Editorial
Nach der letzten Bundestagswahl waren die Liberalen schon für tot erklärt worden. Spätestens seit den diesjährigen Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz hat sich diese Diagnose jedoch als verfrüht erwiesen. Bereits 2015 hatte die FDP mit ihrem Wiedereinzug in die Bürgerschaften Bremens und Hamburgs Lebenszeichen ausgesandt. Und es war auch keineswegs der erste Abgesang auf die Partei: Schon Anfang der 1970er, in der Mitte der 1980er und zum Ende der 1990er Jahre hatten professionelle Interpreten des Politischen ihr die Totenglocken geläutet. Aktuell sitzen freidemokratische Abgeordnete in immerhin acht von 16 Landtagen – eine Präsenz, die sich die FDP in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wahrscheinlich gewünscht hätte, als sie eine halbe Dekade lang bloß noch in vier Landesparlamenten Delegierte stellte. Die Liberalen, so scheint es, besitzen mehr Leben als die Katzen.
Schon diese wenigen Zeilen werfen freilich eine ganz grundlegende Frage auf: Ist die FDP das politische Sprachrohr des Liberalismus, und zwar das einzige und exklusive? Kann die FDP das Alleinvertretungsrecht für den Liberalismus reklamieren? Lässt sie sich gar mit dem Liberalismus gleichsetzen? Oder, um aus dem Beitrag von Hans Vorländer in diesem Heft zu zitieren: »Von welchem Liberalismus ist indes die Rede? […] Von einer Bewegung, einer Partei, einer Philosophie?«
In Arbeiten zur politischen Ideengeschichte und in parteienwissenschaftlichen Längsschnittanalysen sind dergleichen Identifikationen durchaus üblich. Da wurzelt die SPD, aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen, im sozialistischen Lager; die CDU repräsentiert als Nachfolgeorganisation der katholischen Zentrumspartei, nach dem Zweiten Weltkrieg erweitert um protestantisch-konservative Gesellschaftssegmente, das christlich-konservative Spektrum; und die FDP stellt demzufolge den Partei gewordenen Liberalismus dar.
Vor diesem Hintergrund bleibt aller unter Beweis gestellten Überlebensfähigkeit zum Trotz die Schwäche der FDP erklärungsbedürftig. Schließlich ist die deutsche Gesellschaft insgesamt gegenwärtig wahrscheinlich so liberal wie nie zuvor. Nie ließen sich Lebensstilvorlieben und sexuelle Präferenzen freier pflegen und unkaschierter ausleben. Historisch neu dürfte – trotz aller fortbestehenden Defizite – ebenfalls das Ausmaß sein, in dem Frauen zwischen Arbeit und Familie, Privatheit und Öffentlichkeit wechseln und wählen können. Unter Angela Merkel hat sich mittlerweile auch die CDU gesellschaftspolitisch weitgehend liberalisiert – vom Kita-Ausbau über die Frauenquote in Unternehmen bis hin zur Gleichstellung Homosexueller. Überhaupt haben Gruppenzwänge, die den Einzelnen in seiner Selbstentfaltung einzuschränken vermögen, nach drei Jahrzehnten der sozialen Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung viel von ihrer einstigen Kraft eingebüßt.
Freilich wird im noch jungen 21. Jahrhundert in der öffentlichen Meinung als Liberalismus weniger der Gesellschafts- als vielmehr der Wirtschaftsliberalismus etikettiert: neuliberal genannte Strategien, die den Marktkräften huldigen. Allerdings kommt die Konjunktur von Leistungsbekenntnissen – noch einmal – kaum der nobel-distinguierten FDP zugute. Stattdessen hat zuletzt die volkstümelnde, isolationistische, Ängste schürende AfD einen steilen Aufstieg erlebt.
Der Liberalismus ist mithin ein schillerndes Phänomen, statt einer Einheit ähnelt er eher einem Mosaik, bestehend aus zahlreichen Teilchen und Bindestrichkonstruktionen: dem Links- und dem Nationalliberalismus, Wirtschaftsund Gesellschaftsliberalismus, Rechtsstaats- und Kulturliberalismus. Gibt es ihn überhaupt, den einen Liberalismus? In einem instruktiven Buch hat der französische Philosoph Jean-Claude Michéa vor einigen Jahren diese Frage bejaht: Der Liberalismus lasse sich in all seinen Strömungen und Facetten auf gemeinsame Prinzipien zurückführen. Michéa zufolge lassen sich die Anfänge der Moderne und des Liberalismus auf die Zeit der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts datieren. Als Resultat des Traumas mörderischer Bürgerkriege gründe der Liberalismus in dem Bestreben, in Frieden zu leben und sich friedlich den eigenen Angelegenheiten widmen zu können. Insofern die Wurzeln der Gewalthandlungen in der Ruhmsucht der Herrschenden und im Anspruch der Massen, exklusiv im Besitz des Richtigen und Wahren zu sein, gesehen worden seien, das Menschenbild des Liberalismus also grundskeptisch sei, richte die liberale Utopie ihre Hoffnungen einer vernunftorientierten Gesellschaft auf die überpersönlichen und also neutralen Strukturen von Recht und Markt. Da der liberale Staat folglich keine Vorgaben für Werte und Lebensweisen machen dürfe und seine Legitimität einzig daraus schöpfe, dem Einzelnen größtmögliche Freiheit zu gewähren, solange anderen dadurch kein Schaden entstehe, habe er andererseits keine Möglichkeiten, auf das individuelle Tun einzuwirken und etwa wünschenswerte Verhaltensweisen zu fördern oder moralische Standards zu setzen. Dieses Dilemma lösen Liberale, Michéa zufolge, durch die »unsichtbare Hand« des Marktes auf. Der freie wirtschaftliche Tausch solle automatisch und logisch eine friedliche und gerechte Gesellschaft hervorbringen. Weil also der Markt viel mehr als das Recht das Gelingen, den Zusammenhalt und den Fortbestand liberaler Gesellschaften verbürge, liefen die liberalen Prinzipien in letzter Instanz in den »Mechanismen des Markts« zusammen. Weshalb denn die »seelenlose Welt des zeitgenössischen Kapitalismus« der »real existierende Liberalismus« sei.
Soweit Michéas Interpretation, der man natürlich nicht folgen muss. Kaum bestreitbar hingegen dürfte sein, dass derzeit die Grenzen der Idee einer liberalen Gesellschaft ausgelotet werden, dass die liberale freidemokratische Partei in Deutschland zuletzt ein Schattendasein gefristet hat und das Konzept einer liberalen Wirtschaftsordnung und eines deregulierten Marktes gegenwärtig angefeindet wird. In einer solchen Situation muss sich der Liberalismus seiner selbst vergewissern, die unveräußerlichen Fundamente freilegen und zu zeitgemäßen Handlungsstrategien verdichten. In vielleicht besonderem Maße stellt sich für den Liberalismus aktuell die Frage nach der Substanz seines »Ismus«: Was macht ihn aus? Was sind seine unterschiedlichen Facetten, was seine perspektivischen Ziele?
Die vorliegende Ausgabe von INDES versucht mit ihrem Schwerpunkt, einen Beitrag zur Diskussion über den Liberalismus zu leisten. Wie stets wird die Debatte dadurch nicht abgeschlossen werden (können), und die Auswahl an Themen und Texten bleibt notgedrungen unvollständig. In gewisser Weise ist die INDES damit selbst liberal, stellt das Bekenntnis zu kontroversen Diskursen, zur uneingeschränkten Legitimität differenter Blickwinkel auf die Wirklichkeit und zur permanenten Revisibilität von Erkenntnissen und Entscheidungen doch geradezu ein Markenzeichen liberalen Denkens dar. Darüber hinaus wünschen wir – wie stets – viel Spaß bei der Lektüre.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016