Aspekte einer neuen Ordnungsökonomik Wie Wirtschaftstheorie und Bürgergesellschaft wieder zueinander finden können
Hans Albert, in seiner erst jüngst veröffentlichten Habilitationsschrift von 1955 der Eucken’schen Ordnungsökonomik gegenüber noch skeptisch eingestellt, lobt sie fünfzig Jahre später dafür, dass sie nach Antworten auf die Kant’sche Frage »nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Ordnung der Freiheit in der heutigen Gesellschaft«[5] gesucht habe. Die deutschen Wurzeln dieser Suche liegen zwar im ordoliberalen Freiburg; die Freiburger Schule ist aber als ein Knoten im komplexen Geflecht des europäischen und transatlantischen Neoliberalismus der Zwischen- und Nachkriegszeit zu sehen. Ohne hier auf den Facettenreichtum einzelner Denker eingehen zu können,[6] lässt sich das Denken der traditionellen Ordnungsökonomik auf beiden Seiten des Atlantiks[7] unter dem Motto laissez-faire within rules zusammenfassen. Kurioserweise wurde dem Neoliberalismus seit der Umdeutung des Begriffes als Fremdbezeichnung ab den 1970er Jahren gerade vorgeworfen, jegliche Regelwerke schleifen zu wollen, was aber mit dem Programm der Autoren, die in den 1930er Jahren »neoliberal« noch als Selbstbezeichnung geprägt haben, herzlich wenig zu tun hat. Was sich hinter laissez-faire within rules verbirgt, ist das Vertrauen auf die Mechanismen der Selbstorganisation innerhalb einer Ordnung, solange dies im Rahmen guterRegeln passiert. Was nun gute Regeln sind, darauf fokussiert sich die Suche des ordnungsökonomischen Programms überhaupt.
Die Ordnungsökonomen haben die Gretchenfrage der political economy nach der bestmöglichen Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat stets im Blick und stellen die für Liberale allzeit knifflige Frage nach der Rolle des Staates nicht quantitativ (»Wie viel Staat?«), sondern qualitativ (»Welcher Staat?«). Offensichtlich scheuen sie solche normativen Fragen nicht – und so ist der an ihre Adresse gerichtete Vorwurf der »Kryptonormativität«[8] gewissermaßen absurd. Erstens kann man einem Wissenschaftler, der sich selbst als »ordoliberal« oder »neoliberal« bezeichnet, schwer ankreiden, er würde seine Präferenz zugunsten der Freiheit verbergen; zweitens ist dieser Wert derFreiheit bei den Ordnungsökonomen an ein bedingtes Werturteil geknüpft: Wenn der Bürger eine auf Märkten beruhende Wirtschaftsordnung mit ihren Ergebnissen als erstrebenswert erachtet (dann und nur dann), muss er auch den Wert der wirtschaftlichen Freiheit akzeptieren, bei deren Abwesenheit Märkte kaum denkbar wären.[9]
Angesichts dieses reichen Erbes der traditionellen Ordnungsökonomik: Warum nun von einer Neuen Ordnungsökonomik sprechen und nicht einfach die Theoriegeschichte nachbeten? Weil Theoriegeschichte zwar ein Reservoir fast unendlicher Inspirationen ist, nicht aber zum Ersatz für eigenständige Theoriebildung werden darf. Alle Sozialwissenschaften sind in einem permanenten inneren Wandel begriffen, genau wie die Fragen, welche die Gesellschaft an sie richtet. Die Tradition ist also fruchtbar zu machen und gleichzeitig radikal neu zu denken. Im Zuge des erwähnten »jüngsten Methodenstreits« wurde von Nils Goldschmidt, Gerhard Wegner, Michael Wohlgemuth und Joachim Zweynert eine Position formuliert,[10] die seitdem bei verschiedenen Konferenzen des Erfurter Wilhelm-Röpke-Instituts in Kooperation mit anderen Institutionen vertieft wurde und unter der Überschrift »Neue Ordnungsökonomik « in einem aktuellen Band in der Reihe des Freiburger »Walter Eucken Instituts« beim Mohr Siebeck Verlag ausführlich gefasst wird.
Was sind die vier Rollen einer solchen Neuen Ordnungsökonomik und wie können sie dem Liberalismus neue Impulse verleihen?
1. Ordnungsökonomik als Schnittstellenökonomik: Goldschmidt, Wegner, Wohlgemuth und Zweynert identifizieren zwei Hauptfragen des ökonomischen Denkens: erstens die Suche nach Gesetzmäßigkeiten wirtschaftlicher Prozesse und zweitens die Erforschung der Wechselwirkungen dieser Prozesse mit der sozialen Umwelt. Zwar haben auch frühere Ordnungsökonomen ihre Energie schwerpunktmäßig der zweiten Hauptfrage gewidmet; wegen der zunehmenden Spezialisierung und Ausdifferenzierung innerhalb des Faches soll dieser Fokus nunmehr aber noch weiter geschärft werden. Nils Goldschmidt hat an anderer Stelle einen solchen Zugang zur Ordnungsökonomik als »Schnittstellenökonomik« bezeichnet, die angehalten ist, wegen ihres Untersuchungsobjektes dezidiert Andockebenen mit und Kontexte zu den anderen Sozialwissenschaften zu suchen. Wenn man etwa die Stammväter der ökonomischen und der politischen Theorie (etwas schablonenhaft) mit Adam Smith und Thomas Hobbes ausmacht, so würde an der ordnungsökonomisch vermittelten Schnittstelle zwischen beiden Wissenschaften der Ökonom seine Sensibilität für vertikale Konzepte wie Macht und Herrschaft schärfen, während der Politikwissenschaftler verstärkt über die horizontalen zwischenmenschlichen Beziehungen reflektieren könnte. Das Ergebnis einer solchen Wissensteilung könnte sein, dass für die interagierenden Sozialwissenschaftler die Offenheit gegenüber einer liberal(er)en, also Horizontalität, Freiwilligkeit und Spontaneität betonenden, Ordnung steigt – aber auch, dass diese Ordnungsvorstellung von der sonst im liberalen Diskurs häufig anzutreffenden Naivität gegenüber zentralen Kategorien des Politischen geheilt wäre.
2. Ordnungsökonomik als Ideenspeicher: Auf die Geschichte ordnungsökonomischen Denkens ist oben auch deshalb eingegangen worden, weil heutige Ordnungsökonomen – im Gegensatz zum Gros des Faches – zu einer besonderen Affinität zur Geschichte ökonomischen Denkens neigen. Der gravierende Fehler aber, dass man sich damit begnügt und die Ordnungsökonomik so zu einer »Kathederwissenschaft« verkommt, deren glorreiche Geschichte gebetsmühlenartig vom Katheder gelehrt, nicht aber weitergedacht wird, wurde zuletzt im »jüngsten Methodenstreit« nicht ganz zu Unrecht früheren Generationen ordoliberaler Lehrstuhlinhaber vorgeworfen. Daraus haben heutige Ordnungsökonomen gelernt. Neue Ordnungsökonomik wird heute, sei es im Rahmen von Programmen wie »Philosophy, Politics and Economics« (etwa an der Universität Witten/Herdecke) oder »Plurale Ökonomik« (demnächst an der Universität Siegen), deshalb mit theoriegeschichtlichem Nexus unterrichtet, damit Studenten sich an den Gedankengebäuden der »Giganten« reiben und daran wachsen können, statt vor ihnen in Ehrfurcht zu erstarren. Ein Comeback der Geschichte des ökonomischen Denkens – noch ein sehr zartes Pflänzchen – wäre für den Liberalismus deshalb eine immense Bereicherung, weil große Teile der liberalen Ideengeschichte gerade im ökonomischen Denken ihren Ausdruck gefunden haben. Diese Ideengeschichte wieder jenseits von Plattitüden und Klischees auch unter jüngeren Ökonomen zu kennen und kritisch zu diskutieren, wäre ein Riesengewinn auch für den gesellschaftlichen Diskurs über die Freiheit und ihre Voraussetzungen.
3. Ordnungsökonomik als kreativer Antreiber: Jede Wissenschaft braucht Dynamik. Die Vertreter des isolierenden mainstream erwecken oft in Debatten um die Zukunft des Faches den Eindruck, dass sie methodologische Diskussionen für verlorene Liebesmüh halten, was als Stolz auf die Beherrschung ihrer komplexen quantitativen Verfahren verstanden werden kann oder aber als Selbstzufriedenheit des alten ökonomischen Standesdünkels einer »Physik der Sozialwissenschaften«. Der Neuen Ordnungsökonomik kommt hier die wichtige Querdenker-Rolle zu, diese Selbstzufriedenheit zu stören und auch nach anderen Wegen zu suchen. Im Lichte jahrzehntelanger »Verstehen vs. Erklären-Debatten« in den Sozialwissenschaften können gerade Ordnungsökonomen die Frage stellen, ob ein qualitatives Verstehen wirtschaftlicher Prozesse nicht eine gewinnbringende Ergänzung für ein Fach darstellt, das ansonsten in seiner mathiness zu erstarren droht. Mit diesem Begriff kritisierte der renommierte Makroökonom Paul Romer jüngst nicht nur die ausschließliche Fixierung des Faches auf die Sprache der Mathematik, sondern auch die Praxis, Mathematik gerade nicht für eine höhere Transparenz, sondern für das Kaschieren eigener, in die Modellierung eingebauter Werturteile zu verwenden.[11] Eine solche andauernde kritische Reflexion könnte die Ökonomik wieder zu einem bunten Fach werden lassen, in dem verschiedene Ansätze in einen fruchtbaren Wettbewerb miteinander treten – und wäre so auch für die Öffentlichkeit wieder ein interessanter Sparringspartner, womit wir bei der vierten Rolle wären.
4. Ordnungsökonomik als Bürgerberatung: Es ist befremdlich, wenn man auf Tagungen gerade bei jungen Kollegen eine Aversion gegenüber einem Dialog mit der Gesellschaft vernimmt. Zwar sind die Anreize des heutigen Wissenschaftsbetriebs eindeutig nicht zugunsten solcher Tätigkeiten gesetzt. Gleichzeitig leben wir aber in einer Welt, in der eine politökonomische Krise die nächste jagt. Sich in Zeiten mannigfacher und überlappender Krisen in Enthaltsamkeit gegenüber der Öffentlichkeit zu üben, muss verwundern; ganz davon abgesehen, dass hierzulande fast alle Ökonomen auf öffentlich finanzierten Posten forschen. Das heißt natürlich nicht, dass jeder in der Profession gleichermaßen nach außen kommunizieren soll – gerade unserem Fach muss das Prinzip der Vorteile aus Arbeitsteilung klar sein. Es heißt aber schon, dass wenn jemand das Jaspers’sche »Wagnis der Öffentlichkeit « eingeht, er dafür von seinen im Elfenbeinturm verharrenden Kollegen – wobei die Legitimität dieser akademischen Ausrichtung nicht bestritten werden soll – Respekt und nicht Hohn verdient hat.
Es sind gerade die Ordnungsökonomen, die hier als Kommunikatoren infrage kommen, die in ihrer qualitativen Forschung auf eine geübte Sprache angewiesen sind und diesen Trumpf auch gegenüber der Öffentlichkeit nutzen sollten. Dabei geht es mir in Anlehnung an Susanne Cassel nicht so sehr um Politikberatung im Sinne von Politikerberatung, sondern um Politikberatung als Bürgerberatung für all jene, die politökonomisch interessiert sind.[12] Ich gehe natürlich nicht von einer Parteinahme der Ordnungsökonomen zugunsten des organisierten Liberalismus aus, verspreche mir aber von ihrer bürgerberatenden Aktivität eine bessere Qualität des politökonomischen Diskurses insgesamt, wo auch die liberalen Positionen an Qualität gewinnen müssen, um Anklang zu finden.
Ich glaube nicht, dass eine solche Ausrichtung utopisch ist: Durchaus gibt es Wissenschaftler, die hier als role model dienen können. Friedrich August von Hayek etwa, einer der fruchtbarsten liberalen Denker des 20. Jahrhunderts, lässt sich gut entlang der skizzierten vier Rollen beschreiben. Mit dem Verlassen der isolierenden Ökonomik in den späten 1930er Jahren wurde er mit seiner Ordnungsökonomik in den darauffolgenden Jahrzehnten erstens zu einem permanenten Grenzgänger zwischen den Sozialwissenschaften. Zweitens hat Hayek enorme Energien in den Erhalt und die Revitalisierung der Theoriegeschichte investiert. Drittens war er methodologisch mit dem Rationalitätsparadigma zunehmend unzufrieden und hat mit seinem erkenntnistheoretischen Hirnforschungs-Exkurs in den 1950er Jahren zur Begründung der Neuroökonomik beigetragen. Und viertens war er ein genuin politischer Ökonom, da er wesentlich das Format des liberalen think tank im Großbritannien der 1950er Jahre prägte und über dieses Format, direkt und indirekt, zum Umschwung des gesellschaftlichen Klimas in der angelsächsischen Welt vor und während der Thatcher-Reagan-Revolution beitrug.
Eine These zum Abschluss: Wir leben sicher nicht in der besten aller möglichen Welten, nach meiner festen Überzeugung aber in der freiheitlichsten, die es historisch je gegeben hat – bei allen Schwierigkeiten, mit denen die westliche Welt derzeit konfrontiert ist. Die liberale Ordnung ist offensichtlich eine fragile, wie uns täglich vorgeführt wird. Extremismen aller Couleur, im Inland wie im Ausland, versuchen, diese Fragilität auszunutzen. Zugleich weist diese Ordnung aber, in den Begriffen des englischen Ordnungsökonomen Mark Pennington, einen hohen Grad an Robustheit auf.[13] Diese Robustheit ist umso mehr gegeben, je mehr sich Sozialwissenschaftler in die oft hysterischen Debatten einmischen und zu deren Versachlichung und Abkühlung beitragen. Ob wir nationale, supra- oder internationale Institutionen meinen: Diese benötigen bei aller Unvollkommenheit nicht den Presslufthammer, sondern das Skalpell.
Damit die liberale Bürgergesellschaft die Flut an krisenhaften Bildern verarbeiten kann, ohne unterkomplexen Lösungsvorschlägen und damit dem Chaos zu verfallen, benötigt sie einen Ordnungsdiskurs über die Wirtschaft und Gesellschaft von morgen. Die Stimme einer Neuen Ordnungsökonomik wäre da sicher eine Bereicherung.
Anmerkungen:
[1] Karen Horn, Der Bankrott der Ökonomen. Die Finanzkrise enthüllt auch das Versagen der Wirtschaftswissenschaften, in: Internationale Politik, H. 12/2008, S. 54–55, hier S. 54.
[2] Vgl. Volker Caspari u. Bertram Schefold (Hg.), Wohin steuert die ökonomische Wissenschaft? Ein Methodenstreit in der Volkswirtschaftslehre, Frankfurt a. M. 2011.
[3] Vgl. Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen 2007, S. 43–94.
[4] Vgl. Peter J. Boettke, Living Economics. Yesterday, Today, and Tomorrow, Oakland 2012, S. 42–65.
[5] Hans Albert, Wirtschaft, Politik und Freiheit. Das Freiburger Erbe, in: Nils Goldschmidt (Hg.), Wirtschaft, Politik und Freiheit, Tübingen 2005, S. 405–419, hier S. 414.
[6] Vgl. Stefan Kolev, Neoliberale Staatsverständnisse im Vergleich, Stuttgart 2013, S. 271–283.
[7] Vgl. Ekkehard A. Köhler u. Stefan Kolev, The Conjoint Quest for a Liberal Positive Program: »Old Chicago«, Freiburg, and Hayek, in: David M. Levy u. Sandra J. Peart (Hg.), F. A. Hayek and the Modern Economy. Economic Organization and Activity, New York 2013, S. 211–228.
[8] Vgl. Gebhard Kirchgässner, Wirtschaftspolitik und Politiksystem: Zur Kritik der traditionellen Ordnungstheorie aus der Sicht der Neuen Politischen Ökonomie, in: Dieter Cassel u. a. (Hg.), Ordnungspolitik, München 1988, S. 53–75.
[9] Vgl. Viktor Vanberg, Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Jg. 48 (1997), S. 707–726.
[10] Vgl. Nils Goldschmidt u. a., Was ist und was kann Ordnungsökonomik?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.06.2009.
[11] Vgl. Paul M. Romer, Mathiness in the Theory of Economic Growth, in: American Economic Review, Jg. 105 (2015), H. 5, S. 89–93.
[12] Vgl. Susanne Cassel, Politikberatung und Politikerberatung. Eine institutionenökonomische Analyse der wissenschaftlichen Beratung der Wirtschaftspolitik, Bern 2004, S. 75–114.
[13] Vgl. Mark Pennington, Robust Political Economy. Classical Liberalism and the Future of Public Policy, Cheltenham 2010, S. 2–12.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016