Liberalismus im Islam Was bleibt vom Arabischen Frühling?

Von Thorsten Hasche

Streng genommen kann nicht von einer genuin liberalen Tradition im Islam gesprochen werden. Besonders dann nicht, wenn man Liberalismus im Islam in dem Sinne verstehen wollte, wie politischer Liberalismus im Westen gemeinhin verstanden wird, also als eine politische Philosophie oder Programmatik, in der das Individuum und seine positiven wie negativen Freiheiten im Mittelpunkt stehen. Dennoch bestehen in der westlichen Forschung zur Region Nordafrikas und des Nahen Ostens (MENA-Region) seit nunmehr einigen Jahrzehnten zahlreiche und immens wirkmächtige Studien zum Einfluss des europäischen Denkens und der europäischen Großmächte auf die islamische Zivilisation. Folgt man diesen Schriften, so liegt der welthistorische Anbeginn der modernen Beziehungen zwischen Okzident und Orient in Napoleons Ägyptischer Expedition im Jahr 1798.[1] Diese militärische Expedition des nachrevolutionären Frankreichs war vor allem zur Kontrolle Ägyptens im Kampf um die europäische Vorherrschaft mit der Seemacht England gedacht, wurde jedoch gleichermaßen von einem großen Tross an Gelehrten begleitet. Die zentralen Ziele dieser Gelehrten waren, einerseits die Ideen der Französischen Revolution nach Ägypten zu tragen – dafür wurden von den sogenannten Orientalisten Flugblätter in arabischer Sprache entworfen – und andererseits Wissen über Ägypten zu sammeln.[2] Da das Osmanische Reich, dessen Provinz Ägypten damals war, aufgrund seiner frappierenden militärischen Unterlegenheit nur mit Englands Hilfe und erst nach einigen Jahren der Besatzung in der Lage war, die französischen Truppen zu vertreiben, setzte innerhalb des Reiches dieses Ereignis einen umfangreichen Modernisierungs- und Reformprozess in Gang. Erst infolge der intellektuellen und literarischen Verarbeitung dieses Prozesses entstand das moderne und reformorientierte Denken in der arabo-islamischen Welt.[3]

Auch wenn diese Ereignisse bereits mehr als zweihundert Jahre zurückliegen, sind sie weiterhin äußerst relevant, um über das Verhältnis von Liberalismus und Islam zu sprechen. Denn der Entstehung des modernen arabischen, aber auch persischen und türkischen politischen Denkens liegt kein genuin endogener Prozess zugrunde, wie bspw. der Entstehung des englischen Liberalismus im 17. Jahrhundert. Vielmehr kam es infolge der beginnenden europäischen Kolonialisierung und der ebenfalls stattfindenden Expansion des russischen Zarenreiches zu einer exogen induzierten »Krisenerfahrung«. […]

Anmerkungen:

[1] Vgl. Bassam Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, Frankfurt a. M. 1991, S. 64–69.

[2] Vgl. Ibrahim Abu-Lughod, Arab Rediscovery of Europe. A Study in Cultural Encounters, Princeton 1963, S. 11–27.

[3] Exemplarisch ist hier zu nennen: Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age. 1798–1939, Cambridge 1983.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016