Wir brauchen weniger »Mehr« Ein Plädoyer für Freiräume und Experimente in der Stadt

Von Van Bo Le-Mentzel

Experiment Eins: Unreal Estate House

Mitten in der Stadt, am See, am Park, im Wald. Das ist die Idee hinter einem Projekt, welches ich 2012 gemeinsam mit dem Stahlbauer Wolfgang Ramisch in München – dem teuersten Pflaster Deutschlands – initiiert habe: Das Unreal Estate House. Ein Selbstbauwohnwagen. Auf einem Anhänger. Sechs Quadratmeter groß. Küche mit Gaskocher inklusive und die Toilette ist weggeklappt unter dem Tresen. Im Obergeschoss ein Schlafplatz mit einer 200 cm × 80 cm Matratze. 5.000 Euro Materialkosten. Anleitung gibt es kostenfrei dazu. Inklusive Anleitung zur Crowdfunding-Finanzierung, falls man das Geld nicht parat hat.

Stellen Sie sich vor, jeder, der gerne baut und keine Angst vor Camping hat, würde sich so ein Unreal Estate House in seine Straße stellen. Können Sie sich vorstellen, was das mit den Straßen machen würde? Mit dem nachbarschaftlichen Kit? Wer mit Wasser aus einem zehn Liter Wasserkanister duscht, wird ein anderes Verständnis für Wasserverbrauch haben. Wer nur einen begrenzten Raum für Aufbewahrung hat, wird nicht so viel kaufen und konsumieren. Wer so ein Häuschen vor seinem Lieblingspark oder Lieblingscafé aufstellt, wird mit einer ganz anderen Leichtigkeit auf dem Arbeitsmarkt auftreten. Man wird nicht jeden Job annehmen (müssen), jedes Praktikum und jedes Volontariat. Nur des Geldes wegen. Wenn es hart auf hart kommt, zieht man einfach in seine unwirkliche Residenz, und lebt den unrealen Status Quo – den ultimativen Unreal Estate. Das ist ein Ort, wo man dank gebührenfreier Parkplätze keine Miete zahlen muss. Freiraum. Wer nicht so ganz Minimalist ist, kann ja seine Wohnung behalten und während finanzieller Durststrecken gegen Geld untervermieten und lebt stattdessen temporär in seinem Parkplatzpalast. Natürlich ist das alles völlig illegal. Es ist ja auch ein Experiment.

Denn wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Und deshalb ist es so wichtig, dass man als Unreal Estate Häusler von Anfang an eine gute nachbarschaftliche Beziehung aufbaut. Denn Wasser zapft man am besten beim Nachbarn ab. Öffentliche Trinkbrunnen gibt es kaum in der Stadt. Ein guter nachbarschaftlicher Wille ist also Grundvoraussetzung für ein Gelingen dieser Unreal Estate Mentalität. Heute ist es so, dass jeder, der Geld hat, sich in eine Nachbarschaft einkauft. Der nachbarschaftliche Wille ist völlig irrelevant.

Doch wer in der Stadt wohnen will, muss sich in Toleranz üben. Gegenüber den vielen unterschiedlichen Bedürfnissen, die Nachbarn so haben. Und sich seiner Pflichten bewusst sein. Es ist utopisch zu glauben, dass sich schon irgendjemand um den Obdachlosen vor der Haustür kümmert oder um die einsame, nachts wimmernde Oma in der ersten Etage. Und kann es sein, dass da Kinder geschlagen werden in der vierten Etage im Seitenflügel? Wo wird so etwas eigentlich gelehrt? Warum gibt es keine Ausbildung zum staatlich anerkannten Nachbarn mit Stadttoleranz? So wie der Führerschein auf den Autoverkehr vorbereitet, wird kaum jemand auf das Leben in der Stadt vorbereitet. Kein Wunder, dass viele von uns Pillen schlucken müssen, um hier in den Schlaf zu finden.

Experiment Zwei: ARtist Residency Office Wonder (ARROW)

Dieses Experiment richtet sich an Selbstständige. Ich habe Freunde, die am Potsdamer Platz 1 wohnen, in einem der schicken Hochhäuser, und einige Etagen tiefer noch mal eine Wohnung gemietet haben, die sie als Büro nutzen. Ich verstehe, dass viele Unternehmer Arbeit und Privatleben trennen müssen, weil sie sich sonst in ihrem Zuhause nicht mehr zu Hause fühlen. Doch über eines müssen sich diese Unternehmer im Klaren sein. Eine weitere Immobilie erzeugt zusätzlichen Druck. Zur privaten Belastung kommt noch eine berufliche hinzu. Doppelte Ausgaben.

Ist es das wert? Logisch betrachtet, ergibt das jedenfalls wenig Sinn. Allein die Aufenthaltsdauer in der eigenen Wohnung beträgt maximal 14 Stunden pro Tag. Wir zahlen aber für 24. Und beim Büro ist es genau umgekehrt: Wir nutzen es neun bis 14 Stunden, zahlen aber auch hierfür 24 Stunden. Wir buchen also zusammengenommen Räume für 48 Stunden, nutzen sie aber nur maximal 24 Stunden lang. 24 Stunden stehen diese Räume einfach ungenutzt leer. Und wenn man sich überlegt, wie viele Freelancer stundenweise oder Touristen tageweise diese begehrten Räume brauchen, wird es einfach nur absurd. Touristen belegen dann Hotel- oder Ferienappartementräume, die sie maximal zwölf Stunden pro Tag nutzen. Damit provozieren sie noch mehr ungenutzten Raum.

Unser Wohn- und Mietverhalten ist dominiert durch Nicht-Nutzung. Man könnte das auch Verschwendung von Ressourcen nennen. Das wäre so, als ob man in einem Hochhaus darauf bestehen würde, den Fahrstuhl ganz allein für sich zu nutzen. Oder dem Taxifahrer, der einen zum Fahrtziel bringt, verböte, bis zum Abholtermin andere Fahrgäste aufzunehmen.

Ich denke, es hängt immer vom Einzelfall ab, ob die eigene Wohnung sich eignet, auch beruflich genutzt zu werden. Aber einen Gedanken wäre es wert. Immerhin spart man sich die Hälfte der Mietkosten. Für viele Arbeiten reichen Cafés mit WLAN oder Coworking Spaces aus. Ich habe weder Büro noch Werkstatt. Ich habe ja noch nicht mal eine Website. Ich nutze die Ressourcen, die da sind: Das Uppers Café bei mir um die Ecke, das Familienzentrum Kreuzberg mit Elternkind-Café und großem Besprechungstisch, oder im Sommer die Sitzbänke im Gleisdreieckpark. Hin und wieder verabrede ich mich in den Büros meiner Freunde und darf anschließend einfach in deren Meetingräumen weiterarbeiten. Es geht immer um Nutzung von Ungenutztem. Befreiung der Welt von »Unnutz«. Und grob gesagt erspart man sich mehrere Tage Arbeit, weil man nicht für die Immobilienindustrie arbeitet, sondern ausschließlich für den Kunden.

Andersherum wird auch ein Schuh daraus. Warum richten sich Unternehmer nicht in ihren Büros ein Miniappartement ein? Der wohl bekannteste Chef, der dieser Philosophie folgt, dürfte Heini Staudinger heißen. Der Gründer der Ökofiliale GEA und Herausgeber des Brennstoff-Magazins schläft der Legende nach in der Werkstatt seiner Schuhmanufaktur. Sie können sich vorstellen, dass diese Manufaktur in der Aufenthaltsqualität nicht verkümmern kann, weil sie nicht nur benutzt wird, sondern bewohnt. Ein Bewohner haucht einem Raum sprichwörtlich Leben ein. Der Berliner Multimillionär Zapf (Zapf Umzüge) hat zwar nicht in seinen Containerparks geschlafen, soll sich aber mit einer Matratze in einer Einzimmerwohnung begnügt haben. Man muss nun nicht gleich ein Hippie werden. Eine Schlafcouch wäre schon ein guter Anfang. Duschen wären prima im Büro, aber notfalls sollte Katzenwäsche im Bürobad reichen.

In unsere Open Academy Bar im Dachgeschoss der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, wo meine Studierenden sich wöchentlich zusammenfinden, haben wir eine Schlafcouch hineingetragen. Die Uni steht tagsüber überwiegend leer, abends oder nachts ist da erst recht nichts los. Studenten verbringen den größten Teil ihres Studiums außerhalb der Universitätsgebäude, so scheint es mir. Richtig so. Doch was machen wir mit dem ungenutzten Raum? Deshalb ermutige ich Künstler und andere Menschen mit wenig Geld, die Räume von ihrer Nichtsnutzigkeit befreien wollen. Künstler, Nachbarn, Freunde unserer Studierenden können die Open Academy Bar mieten. Für gutes Karma. Bargeld dürfen wir ohnehin nicht annehmen.

Auf diese Weise wurden da schon Geburtstage gefeiert, und einem Graphic Novel-Künstler aus Potsdam haben wir auch schon Obdach gegeben. Wieviel Raum braucht man für so eine temporäre Schlafgelegenheit? Eigentlich nicht viel. Vielleicht vier Quadratmeter und ein Fenster sowie ein WC in Reichweite. Wie viele Pförtnerhäuschen stehen in Deutschland leer? Wie viele Büroräume und Lagerhallen stehen leer? Wie viele Schuppen stehen leer? Es gibt hierzu nur Schätzungen, aber ich gehe davon aus, dass fast mehr als jeder Zweite unserer achtzig Millionen Deutschen über einen solchen Raum verfügt, der nicht genutzt und blockiert wird von nutzlosem Zeug. Wäre es nicht toll, wenn es ein Bau-Set gäbe, eine Art Pop-up Mini Wohnung, die man wie ein Zelt in jeder Büroecke aufploppen lassen könnte?

Genau das ist die Idee hinter dem ARtist Residency Office Wonder, kurz: ARROW (auf Deutsch: Pfeil); eine Art Hochbett aus vier Holzmodulen, welches auseinander geklappt eine Trennwand sein kann für einen Konferenzbereich oder ein Regal für Broschüren und Aktenordner. Abends werden die vier schrankartigen Module zusammengeschoben und oben entsteht aus vier Polstern ein Schlafplatz. Ich experimentiere gerade im Theater Heimathafen Neukölln mit dieser Idee, denn gerade in Theatern gibt es viele ungenutzte Räume.

Deutschland meidet Arrows. Zu tief ist in uns der Effizienzwahn verankert. Alles muss feinsäuberlich getrennt werden. Man sieht es an unserem Lebensverhalten: Kinder in die Kita, Schüler in die Schule, Jugendliche ins Jugendzentrum, Eltern ins Elternzentrum, Arbeiter zur Arbeit, Senioren ins Seniorenheim, Flüchtlinge ins Flüchtlingsheim. Wenn wir nicht Kind, Schüler, Eltern oder Arbeiter sind, werden wir zu Konsumenten gemacht. Es gibt kaum einen öffentlichen Ort in einer Stadt, wo man ohne Konsumzwang verweilen darf.

Die Stadt macht aus den Menschen keine Städter, sondern rastlose Konsumenten. Die Stadt macht uns zu Statisten des Kapitalismus. Nur wenige werden echte Städter. Wie erfrischend ist dann mal eine Freifläche wie der Berliner Flughafen Tempelhof als Park. Es wundert mich nicht, warum eine Bürgerbewegung sich so vehement gegen eine »Vermehrwertung« der Freiflächen eingesetzt hat. Denn auch ein Wohngebäude und eine Bibliothek ist nichts anderes als eine weitere lineare Verfunktionalisierung von freien Räumen.

Sie sagen, es gäbe nicht genug Raum für Wohnungen und Büros und Bücher in Berlin. Wer die vielen leerstehenden Bürogebäude, Schulen und Bahnhöfe in Berlin sieht, kann das kaum glauben. Mehrwerte schaffen. Arbeitsplätze schaffen. Das alte Credo der Investoren. Ich bin der Meinung, wir müssen nicht mehr Werte schaffen. Wir müssen lernen, die bestehenden Werte zu erkennen und zu pflegen – und ich meine damit nicht Denkmalschutz.

Das Schöne an dem Arrows-Projekt ist: Man kann diese Installation nicht kaufen und stupide konsumieren wie ein Billy-Regal. Nein, man muss es selber bauen, die Abmessungen anpassen an die eigenen Bedürfnisse. Alleine wird man das kaum schaffen. Man braucht Verbündete. Man muss den Nachbarn wegen seines Akkubohrers anhauen. Aus Do It Yourself wird Do It Together. Gemeinsam wachsen. An Erfahrungen und an nachbarschaftlicher Intelligenz.

Noch halten mich viele für verrückt, wenn ich sage, dass eine Schlafcouch in einem Büro die Revolution sein könnte. Die Berliner Crowdfunding-Firma Startnext hat es verstanden, dort schlafen die Gesellschafter hin und wieder auf einem selbstgebauten Hochbett; das Theater Kampnagel hat es verstanden, die haben sich gar eine kleine Favela in den Garten gebaut mit Flüchtlingen. Noch sind wir wenige. Schauen wir mal, wie das Experiment ausgeht.

Anmerkungen:

[1] D-Class, URL: www.dclass.de [eingesehen am 13. 04. 2015].

[2] Hartz IV Möbel, URL: www.hartzivmoebel.de [eingesehen am 13.04.2015].

[3] Konstruieren statt konsumieren, Build more buy less, URL: https://www.facebook.com/buildmorebuyless [ein-gesehen am 13.04.2015].

[4] Vgl. Stephen Emmott, Ten Billion, New York 2013.

[5] Free Your Data, URL: www.freeyourdata.org [eingesehen am 13.04.2015].

[6] Vgl. Gabor Steingart, Unser Wohlstand und seine Feinde, Hamburg 2013.

[7] Vgl. Dirk Müller, Showdown. Der Kampf um Europa und unser Geld, München 2013.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015