäme sie sicherlich sehr lukrative Bera­tungsaufträge entsprechender Institutionen. Der eigentümliche Beitrag der Theorie von Krieg und Frieden besteht aber darin, sicherheits- und friedens­politische Entwicklungen gedanklich zu durchdringen und begrifflich zu er­fassen. Mit dem Begriff der Syn-Metrie lassen sich nun jüngere Tendenzen im Zusammenspiel von Symmetrien und Asymmetrien auf den Punkt bringen, bspw. auf Ebene der Organisationsform: Wir haben das klassische staatliche Militär auf der einen und den fluiden, dezentralen, anpassungsfähigen Ak­teur auf der anderen Seite. Beide improvisieren immer stärker im Zwischen­feld. Armeen überlegen, wie sie kurzfristiger, schneller, dezentraler agieren können. Die Preußen entwickelten bereits das Führungsmodell der Auftrags­taktik, demzufolge ein Auftrag erteilt und dann dezentral umgesetzt wird. Hier gibt es also Vorläufer. Nichtstaatliche Kämpferverbände bauen heute ihrerseits territoriale, hierarchische Strukturen auf, ohne aber ganz auf die strategischen Vorteile ihrer fluiden Organisationsform verzichten zu wollen.

Dieses syn-metrische Experimentieren im Zwischenbereich betrifft zu­dem die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Akteuren und Aktionen. Die Terrorgruppe möchte im Untergrund bleiben, um sich nicht verwundbar zu machen, muss aber doch immer wieder sichtbar werden – sei es, um ihre Schreckensbotschaft zu verbreiten, sei es, um Anhänger zu mobilisieren, sei es, um spektakuläre Angriffe zu inszenieren. Umgekehrt wollen wir natür­lich sehen und demokratisch kontrollieren, was sicherheitspolitisch passiert; doch wird manches inzwischen notgedrungen in das parlamentarische Kon­trollgremium ausgelagert, da es in einem Graubereich abläuft. Es ist eine He­rausforderung für eine Gesellschaft, zu überlegen, ob sie aus strategischen Gründen bereit ist, diesen Weg in das hybride Zwischen- oder Mittelfeld zu gehen, oder ob sie bei der klassischen symmetrischen Aktionsweise bleibt – was allerdings auch seine Kosten hat. Wo könnte also das angemessene Maß, die Syn-Metrie liegen? Neben Organisationsform und Sichtbarkeit betrifft dies das Verhältnis von Kohärenz und Flexibilität. Wir wollen eine einheitliche, möglichst kohärente Außen- und Sicherheitspolitik. Dann ist oft die Rede von einem vernetzten Ansatz, dem alle Bereiche der Planung unterliegen. Vieles ist aber nicht planbar, gerade, wenn man annimmt, dass potenzielle Kontrahenten nicht immer nach den Spielregeln der Symmetrie spielen. Hier besteht die Herausforderung darin, das Unplanbare zu planen und rational mit unserem eigenen Nichtwissen umzugehen. Nur so lässt sich hoffen, dass man zugleich kohärent agiert und flexibel bleibt, wie es eine syn-metrische Herangehensweise verlangt.

Hannah Arendt ging davon aus, dass man sich nur als das wehren kann, als was man angegriffen wird. Wie können nun Demokratien auf diese Art der Kriegfüh­rung, die als Angriff auf die Demokratie verstanden werden kann, reagieren? Können und müssen sie ihren Zweck, die Demokratie zu schützen und zu erhal­ten, etwa mit undemokratischen und nicht-kalkulierbaren Mitteln durchsetzen?

Die eine Seite würde sagen, man kann nicht dauerhaft mit einem Arm auf den Rücken gebunden diesen Kampf führen. Wir müssen kriegsrecht­liche und normative Bindungen lösen, so etwa mit Blick auf den Einsatz von Spezialkräften, Drohnen und Überwachungssoftware. Das ist die rein strategische Sicht. Im Extremfall würde das bedeuten, unsere Bindungen völlig abzulegen. Dann gewinnen wir vielleicht einen Kampf, aber verlie­ren uns selbst und unsere demokratischen Grundwerte. Andere mahnen deswegen zum demonstrativen Festhalten an den Errungenschaften der demokratischen, offenen Gesellschaft. So wurde nach dem Breivik-Atten­tat die gelassene Reaktion der norwegischen Gesellschaft sehr gelobt. Zu sagen, wir machen weiter wie bisher, diese Beschwörungsformel, die wir nun auch nach dem Attentat von Christchurch in Neuseeland gehört ha­ben, ist grundsätzlich sicher wünschenswert. Man sollte aber realistisch einschätzen, was passieren kann, wenn es ein organisierter Gegner nicht bei einem Anschlag belässt. Hält eine Gesellschaft das auf Dauer aus? Oder drohen dann die Scharfmacher Gehör zu finden, die sämtliche Bindungen lösen wollen und alle liberaldemokratischen Errungenschaften für »mehr Sicherheit« opfern? Das sind natürlich Schreckensszenarien; und wenn man darüber nachdenkt, besteht immer die Gefahr, dass man sich in ein Risiko- und Präventionskalkül hineinsteigert, das stets vom schlimmsten Fall ausgeht. Aber eine realistische demokratische Sicherheitspolitik hat doch die normativen mit den strategischen Erfordernissen zu vermitteln und also auch in diesem Sinne syn-metrisch zu agieren. Das gelingt ihr, wenn sie vorbeugend und vorausschauend das demokratische Vertrauen in die Sicherheitsbehörden fördert, damit schwerwiegende Ereignisse nicht dazu führen, dass man Zuflucht bei denjenigen sucht, die Sicherheit durch radikale Maßnahmen, durch Einschränkung der bisherigen Regelungen versprechen. Im Moment des Anschlags muss eine Bevölkerung das Ver­trauen haben können, dass von den Sicherheitsbehörden alles getan wurde. So lässt sich am ehesten der Gefahr vorbeugen, dass wir uns als etwas weh­ren, das wir eigentlich nicht sind.

Sind nicht, seitdem der Krieg gegen den Terror geführt wird, schon viele ethische Maßstäbe perdu? Man denke nur an Guantanamo Bay, an die Errichtung von Lagern in Zwischenterritorien, die nicht dem US-amerikanischen Recht unter­stehen. Ist das Teil einer neuen Kriegführung, die notwendig ist, um den Krieg zu gewinnen?

Zumindest haben das die Verantwortlichen in den USA so gesehen. Sie haben ihre Gegner nicht als reguläre Kriegsgefangene behandelt, mit denen nach den Vorgaben des Humanitären Völkerrechts zu verfahren wäre. Statt­dessen haben sie die Zwischenkategorie des Unlawful Combatant verwen­det, um die »unrechtmäßigen« Gegner exterritorial unterzubringen. Der Un­lawful Combatant ist einerseits, wenn er denn ein Krieger ist, natürlich nicht ein solcher, der wie »reguläre« Krieger mit offenem Visier sichtbar antritt. Er möchte strategisch von der Unsichtbarkeit profitieren, aber andererseits im Fall der Gefangennahme doch so behandelt werden, als ob er mit offenem Visier symmetrisch gekämpft hätte. Das führt die Beteiligten und ihre Beob­achter in einen Kampf der Lawfare hinein, also in eine rechtliche Kriegfüh­rung um Kategorien, die auch den massenmedialen Raum erfassen kann. Die Errichtung solcher Camps widerspricht unserem Verständnis vom Umgang mit Kriegsgefangenen, und langfristig dürfte sie auch strategisch kontrapro­duktiv sein; aber sie war vermutlich eine Reaktion darauf, dass man sagte: Das sind zwar keine regulären Kombattanten, die wir nach den Regeln des Humanitären Völkerrechts behandeln wollen, aber andererseits auch nicht einfach Kriminelle, die wir mit unseren bisherigen juristischen und polizei­lichen Mitteln fassen können. Da wir sie für gefährlich halten, setzen wir sie als unrechtmäßige Kämpfer fest, auch wenn die Beweislage wohl nicht für eine Verurteilung reichen würde.

Ob diese Vorgehensweise notwendig ist, um den Krieg zu gewinnen, ist eine schwierige Frage. Denn das Gewinnen eines Krieges im Sinne eines Sieges ist eine Kategorie aus dem alten symmetrischen Krieg. Dort waren, wie gesagt, Krieg und Frieden klar unterschieden, und der Frieden wurde durch den Sieg und den anschließenden Friedensschluss begründet. Aber wie endet der sogenannte Krieg gegen den Terror? Eine Entscheidungs­schlacht ist hier nicht zu erwarten. Vermutlich kann dieser Krieg nur durch eine bewusste Entscheidung beendet werden, und zwar eine Entscheidung von uns. Das Kriegsvokabular ist hier sehr verführerisch. Nach dem An­schlag von Nizza am französischen Nationalfeiertag sagte der französische Botschafter am Pariser Platz in Berlin, man werde diese Schlacht gewinnen. Das ist auf die eine Art nachvollziehbar: Man will Zuspruch, man will Ent­schlossenheit kommunizieren, der Öffentlichkeit sagen, dass man sich nicht einschüchtern lässt. Aber Begriffe wie »Schlacht« und »Gewinnen« führen auf eine falsche Fährte. Es kann kleinere Erfolge geben, etwa wenn ein An­schlag durch die Sicherheitsbehörden aufgedeckt wird oder wenn ein Pas­sant jemanden zu Boden bringt, der mit einer Waffe um sich schießt. Solche Erfolge sind strategisch bedeutsam, weil sie das gesellschaftliche Vertrauen in die eigene Abwehrfähigkeit stärken. Um Siege im eigentlichen Sinne han­delt es sich dabei aber nicht.

Die Frage ist also eher, was als Indikator oder auch Äquivalent für einen Sieg gelten kann.

Nehmen wir den IS. Territorial ist er jetzt tatsächlich zurückgedrängt. Die staatliche, hierarchische Struktur scheint besiegt, nicht aber das globale Kommunikationsnetzwerk und vor allem nicht das Narrativ. Jeder, der aus welchen Gründen auch immer Bedeutsamkeit für den eigenen Konflikt erlan­gen will, kann sich an dieses Narrativ andocken. Wir wissen manchmal nicht, ob ein Anschlag wirklich organisatorisch oder in irgendeiner Weise dem IS zuzuordnen ist. Dann gibt es ein Bekennerschreiben, mit dem sich eine wo­möglich abseitige Splittergruppe in eine weltpolitische Auseinandersetzung hineinerzählt. In letzter Zeit zeigt sich, dass sich die Vorgehensweise des IS wieder den asymmetrischen Anfängen annähert. Sicherlich ist es ein Erfolg, dass man einen solchen Druck auf den IS aufgebaut hat, dass kaum noch mit großen Operationen, sondern eher mit kleineren Anschlägen zu rechnen ist. Es gibt ja Pamphlete des IS, die seine Anhänger auffordern: Kommt nicht mehr in den Irak und nach Syrien zum Kampf, sondern bleibt, wo ihr seid, und kämpft dort für unsere Idee mit den einfachsten Mitteln. Solange diese Idee Menschen zum Kampf mobilisiert bzw. solange es Kämpfern attraktiv erscheint, sich mit ihr zu identifizieren, ist der IS nicht besiegt.

Welche Rolle spielen dann also Narrative für einen Krieg oder einen Konflikt?

Wenn man annimmt, der Krieg verfolgt einen politischen Zweck, und es gibt – clausewitzianisch gedacht – jemanden, der diesen Zweck mit Gewalt durchsetzen will, dann ist es im konventionellen Krieg der Staatsmann, der den besagten Zweck bestimmt, zu dem Krieg geführt wird. Der Feldherr hin­gegen legt fest, wie dieser Zweck kriegerisch erreicht werden soll, während die kämpfende Bevölkerung die physische Gewalt als Mittel der Kriegführung zur Verfügung stellt. Die kämpfende Bevölkerung liefert gewissermaßen die physische Brutalität, der Feldherr die strategische Kreativität und der Staats­mann wiederum die politische Rationalität für den Krieg. Um nun alle Kräfte zu bündeln und hinter dem durchzusetzenden Kriegszweck zu versammeln, kommen oftmals Narrative zum Einsatz. Im Zeitalter symmetrischer Staaten­kriege wurde bspw. von vergangenen Niederlagen, Opfern und Schuld er­zählt, aber auch von zu sichernden Ressourcen, Räumen und Interessen, um den Kriegszweck zu unterstreichen. Auch dem Gegner wurde dabei zumeist ein kohärenter Wille unterstellt bzw. anerzählt, damit man diesen Willen antizipieren und ihm zuvorkommen konnte. Das ist unter Bedingungen der Asymmetrie nicht grundsätzlich anders. In diesem Sinne fragen wir uns ja bei Anschlägen: Warum auf dem Weihnachtsmarkt? Warum Berlin? Warum zu diesem Zeitpunkt? Noch bevor es ein Bekennerschreiben gibt, beginnen wir zu deuten – oder zu erzählen. Wir wollen den politischen Willen verstehen, der hinter dem Anschlag steht. Denn die Alternative hierzu wäre ja, anzu­nehmen, die Tat sei willenlos erfolgt, die Täter seien Irre bzw. es handle sich bei ihrem Anschlag um einen zweck- und ziellosen Akt expressiver Gewalt.

Um den heutigen Erzählungen derjenigen etwas entgegenzusetzen, die weltweit strategische Köpfe inspirieren und Kämpfer für den terroristischen Kampf mobilisieren, ist wohl so etwas wie eine politisch-strategische Gegen­erzählkunst nötig. Es kommt darauf an, die verschiedenen Dinge, die auf der Welt passieren, aus den Universalphrasen der Ideologen herauszuerzählen, die etwa vom Kampf »Der Westen gegen den Islam« fabulieren. Es ist wich­tig, genauer hinzusehen und die Ursachen der einzelnen Konflikte zu unter­scheiden, um dann der sie verbindenden Großerzählung mit wirklichkeitsnäheren Analysen zu begegnen, die gerade die Widersprüche im gegnerischen Narrativ offenlegen. Diese strategische Bedeutung haben Narrative sowohl im Staatenkrieg als auch im asymmetrischen Krieg. Bei der Findung eines Gegennarrativs in Letzterem sollte man sich allerdings einer Besonderheit bewusst sein: Unter Bedingungen der Asymmetrie genießt strategische und legitimatorische Vorteile, wem es gelingt, sich in die Rolle des schwachen Da­vid im Kampf gegen einen übermächtigen Goliath hineinzuerzählen. Denn dem Hirtenjungen wird seine irreguläre Kampfweise mit der Steinschleuder gegen den schwerbewaffneten Krieger in der Regel nachgesehen, ja er zieht häufig gerade die Sympathien der Umstehenden auf sich, und zwar auch un­abhängig davon, wofür er eigentlich kämpft. Für vergleichsweise starke Ak­teure ist es besonders anspruchsvoll, solchen Narrativen mit überzeugenden Erzählungen zu begegnen.

Während der Westen weiter in seinen dualistischen Kategorien denkt, sagen Sie, dass bspw. Russland von der asymmetrischen Kriegführung sehr viel mehr gelernt habe und deshalb besser reagieren könne. Worin sehen Sie die Gründe dafür, dass einige Staaten oder politische Akteure diese Art der Kriegführung schneller lernen?

Ein Grund ist vielleicht Schwäche. Niederlagen sind immer gute Lehrmeis­ter. Die technologische Überlegenheit der USA kann für diese auch eine Lern­blockade bedeuten. Man kann weiter vor allem auf Technologie setzen und eine risikoaverse Zero-Casualty-Kriegführung betreiben. Aus russischer Per­spektive stellt sich hingegen schon länger die Frage, wie man so einer Über­legenheit begegnen kann, ohne gleichziehen zu müssen, also zu überholen, ohne einzuholen. Dafür beobachtet man besonders aufmerksam diejenigen Akteure und Ereignisse, die erfolgreich waren. Ein kleines Netzwerk konnte die Supermacht ins Herz treffen und dadurch weitreichende psychologische Effekte und sogar eine Umstellung der Außenpolitik erzielen. Könnte nicht auch ein Staat das irgendwie einsetzen? In Reden und Militärdokumenten wird seit einiger Zeit überlegt, wie Russland stärker auf die Verwundbarkei­ten seiner eigentlich überlegenen Gegner abzielen kann. Insbesondere findet sich dort die Lehre, dass eine Gesellschaft durch einzelne Nadelstiche oder auch durch scheinbar zivile Aktionen grundsätzlich aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Doch dieser Lernprozess ist noch nicht und wahr­scheinlich nie vorbei. Es ist ja immer auch heikel, als Staat Kontrolle abzuge­ben, Milizen zu bewaffnen und loszuschicken. Hier taucht wieder die Frage von Kohärenz und Flexibilität auf. Einerseits gewinnt man womöglich Fle­xibilität, wenn man Milizen einsetzt, für deren Tun man zudem die Verant­wortung abstreiten kann. Andererseits droht man die zentrale Steuerung zu verlieren. Wer weiß, ob die dezentrale Kriegführung nicht irgendwann aus dem Ruder läuft? Der Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs über der Ostukraine mit 298 Menschen an Bord deutet in diese Richtung. In sol­chen unscharfen Räumen zu agieren und mit deren Dilemmata umzugehen, stellt staatliche Armeen vor erhebliche Lernherausforderungen.

In Anbetracht von Flexibilisierung, Technologisierung und neuen Kriegsstrate­gien: Wie können wir Cyberkriege im Kontext neuer Kriege fassen? Benötigen wir, mit Blick auf die Vorstellung, dass Krieg immer mit Gewalt einhergeht, eine neue Begrifflichkeit für diese Art des Angriffs?

Eine berühmte Studie von Thomas Rid heißt »Cyber War Will Not Take Place«. Dieser Titel sollte irritieren. Gemeint war nämlich nicht, dass nichts passieren wird, sondern dass das, was dort passiert, kein Krieg im clause­witzianischen Sinne mit dem Einsatz physischer Gewalt ist. Wenn wir aber mit dem Kriegsbegriff auch die kriegstheoretischen Beschreibungskategorien ganz aufgeben und also bei Cyberattacken nicht mehr nach Zweck und Ziel, Mittel und Effekten fragen, was steht uns dann noch zur Verfügung, um das Phänomen angemessen zu fassen? Anonymität ist hier sicherlich ein Problem. Woher kommen die Angriffe? Kann ich Vergeltungsmaßnahmen einsetzen oder bleibt der andere unsichtbar? Denn Krieg setzt ja in jedem Fall den Zwei­kampf voraus. Anstelle einseitiger Aktionen muss Reaktion möglich sein. Den physischen Aspekt würde ich allerdings weniger heranziehen. Denn wenn man sich streng auf physische Gewalt beschränkt, ist man ja auch beim Ter­ror, der vor allem auf psychische Effekte aus ist, schon an der Grenze. Und doch können die Effekte von Cyberangriffen durchaus physischer Art sein, etwa wenn ein Krankenhaus stillgelegt wird – auch wenn die Waffe nicht kinetisch ist, sondern per Code funktioniert. Das Mittel ist hier zwar nicht physisch, aber der Effekt ist es sehr wohl. Die entscheidende Frage ist aus meiner Sicht aber die nach den Reaktionsmöglichkeiten. Wenn diese über­haupt nicht mehr gegeben sind, müsste man überlegen, welche Beschrei­bungsmöglichkeiten es jenseits der Kriegskategorie und Kriegstheorie gibt.

Die Entstaatlichung des Krieges äußert sich auch darin, dass etwa achtzig Pro­zent der in bewaffneten Konflikten Getöteten Zivilisten sind, während früher in den großen Staatenkriegen neunzig Prozent der Getöteten Soldaten waren. Kann man auf der Grundlage solcher Zahlen sagen, dass die verstärkt seit 1989/90 einsetzende Entstaatlichung des Krieges auch eine Entzivilisierung des Krieges mit sich gebracht hat?

Man kann das eine Entzivilisierung im Sinne einer Brutalisierung nen­nen, darin gleichzeitig aber auch eine Zivilisierung erkennen in dem Sinne, dass der Bürger – cives – zunehmend auf das Schlachtfeld der Kriege gerät. Der unbeteiligte Zivilist und der uniformierte Kombattant: Diese Unterschei­dung verwischt und mit ihr diejenige zwischen Front und Hinterland als zwei Kategorien, die wir uns gewöhnlich als getrennt vorstellen – abgesehen viel­leicht von Denkern des totalen Krieges wie Erich Ludendorff. Die haben in Umkehrung der Clausewitz’schen Formulierung gemeint, Krieg sei nicht die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln, sondern umgekehrt setze die Politik den Krieg fort, weshalb der Krieg als totaler zu begreifen und zu füh­ren sei. Totalisierung heißt dann, dass auch das Hinterland zum Schlachtfeld wird und die Heimatfront tatsächlich eine solche ist. Das ist eine Vorstellung der Entgrenzung. Wenn man das Schlachtfeld gedanklich ausweitet auf die Zivilgesellschaft und auf die zivile Infrastruktur, dann geht letztlich die Zi­vilität als solche verloren. Das erscheint vielleicht paradox: Die Zivilisierung der Kriegsbeteiligten führt zur Entzivilisierung der Gewalt. Diese Paradoxie löst sich aber auf in der Beobachtung, dass die Bürger in den Krieg hinein­gezogen werden und dass das entgrenzende, entzivilisierende Folgen hat.

An diesem Prozess wirken auch diejenigen mit, welche die Willensbildung der Zivilgesellschaft strategisch zu beeinflussen versuchen, so etwa durch Schreckensnachrichten oder Bilder von Leid, die das Fernsehpublikum und die Internetnutzer zu bestimmten Reaktionen oder auch Überreaktionen pro­vozieren. Hier weitet sich das Schlachtfeld also in die medialen und digita­len Räume hinaus aus. In diesen Medien und Räumen bewegen sich zivile Kämpfer wie »Fische im Wasser«, um eine Formulierung von Mao Zedong aufzugreifen. Er meinte damit, dass der Partisan in der Zivilbevölkerung unterzutauchen habe. Sein Vorteil besteht darin, dass er sich nicht klar zu erkennen gibt, dass er ohne Uniform agiert. Das funktioniert allerdings nur, wenn das Umfeld ihn deckt, ihn selbst unter Repressionen nicht verrät, zu denen die Partisanenbekämpfer verleitet werden, was wiederum zur Entzivi­lisierung der Gewalt beiträgt. Der transnationale Terrorismus hat sich jüngst allerdings von dieser direkten zivilen Unterstützung gewissermaßen losge­sagt. Er braucht keine breite gesellschaftliche Basis mehr, in der er sich be­wegt und deren Anliegen er zu vertreten vorgibt. Ihm reichen oftmals wenige todesmutige Kämpfer, die hinreichend ideologisiert und organisiert sind, um die Zivilbevölkerung zu attackieren und zu terrorisieren. Die Brutalisierung äußert sich dann darin, dass gezielt kritische Infrastrukturen, zivile Einrich­tungen, Krankenhäuser angegriffen werden. Das ist eine Art der Entgrenzung des Krieges, die von Zivilisten ausgeht und Zivilisten zur Zielscheibe macht.

Wir sprechen von einer Entgrenzung des Krieges, wenn Schulen oder Kranken­häuser angegriffen werden. Doch ist es nicht abhängig vom jeweiligen poli­tisch-kulturellen und gesellschaftlich-kulturellen Hintergrund, wo diese norma­tive Grenze gezogen wird?

Das ist ein sehr interessanter Aspekt. Die Zonen des Friedens oder des Nichtkrieges sind kulturell befestigt. Das kann ein Zeitraum sein wie bei den Griechen der Antike die Olympiade; in dieser Zeit wird kein Krieg geführt. Das kann auch ein Ort sein wie Delphi, das Orakel, an dem kein Krieg geführt wird. Solche Festtage und Heiligtümer können einerseits Inseln des Friedens mitten im Kriegsgeschehen begründen, laden natürlich andererseits auch zur strategisch kalkulierten Ausnutzung ein. In Vietnam war es die Tet-Offen­sive, die bewusst am Tag des vietnamesischen Neujahrsfestes, einem natio­nalen Feiertag, einsetzte. Das ist eine Verrohrung, die darauf anspricht, dass es keine Tabus mehr gibt. Alle Schwellen werden überschritten und einge­ebnet. Eine solche profane Grenzüberschreitung ist vermutlich wahrschein­licher, wenn die Gegner sich verschiedenen Kulturen zurechnen. Insofern muss man überlegen, was das Verbindende, Kulturübergreifende ist. Wenn das die Kriegsparteien nicht gleichermaßen zu binden vermag, dann steht zu erwarten, dass sie wechselseitig ihre jeweiligen kulturellen Selbstbindungen ausnutzen und manipulieren. Das Paradebeispiel ist der zivile Schutzschild, aus dessen Deckung heraus diejenigen agieren, die etwa Raketen bewusst aus einer Schule heraus abfeuern. Wie man sie wirksam bekämpfen kann, ohne jene zivilen Opfer zu verursachen, die auch strategisch zum Eigentor wer­den können – das ist eine drängende Frage, wenn man seinerseits aus gutem Grund nicht dazu bereit ist, alle normativen Grenzbefestigungen einzureißen.

Wenn es darum geht, wie die Nato im Falle eines Angriffs durch Russland re­agieren soll, entsteht der Eindruck, dass die Nato immer noch sehr stark sym­metrisch denkt. Wenn es aber zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato käme, wären doch nicht mehr konventionelle, sondern atomare Mittel kriegsent­scheidend. Warum übt man dennoch klassische Manöver nach?

Das Paradebeispiel einer symmetrischen Konfrontation ist gerade die nu­kleare. Der Kalte Krieg: zwei Blöcke, die sich zwar gegenseitig die Legitimität ihrer Weltvorstellungen absprachen und beide einen globalen, universellen Anspruch erhoben. Aber strategisch gab es im Gleichgewicht des Schreckens doch eine Balance, die auch eine Rationalität der Symmetrie bewirkte, weil man davon ausgehen konnte, dass auf der anderen Seite ähnlich gedacht wurde. Unterhalb dieser symmetrischen Konfrontation kam es natürlich immer wieder zu Zwischenfällen und Vorfällen – ähnlich wie jetzt in der Ostukraine –, auf die eine nukleare Antwort aber völlig irrational gewesen wäre. Es war schlicht­weg unverantwortlich und in diesem Sinne irrational, diesen Schritt zu gehen und die Eskalation zu wagen. Die Nato hat seit dem Kalten Krieg immer sehr technologisch und konventionell gedacht. Doch sie hat zunehmend erkannt, dass die Sicherheitsherausforderungen des 21. Jahrhunderts vielfach breiter sind und gerade auch eine politisch-gesellschaftliche bzw. zivile Dimension besitzen; auch, dass man viel schneller und beweglicher sein muss, und zwar möglichst, ohne bisherige Abkommen zu verletzen. Man ist bspw. in Polen nicht ständig präsent, sondern rotiert. Auf diese Weise wird sowohl die Stabili­tät als auch die Flexibilität erhöht. Das hat sicherlich wiederum Konsequenzen für die Gesellschaft, und zwar nicht nur für die Familien und für die Soldaten, die alle vier Wochen versetzt werden. Aber dass man nur auf Atomwaffen set­zen würde, das sehe ich nicht und das war auch im Kalten Krieg nie der Fall, zumal die Atomwaffen ja immer als »defensive« Waffen galten, die primär der Abschreckung gegnerischer Angriffe dienen sollten. Im Umkehrschluss er­gibt sich hieraus aber eine drängende Frage für asymmetrische Konstellatio­nen: Wie soll man mit Gegnern umgehen, die sich nicht abschrecken lassen?

Mit Blick auf die Verrohung, die mit der Entstaatlichung des Krieges einhergeht, müsste die vorrangige Aufgabe westlicher Friedensmissionen sein, Statebuild­ing zu forcieren, damit die Staaten wieder die alleinigen Herren des Krieges werden. Wenn aber eigene Opfer erbracht werden müssen, zieht der Hegemon sich schnell wieder zurück. Ist der Wille dazu in der Bevölkerung des Westens nicht vorhanden?

Wahrscheinlich nicht. Das eine Modell wäre ja die Durchsetzung weltwei­ter Staatlichkeit, also globale Symmetrierung. Alle Regionen auf das Niveau der Staatlichkeit und Zurechenbarkeit zu heben und die Vereinten Nationen zu stärken, stände eigentlich gerade einem Staatenbund wie der EU als Pro­jekt gut zu Gesicht. Alle bisherigen Ansätze zur Umsetzung eines solchen Projekts machten aber sehr schnell deutlich, dass die Kräfte nicht ausreichen. Die Ansprüche und Kriegszwecke, die man etwa in Afghanistan verfolgte, wurden immer weiter zurückgeschraubt, bis man nun mit den Taliban ver­handelt. Statebuilding würde sehr viele Gelder und auch Opfer erfordern. Das Gegenmodell ist gewissermaßen das US-amerikanische: ein imperia­les Akzeptieren und Nutzen von Asymmetrien. Man will nicht mehr Gleich­artigkeit und weltweite Staatlichkeit durchsetzen, sondern spielt die eigene technologische Überlegenheit aus. Man lässt aber auch manche Zonen, so­lange sie nicht gefährlich werden, in der Peripherie. Wenn irgendwo Terror­camps oder Ähnliches entstehen oder der Zugang zu wichtigen Ressourcen blockiert wird, greift man unilateral ein. Das ist ein imperiales Management der Peripherie. Das also sind wohl die zwei Alternativen. Dabei lohnt es zu betonen, dass auch die erste Alternative – die Durchsetzung von Staatlich­keit – mit Gewalt einhergeht. Sie erfordert Intervention, Durchsetzung des Rechts, eine Weltpolizei. Wer soll das sein? Die USA möchten diese Rolle und die damit verbundenen Kosten erkennbar nicht mehr übernehmen. Die EU nimmt sich ihrerseits dieser Aufgabe bisher nicht an, obwohl sie gut darin ist, zu betonen, dass es wünschenswert wäre.

Zu Beginn dieses Jahrzehnts schien es im Libyen-Einsatz, als Teil des UN-Man­dats, in diese Richtung zu gehen. Aber offenbar haben die ambivalenten Auswir­kungen des Einsatzes und der mögliche Staatszerfall in der Region dazu geführt, dass man wieder Abstand von dieser Vorgehensweise genommen hat. Wie wür­den Sie die Zukunft, gerade in Bezug auf die R2P, die »Responsibility to Protect«, und die damit verbundene Auflösung territorialer Grenzen bewerten?

Um die »Responsibility to Protect« – also das Prinzip der Schutzverant­wortung, das zeitweilig als eine internationale emerging norm gehandelt wurde – ist es eher still geworden. Wer urteilt denn darüber, ob ein Staat seine Verantwortung gegenüber seinen Bürgern verletzt hat? Ist es der im­periale Akteur, der intervenieren will und sich um staatliche Souveränitäts­ansprüche nicht mehr schert? Oder ist es die Weltgemeinschaft, die sich aber im Sicherheitsrat blockiert? Dort gibt es natürlich verschiedene Einflussinteressen. Daher ist es sehr auslegungsbedürftig, wann Verantwortung ver­letzt wird und ob dann eine Pflicht zur Intervention besteht oder lediglich ein Recht der Staatengemeinschaft hierzu. Ich glaube nicht, dass das weiter ausgebaut wird, auch weil unklar ist, welche Instanz noch infrage käme. Im Völkerrecht wird diskutiert, ob die Generalversammlung im Verhältnis zum Sicherheitsrat aufgewertet werden soll. Stand jetzt ist aber nach wie vor der Sicherheitsrat gefragt, Interventionen völkerrechtlich zu legitimieren. Unge­achtet solcher Debatten erleben wir jedoch eine Tendenz zum Rückzug ins Isolationistische, gerade in den USA unter Donald Trump, der gleichzeitig jedoch mit unilateralen Interventionen droht. Insofern ist das Bild hier un­einheitlich und inkonsistent.

Die USA ziehen sich zurück und in der internationalen Staatengemeinschaft entsteht eine immense Leerstelle der Verantwortungsübernahme und Ordnungs­macht. Ist die Vorstellung einer solchen Macht mittlerweile vielleicht eine Illusion?

In der Politikwissenschaft werden verschiedene Ordnungsentwürfe dis­kutiert. Das symmetrische Staatensystem der souveränen Staaten ist ein ver­breitetes, das Imperium ein anderes politiktheoretisches Angebot. Ersteres wurde bisher allenfalls ansatzweise, wenn nicht vielfach nur symbolisch in den Vereinten Nationen realisiert. Dass hingegen eine Weltmacht eine glo­bale Ordnungspolitik betreibt, setzt die Fähigkeiten, den Willen und ein ge­wisses Maß an Akzeptanz voraus. Historisch gesehen stellt die von den USA gestützte liberale Weltordnung hier einen Ausnahmefall dar. Multipolare Ordnungen sind demgegenüber häufiger anzutreffen, sie produzieren aber auch viel öfter instabile Systeme vorherrschender Großmächterivalität. Der­zeit scheinen sich in der Tat die USA, Russland und China auf eine neue Welt unregulierter Konkurrenz einzustellen, während die EU zu selten wirk­sam eine gemeinsame Position vertritt. Von einer »Weltgemeinschaft« kann unter diesen Bedingungen jedenfalls immer weniger gesprochen werden, eher vielleicht von vier, fünf regionalen Gemeinschaften, die sich teilweise miteinander koordinieren, manchmal auch miteinander kooperieren, aber ansonsten in ihren »eigenen Welten« leben und mit unterschiedlichen Welt­vorstellungen konkurrieren.

Vor nicht allzu langer Zeit standen die USA als sogenannte Supermacht fest. Wenn wir aber beobachten, dass dieser Akteur nicht mehr willens und wirtschaftlich vielleicht auch bald nicht mehr dazu in der Lage ist, wie gehen wir damit um? Was passiert, wenn diese Macht wegfällt und jede Einheit, jeder Staat losgelöst von der internationalen Gemeinschaft agiert?

Eine Ordnung braucht die Bereitschaft, Ordnungsverletzer zu sanktio­nieren. Das ist allerdings auch für den Sanktionierenden mit Kosten verbun­den – Kosten, welche die USA im Moment nicht mehr zu schultern bereit sind, es sei denn, es betrifft die eigenen Interessen. Die EU kann es nicht. Nun ist oft die Rede von strategischer Autonomie. Wenn damit gemeint sein soll, die EU emanzipiert sich von den USA und von der Nato, dann ist das eine reine Vision oder leere Rhetorik, unterfüttert weder von Ressourcen noch von dem Willen, innerhalb der EU Souveränität abzugeben und zu bündeln. Wer setzt sich also für Gemeingüter wie freien Welthandel, offene Meere und grenzüberschreitende Sicherheit ein? Wahrscheinlich geht der Trend, wie gesagt, in Richtung kleinteiliger, nicht mehr globaler Lösungen, hin zu verschiedenen Ordnungsräumen. Eine Aufgabe für die EU wäre es dann, den eigenen Raum und dessen unmittelbare Peripherie zu ordnen – qua­si-imperial, in konzentrischen Kreisen, mit nach außen abnehmender Integ­rationskraft. Die Politikwissenschaft jedenfalls sollte sich stärker als bisher der Aufgabe stellen, darüber nachzudenken, welche Ordnungsmodelle wir, auch ideengeschichtlich unterfüttert, ins Spiel bringen können. Wir in den Sozialwissenschaften sind ja zumeist ziemlich gut darin, Ordnungsentwürfe zu dekonstruieren – also Vorschläge, Visionen und politische Programme auseinanderzunehmen. Das kann auch sehr bequem sein, immer zu warten, um dann zu historisieren und zu dekonstruieren. Mir erscheint es riskanter, aber nicht weniger verantwortlich, gelegentlich auch eigene Ordnungsmög­lichkeiten zu konstruieren und entsprechende Vorschläge in die politische und öffentliche Diskussion einzubringen.

Kriege und Konflikte gelten als Gegensätze zum Frieden. Die Vorstellung von Frieden ist hierzulande sehr etabliert und stark an Sicherheit gekoppelt. Terro­ristische Angriffe auf die Gesellschaft wie der von Anis Amri auf den Berliner Weihnachtsmarkt durchbrechen dieses tiefverwurzelte Verständnis. Welche Rolle spielt der Friedens- und Sicherheitsgedanke für eine Gesellschaft und wie wan­delt sie sich, wenn er zu zerfallen beginnt?

Es gibt diese schönen Bilder des Friedens, etwa von Ambrogio Lorenzetti im Friedenssaal des Palazzo Pubblico in Siena. Der Frieden ist dort allego­risch als eine Frauenfigur dargestellt, die ganz gelassen und entspannt zu­rückgelehnt dasitzt, den Kopf versonnen auf eine Hand gestützt. Sicherheit ist etwas anderes. Sicherheit bedeutet und beinhaltet immer auch Anspan­nung; man sitzt gewissermaßen in Habachtstellung, ist innerlich bereit zum Aufspringen. In diesem Sinne unterscheidet sich Sicherheit hinsichtlich des Lebensgefühls vom Frieden. Man kann das manchmal in größeren Men­schenansammlungen beobachten, auf Konzerten oder auf einem Weihnachts­markt: Die Menschen haben, gerade nach Berichten über Terroranschläge, einen anderen Blick; sie schauen genauer hin, etwa wo sich der Notausgang befindet, sie scannen ihr Umfeld. Das ist dann ein Zustand der Sicherheit. Er beruht, anders als der sorglose Friede, auf einem spezifischen statt generel­len Vertrauen, nämlich darauf, dass sich andere Menschen Gedanken über Eventualitäten gemacht und dafür gesorgt haben, dass im Fall der Fälle der Notausgang nicht verschlossen und verstellt ist. Zudem richtet sich das Ver­trauen auch auf die unmittelbaren Nachbarn und Nächsten: dass sie notfalls füreinander da sind, statt sich über die Füße zu trampeln. In diesem dop­pelten Sinne ist der Sicherheitszustand ein spezifischer Vertrauenszustand: Man vertraut auf die zuständigen Verantwortlichen wie auch auf das Ver­antwortungsbewusstsein der Nichtzuständigen. Wenn nun die Unsicherheit darüber um sich greift, wem man eigentlich noch vertrauen kann, dann ver­ändert sich das Miteinander. Haben die Zuständigen alles Menschenmög­liche getan, um die Sicherheit zu gewährleisten? Wird mein Nachbar mir im Ernstfall beistehen? Es kommt zu Verdächtigung und Misstrauen.

Eine solche grundsätzliche Verunsicherung ist typisch für hybride Szena­rien: In ihnen kann ich mir nicht sicher sein, ob mein Vertrauen in die Zu­ständigen und Nächsten angemessen ist oder naiv. Denn hybride Strategien untergraben gezielt die Erwartungserwartungen friedlicher Zivilität. Hat vielleicht ein Hacker die Elektronik am Notausgang manipuliert? Wird mein Nächster, wenn etwas passiert, sofort zum Smartphone greifen, um das Ge­schehen live in die Welt zu streamen? Angesichts solcher Befürchtungen ist es wichtig, gerade in hybriden Momenten und trotz der Ungewissheit, die da­mit einhergeht, Vertrauen in die Sicherheitsbehörden sowie in die Mitbürger zu bewahren und auch zu zeigen. Friedfertige Gelassenheit mag naiv sein, verunsicherte Panikmache ist sicherlich ebenfalls kontraproduktiv. Den so­genannten Sicherheitseliten kommt hier eine erhebliche Verantwortung zu, und zwar nicht nur denjenigen aus Politik und Verwaltung, sondern auch denjenigen aus Medien und Wissenschaft. Wenn das Hybride zwischen Krieg und Frieden zu verorten ist, so haben die Sicherheitseliten nicht nur über den hybriden Krieg nachzudenken, sondern auch über den hybriden Frieden. Die Frage wäre dann, wie man ihn so gestaltet, dass er ein möglichst sicherer und zugleich gelassener Zustand ist und kein kriegerischer.

Das Gespräch führten Marika Przybilla-Voß und Danny Michelsen.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019