»Schluss mit der Klassengesellschaft!« Ein Gespräch mit Kardinal Reinhard Marx über die Substanz der christlichen Botschaft und ihren Beitrag zur Lösung der europäischen Identitätskrise
Herr Kardinal Reinhard Marx, wir befinden uns inmitten des Lutherjahres 2017, in dessen Zentrum die 500-Jahr-Feier der Reformation steht. Was für die Evangelische Kirche ein Hochamt darstellt, ist für die Katholiken eher kein Anlass zum Feiern, sondern die wiederkehrende Erinnerung an ein traumatisches Spaltungsereignis. Dennoch beteiligt sich die Katholische Kirche an den Feierlichkeiten. Wie begründen Sie diese Haltung der Katholischen Kirche, auch theologisch?
Ich würde zunächst unterscheiden wollen zwischen dem Feiern und dem Gedenken der Reformation. Ich bin sehr froh darüber, dass die Evangelische Kirche uns eingeladen hat, das Reformationsgedenken gemeinsam zu gestalten. Zum ersten Mal wurde im Rahmen einer Jubiläumsfeier der Reformation ein besonderer Akzent auf die Ökumene gesetzt, statt, wie historisch üblich, diesen Anlass als Abgrenzung gegen den Anderen inklusive direkter Schuldzuweisungen zu zelebrieren. Man kann die Reformation und das, was in der Reformation auf beiden Seiten in einem ständigen Wechsel von Aktion und Reaktion geschehen ist, nicht einfach auf die Gestalt Martin Luthers und die Spaltung der Kirche reduzieren. Die Reformation ist vielmehr ein vielschichtiges europäisches Ereignis, ein Weltereignis, das bis heute nachwirkt. Schließlich ist im Zuge der Auseinandersetzungen ab 1517 vieles in Gang gekommen, was Europa im Gesamten und Deutschland im Besonderen geprägt hat. Dies gilt nicht nur für religiöse Veränderungen, sondern weiterwirkend bis in die Gegenwart auch für das gesellschaftliche Feld. Und dies betrifft natürlich auch die Katholische Kirche. Wir können uns selbst, als Katholische Kirche, gar nicht verstehen ohne die Reformationsepoche, ohne die damaligen Ereignisse und Auseinandersetzungen. Das auf die Reformation folgende Zeitalter der Konfessionalisierung umfasst viele Jahre bitterer Erfahrungen für beide Seiten, die Europa zutiefst gespalten und in etliche verheerende Kriege geführt haben. Der Umgang beider Konfessionen mit dem, was auf die Reformation folgte, macht heute ein gemeinsames Gedenken unumgänglich.
Das ökumenische Reformationsgedenken ist also ein zwangsläufiges Resultat der interkonfessionellen Konfliktgeschichte?
Zwangsläufig ist historisch gar nichts, der geschichtliche Verlauf ist vielmehr grundsätzlich offen. Wir haben manchmal – falsch verstanden – hegelianisch im Kopf: Was sich durchsetzt, ist im Recht. Die Geschichte musste so verlaufen, wie sie verlaufen ist. Das stimmt so ja nicht! Möglich scheint mir etwa – ein sicherlich kühner Gedanke –, dass im Herbst des Mittelalters, im Heraufkommen der Renaissance, der Keim der Veränderung bereits im Aufgehen begriffen war, dass jedenfalls das gesamte Abendland vor einem Aufbruch stand, dessen Weiterführung durch die der Reformation folgenden Verwerfungen nicht mehr gemeinsam gelingen konnte, sondern nur in Abgrenzung zueinander, was letztlich zu einer Verengung auf beiden Seiten geführt hat. Diese Verengung und Pauschalisierung, etwa dergestalt: Die Katholische Kirche hatte ein Problem, Luther hat es gelöst und die Katholische Kirche hat es bis heute nicht begriffen, die ist, das lässt sich 500 Jahre nach der Reformation heute auf der Habenseite festhalten, Gott sei Dank Geschichte. Anstelle dieser sehr einfachen Schablonen, die sowohl an die Gestalt Martin Luthers wie auch an die Ereignisse der Reformation angelegt worden sind, wird heute viel tiefer geschaut, was hier wirklich geschehen ist. Und, ganz wichtig, was vielleicht besser hätte nicht geschehen sollen, was stattdessen auch hätte passieren können, eben eine Weitung und Vertiefung des Christentums auf einen christlichen Humanismus hin.
So viel Neubesinnung und daraus folgende Einigkeit ruft natürlich auch Kritiker auf den Plan, die in der Betonung der Einigkeit andererseits einen Mangel an notwendiger Differenz erkennen und eine Anbiederung an eine womöglich dem Zeitgeist näher stehende Evangelische Kirche fürchten. Wäre statt ökumenischer Einheitssoße nicht mehr Abstand vonnöten – auch weil durch Abgrenzung die eigene Bedeutung, der Eigen-Sinn und damit letztlich auch die institutionelle Bestandslegitimation betont werden?
Es kann nicht darum gehen, eine Einheitssoße über irgendetwas zu gießen. Und wenn die persönliche Beziehung zwischen den beiden formal höchsten Amtsträgern in Deutschland eine gute ist, bedeutet das nicht, dass Heinrich Bedford-Strohm katholisch oder ich evangelisch geworden wäre. Wir haben kein Bild von Ökumene, an dessen Ende die eine uniforme Einheitskirche steht. Schon die Katholische Kirche selbst kennt ja vielfältigste Riten, Liturgien und Traditionen. Da gibt es eine natürlich gewachsene und lange eingeübte Pluralität. Wir haben etwa die lateinischen Kirchen, und wir haben die unierten Kirchen. Wir haben eine weltkirchliche Situation, die eine Fülle von Liturgien, theologischem Denken und Frömmigkeitsstilen pflegt. Denken Sie allein an die speziellen Vorstellungen von Frömmigkeit und religiösem Leben in den verschiedenen Ordensgemeinschaften. Zugleich kann und darf Ökumene nie bedeuten, alles über einen Leisten zu schlagen, nach Meinungsumfragen oder nur im Blick auf andere weltliche Interventionen zu agieren.
Das heißt, dass die Katholische Kirche ihren eigenen Traditionen treu bleiben soll …
… und ihren eigenen Weg beschreitet. Aber wichtig ist auch, dass man nicht in der Tradition, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, verhärtet, sondern das eigene Denken und Handeln beständig entlang dem Kern des Glaubens, dem Kern des Evangeliums, neu justiert und öffnet für das Wirken des Geistes. Zur Verkündigung des Evangeliums gehört schließlich auch dazu, die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten. Entscheidend ist in meinen Augen die Gestalt Jesu von Nazareth. Was macht sein Handeln aus, was sind seine Worte, wie können wir uns an ihm orientieren? Das ist der Punkt, der nicht verhandelbar ist. Über das Christusereignis müssen wir uns immer neu vergewissern. Andere Traditionen, etwa im Kirchenrecht, der Liturgie und des spirituellen Lebens, verändern sich stärker in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen.
Wenn aber im Jahr 500 der Kirchenspaltung nicht zusammenwachsen soll, was einst zusammengehörte, wenn die alte protestantische Abspaltung mehr ist als nur ein Flügel einer, wie Sie es sagten, vielfältigen Katholischen Kirche: Müsste dann nicht jenseits der Ökumenebestrebungen, der Abrüstung von Streitigkeiten und der herausgestellten Fähigkeit, aufeinander zuzugehen, die eigene katholische Identität sichtbarer herausgestellt werden, gerade in einer Zeit europaweiter Säkularisierung? Weil es um die Zukunft und die öffentliche Rolle der Katholischen Kirche dann, wenn alles verwischt und verschwimmt, ja beliebig erscheint, schlecht bestellt sein dürfte?
Das klingt jetzt fast nach einer Marketingstrategie. Ich sehe das nicht als die drängendste Frage an. Das Christentum und mit ihm die christlichen Kirchen sind ja nicht einfach zu verstehen als religiöse Vereine, die sich über Rekrutierungserfolge definieren würden. Vielmehr müssen wir uns fragen: Was ist unser Auftrag, was unsere Sendung? Die Antwort jedenfalls kann nicht lauten: Um die Spaltung der christlichen Kirche zu beenden, sollten wir zuvorderst versuchen, uns im Stile von Koalitionsverhandlungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu verständigen. Die Kirchen sind keine politischen Parteien, die wechselseitig ausreichend verzichtbare Verhandlungsmasse vorhalten, die dann einen Kompromiss ermöglicht. Wenn es also eine Einheit oder eine größere Einheit geben soll, dann kann diese nur in einem gemeinsamen Weg auf Christus zu bestehen. Das heißt, gemeinsam das zu tun, was Sie einfordern, die eigene Identität, das charakteristisch Christliche in diese Gemeinschaft hineinzutragen. Die drängendste Frage dabei ist: Was ist unsere christliche Botschaft, die wir in die säkulare, plurale, offene Gesellschaft hineingeben, in der wir leben? Trotz der bestehenden Unterschiede, etwa im sakramentalen Leben, sollten wir diese Botschaft nicht gegeneinander, sondern gemeinsam im Sinne des Evangeliums formulieren. Natürlich haben wir diesbezüglich in Deutschland eine besondere Situation durch die nahezu ausgeglichene Größe der katholischen und evangelischen Bevölkerungsteile. Das gibt es in vielen anderen Ländern so überhaupt nicht.
Die Katholische und die Evangelische Kirche stemmen sich also Hand in Hand gegen den fortschreitenden Verlust von Glaubensbeständen?
Wir stehen, so glaube ich, vor einer zentralen Herausforderung: Können wir neu erkennen, was der wesentliche Punkt des christlichen Glaubens ist? Können wir diesen neu formulieren, auch gemeinsam? Was ist der Kern, worum geht es in der Botschaft Jesu von Nazareth, im Bekenntnis zum Tod und zur Auferstehung Christi? Ich glaube, wenn wir uns gemeinsam bemühen, das zu verdeutlichen, dass wir dann auch Wege zueinander finden werden. Die Ökumene zielt nicht auf das Abschleifen der Profile, sondern auf gemeinsame Bemühungen, das christliche Profil zu stärken und deutlich zu machen, wofür das Christentum eigentlich steht. Ökumene verstehe ich als einen Erneuerungsaufruf an beide Kirchen, in die Tiefe zu gehen. Es gibt ein schönes Wort von Tomásˇ Halík, einem Religionsphilosophen aus Prag, der in der kommunistischen Zeit im Geheimen zum Priester geweiht worden ist. Auf die Frage, wie es mit der Zukunft des Christentums in Europa aussehe, schreibt er in einem Essay: »Als Alexander Solschenizyn gefragt wurde, was nach dem Kommunismus käme, antwortet er: Eine sehr, sehr lange Zeit der Heilung. Meine Antwort auf die Frage, was jener Zeit folgen wird, in der es so viele Gläubige und Nichtgläubige für leicht hielten, über Gott zu reden, lautet: Ich erwarte eine sehr, sehr lange Reise in die Tiefe. Und ich setze meine Hoffnungen darauf.« Auch ich glaube wirklich, dass wir vor dieser Herausforderung stehen. In den Worten Kardinal Lustigers, die ich gern und häufig durchaus zur Verwunderung manches Gläubigen zitiere: »Das Christentum in Europa steckt noch in den Kinderschuhen, seine große Zeit liegt noch vor uns.« Wir müssen die Vorstellung überwinden, man könne bloß versuchen, mit Mühe und Not das einigermaßen zu verteidigen, was noch übrig ist. Das ist eine Art »Reconquista-Mentalität«: zurückerobern, was verloren ging. Aber das ist nicht meine Zukunftsvorstellung. Und vor dieser Aufgabe stehen Katholiken wie Protestanten, stehen alle christlichen Kirchen. Gefordert ist nicht der einfache Kompromiss zur Wiedererlangung von Attraktivität, nötig ist ein ernstes Neubuchstabieren und eine Vertiefung der Substanz der großen christlichen Botschaft – jenes Kerns, der sich von anderen Religionen unterscheidet.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017