Wir brauchen weniger »Mehr« Ein Plädoyer für Freiräume und Experimente in der Stadt
Ich habe mich verliebt. Vor sieben Jahren. In ein Stadtviertel namens Kreuzberg, in einen Job als Designer und vor allem in eine schöne Frau. Meine Freundin und ich zogen an den Mehringdamm, ganz in der Nähe der gastronomischen Touristensensation Curry 36. Wir zahlen für unsere 54 qm Wohnung noch immer in etwa 450 Euro (sic!) mit Strom, Gas und allem Drum und Dran. So viel zahlen heute Studenten in Kreuzberg für ein Fünftel des Wohnraumes in einer Wohngemeinschaft. Wer heute nach Kreuzberg zieht und nicht in einer WG lebt, ist entweder reich, hoch verschuldet oder kennt den Eigentümer. Denn Kreuzberg zählt mit Neukölln zu den Immobilienflecken Deutschlands, die die größten Mietsteigerungen verzeichnen. Alles nicht so schlimm, könnte man meinen. In jeder Hauptstadt findet Bewegung statt. Forscher nennen es Gentrifizierung. Meine Nachbarn nennen es Vertreibung.
Meine Freundin und ich sind mittlerweile verheiratet. Aus eins und eins wurde drei und der Dritte im Bunde heißt Henri. Wir lieben den Kiez hier, bei unserem Italiener gegenüber hatten wir unsere ersten Rendezvous, dann unsere Hochzeitsfeier, heute stellen wir einen Kinderstuhl zu unserem Date dazu. Doch mit großer Wahrscheinlichkeit werden Menschen wie wir in einigen Jahren wegziehen müssen. Nach Marzahn in einen Plattenbau. Das sei der einzige Ort in Berlin, wo eine Drei- oder Vierzimmerwohnung noch bezahlbar ist, sagen Makler. Oder ich ändere meine Einkommensstrategie und trete stärker ins Karrierehamsterrad und versuche mehr Geld zu verdienen.
Das passt mir gerade nicht so sehr. In der Tat versuche ich im Selbstexperiment gerade einen möglichst großen Bogen um dieses Rad zu machen. Weg davon, Dampf zu machen im Kessel des Kapitalismus. Denn mich erschleicht das Gefühl, dass nur viel Kohle macht, wer sich viel verheizt. Reichtum hat immer etwas Ausbeuterisches. Immer.
Diese Situation hat mich dazu gebracht, mein Leben etwas experimenteller anzugehen. Über ein Crowdfunding habe ich mir ein Grundeinkommen für ein Jahr gesichert. Das Projekt nennt sich Democratic Scholarship und ermöglicht es mir, ein Jahr lang ohne Druck zu arbeiten. Ehrenamt ohne Amt und Ehre. Ich nenne es bedingungsloses Grundarbeiten. Mehrere Projekte sind durch solch eine druckfreie Arbeitsethik möglich: Zum Beispiel die Bildungskonferenz D-Class;[1] oder eine Gastprofessur an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, wo ich mein Professorenhonorar den Studierenden vermache. Mal schauen, was das Geld mit den Studenten macht. Ein Experiment eben.
Kürzlich bin ich mit Managern der Berliner Stadtreinigung BSR zum Recyclinghof gefahren und habe ihnen gezeigt, wie man aus Restholz Möbel macht. Ein Versuch, um dem Müllunternehmen Ideen zu geben, damit sie ein Stück weit von ihrer bisherigen Strategie abrücken. Hartz IV Möbel heißt das Projekt.[2] Wieder ein Experiment.
Wer kann es sich eigentlich noch leisten, seine Arbeitszeit und Kreativität dem Gemeinwohl zu widmen? Auf jeden Fall nicht diejenigen, deren Köpfe vierzig Stunden pro Woche okkupiert werden durch artfremde Gedanken (z. B. Erwerbsjob) und deren Körper vierzig Stunden pro Woche bestimmt werden durch artfremde Dauerzustände (z. B. sitzen). Als ob es nicht genug Arbeit auf der Welt gäbe. Windeln wechseln, Freundschaften pflegen, sich um alte Menschen in unserer Familie kümmern, sich einbringen für eine gute Nachbarschaft, Ungerechtigkeiten bekämpfen, sich politisch einbringen, für die Umwelt. Staubsaugen. Keller ausräumen. Fahrräder reparieren, kaputte Geräte instand setzen. Kochen. Gartenarbeit. Krankheiten auskurieren. Für Menschen da sein, die Hilfe benötigen.
Es gibt so viel zu tun. Warum sollten wir denn da noch zusätzlich neue Arbeit schaffen, die uns Menschen immer nur weiter entfremdet von unseren Familien, Freunden, der Gesellschaft und der Umwelt? Für das Bruttosozialprodukt- Ranking? Macht ein hohes BSP mich weniger einsam? Sorgt ein hohes BSP für ein besseres Verhältnis zwischen mir und meinen Kindern? Macht ein hohes BSP Menschen glücklicher? Wohl kaum. Wir brauchen nicht mehr Werte. Wir brauchen auch nicht mehr Arbeit. Wir brauchen weniger »Mehr«.[3]
Experimente mögen keinen Druck. Experimente brauchen Freiräume und Zeit. Und wir brauchen sie mehr denn je. Denn ohne Experimente werden wir keine neuen Ideen entwickeln. Und wir brauchen von diesen neuen Ideen mehr denn je. Denn die nächsten zwanzig Jahre werden in Deutschland und weltweit große Fragen aufwerfen. Europa scheint zu zerbröseln. In Portugal ist die Hälfte der Jugendlichen ohne Erwerbsjob. Flüchtlinge fliehen vor Krieg, Armut und Klima und strömen nach Deutschland. Unser Konsumverhalten bringt die Erde an die Grenzen ihrer Kapazitäten. In vielen Städten kann man das spüren. Venedig steht unter Wasser. Staudämme werden gebaut. Der Rio Grande in den USA und zahlreiche andere Flüsse wie der Nil in Ägypten oder der Gelbe Fluss in China versickern unwiederbringlich. Den Aralsee, einen der einstmals größten Binnenseen weltweit, müssen Sie aus Ihrem Atlas streichen. Wir zerstören unsere Lebensgrundlagen.
Und wie reagieren wir auf diese klimatischen Brandherde? Wir kippen Öl ins Feuer: Höher, schneller, weiter. Mehr Kredite, mehr kaufen, mehr wegschmeißen und verbrennen, mehr Klimagipfel, mehr (Bio-)Fleisch. Mehr von allem, und alles sofort. Wie kommen wir da raus? Um einen guten Gedanken fassen zu können, braucht man Freiraum und Zeit. Doch Freiraum und Zeit werden ein knappes Gut sein in der Stadt von morgen. Die Erdbevölkerung konzentriert sich zunehmend in Städten. 10 Milliarden Menschen werden es vielleicht in 2050 schon sein.[4] Pessimisten sehen es schon kommen. Während im kalten Krieg noch Blut für Öl vergossen wurde, wird in der Welt von morgen das Blut für andere Ressourcen fließen: Wasser, Getreide – und vor allem Daten. Wer die Emails der Menschen besitzt, hat die Macht. Nur fünf Firmen sollen im Besitz der Serverzentren der Welt sein, wo all unsere Fotos, Nachrichten und kleinen Geheimnisse gespeichert sind. Unwiderruflich gespeichert, so sagt es Thomas Reimers, Begründer der Free Your Data-Bewegung[5], die sich für eine Gesetzesnovelle einsetzt: Wer mehr als eine Million User in seinem Kundenstamm zählt, muss auf Verlangen alle gespeicherten Daten seines Users vorzeigen können und löschen.
Apokalyptische Prognosen werden gemacht. Die einen sprechen von einer Verschärfung der Weltordnung, wo ein sehr exklusiver Club über eine immer größere Mehrheit bestimmt. Gabor Steingart, Herausgeber des Handelsblatts, spricht vom »Wolfskapitalismus«.[6] Wölfe gehorchen nicht den Menschen. Sie rauben im Rudel und hinterlassen Angst und Schrecken. Zuletzt hat der Finanzmarkt gezeigt, wie so etwas aussehen kann. Dirk Müller, ein Börsenexperte, behauptet, dass das Finanzsystem so ausgerichtet sei, dass es wegen seines Zinseszinsprinzips unausweichlich in einen Kollaps führe.[7] Es könnte in zwanzig Jahren passieren. Vielleicht aber auch schon in fünf. Massenarbeitslosigkeit. Man wagt nicht daran zu denken, welche Parteien in Deutschland dann gewählt werden, wenn die Große Depression noch mal kommen sollte.
All das klingt betäubend. Was kann ich als einzelner Mensch noch tun? Nur noch Bio-Essen bestellen? Doch auch ein Bioschwein wird nicht zu Tode gestreichelt, sondern geschlachtet. Auch Bioeier können nicht verhindern, dass die männlichen Küken industriell geschreddert werden. Auf ein Fairtrade-Siegel achten, wenn ich ein Eis essen gehe? Ben&Jerrys und Starbucks haben das Siegel. Beide Konzerne sind keine Lösung für unsere gesellschaftlichen Probleme. Sie sind Teile des Problems. Wachstum, Expansion, immer mehr konsumieren. Also ist der Konsum das Problem. Sollen wir weniger einkaufen? Dann gehen Arbeitsplätze verloren. Es ist ein Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Oder doch nicht? Ein paar Diskussionsansätze will ich Ihnen mitgeben. Ich bin mir nicht sicher, ob es die Welt verändern kann, aber es ist einen Versuch wert.
Es geht um Druck. Unser gesamtes Handeln wird von einem omnipräsenten Druck beherrscht. Dem Druck, akademisch zu reüssieren, einen guten Erwerbsjob zu finden, ein gutes Leben zu haben, guten Sex zu praktizieren, schöne Selfies an schönen Urlaubsorten auf Facebook zu posten, erfolgreich zu sein und so weiter. Dabei kommt ein Drittel des Drucks, den wir uns machen, aus der Immobilienindustrie. Denn dort versickert ein Drittel bis die Hälfte unseres Einkommens – jeden Monat. Es geht um unsere Wohnung. Wenn es etwas gibt, was die German Angst beflügelt, dann die Furcht davor, die Wohnung zu verlieren. Das mag ein Grund sein, warum die Zeitschrift Landlust so gut verkauft wird und IKEA in nahezu keinem Land so beliebt ist wie in Deutschland. Die Deutschen lieben ihre Wohnung, ein Häuschen, einen Garten. Und es fällt uns Deutschen nicht auf, dass eine Doppelhaushälfte in Wirklichkeit das eigene Haus nicht größer macht.
Nun stellen Sie sich vor, wir könnten uns von diesem ganzen Drittel des Drucks befreien. Stellen Sie sich vor, wir müssten alle keine Miete mehr zahlen. Jeder hätte ein Dach über dem Kopf, nicht irgendwo »in der Pampa«, sondern da, wo er gerne lebt oder arbeitet. Hierfür habe ich zwei Experimente entwickelt.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015