Editorial

Von Matthias Micus  /  Katharina Rahlf

Bürgerwut, also Ursachen, Anlässe und Erscheinungsformen der Proteste nicht selten etablierter Gutverdiener – mithin Formen der Kritik und des Dagegenseins – waren die Themen der letzten Ausgabe von INDES. Doch welche positiven Gesellschaftsentwürfe schließen sich den Unmutsbekundungen an, wohin soll es gehen, wenn der aktuelle Zustand nicht behagt, wofür wird protestiert? Oder aber liegen all der Wut und Kritik womöglich gar keine solchen Ideale zugrunde, erschöpft sich der Protest in der bloßen Missfallensbekundung? Im vorliegenden Heft soll es daher nun um einen positiven Antriebsstoff für Engagement, Partizipation, Einmischung gehen – um große Erzählungen, Entwürfe idealer Gesellschaften, umfassende Alternativen, welche die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen. Kurz: Wir begeben uns auf die Suche nach Utopia.

Aber warum sollte man überhaupt danach suchen? Ist das Zeitalter der geschlossenen Weltbilder, deren Protagonisten sich im Besitz der alleinigen Wahrheit zu befinden meinten, nicht vorbei? Und muss man darüber nicht glücklich sein, da kollektives Sendungsbewusstsein zu Einseitigkeit, Intoleranz und Machtanmaßung tendiert, weshalb die Hochzeiten miteinander konkurrierender utopischer Ideologien nicht zufällig auch Hochzeiten politischer Gewalttätigkeit und totalitärer Regime waren? Dann wäre es geradezu wünschenswert, die Suche verliefe erfolglos. Doch das ist nur die negative Seite. Denn andererseits stimmt eben auch, dass Heilsbotschaften Orientierung stiften und die Ziellosigkeit eines begründungsfreien Pragmatismus Leere produziert. Die schiere Gegenwärtigkeit hingegen fördert richtungslose Betriebsamkeit und mündet allzu oft in Paralyse und Apathie. Dagegen vermögen Utopien wie ein integrativer Kitt zu wirken, sind sie als Bindemittel vielleicht gerade in den so heterogenen wie angeblich entideologisierten Gegenwartsgesellschaften nützlich, ja unentbehrlich. Zudem – nur nebenbei – lässt sich auch fragen, ob nicht auch die vehemente Absage an jede überschwängliche Vision selbst schon wieder den Charakter einer Leiterzählung in sich trägt – die Utopie der Utopielosigkeit, wenn man so will.

In diesem Spannungsfeld zwischen kategorischer Ablehnung und prinzipieller Wünschbarkeit von Utopien jedenfalls bewegen sich die einzelnen Texte dieses Heftes. Herausgekommen ist eine Vielfalt von Analysen, Porträts und Inspektionen, in denen der Utopie der gesellschaftlichen Mitte und dem Traum internetbasierter Transparenz ebenso nachgegangen wird wie den Zukunftsvisionen der ergrauenden Gesellschaft oder dem Denken der Zukunftsforscher. Auch über den nationalen Tellerrand wird geschaut, auf den amerikanischen Konservatismus ebenso wie die schwedische Sozialdemokratie. Kurzum: Mit der Zukunft der Utopien sowie den Utopien der Zukunft – eben damit befasst sich die neue Ausgabe von INDES.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2012| © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012