»Jahrhundert der Lager« Sport als Gewaltpraxis [1]

Von Anke Hilbrenner

»Nachmittags mussten wir zum Exerzieren antreten. Die alten Lagerinsassen nannten es Sport. […] Auf dem riesigen Appellplatz lag heiße Sonne, vier SS-Scharführer erwarteten uns, empfingen uns und vor allem die heranhumpelnden Fußkranken […]: wir werden Euch schon fertig machen! Dann hieß es Laufschritt, marsch, marsch!«[2]

Sport im Lager unter den Bedingungen von Repression, Hunger, Gewalt und Ermordung löst bei den Beobachtern häufig genug einen Abwehrreflex aus. Unter diesen Bedingungen muss Sport erzwungen werden und ist damit Teil des Repressions- und Gewaltapparates. Dennoch gab es auch freiwilligen Sport in Lagern, auch in Konzentrations- und sogar in Vernichtungslagern.

Doch diese Praxis wirft erst recht Fragen auf: Wie können Menschen unter diesen Bedingungen freiwillig Sport treiben? Wie ihrem Körper, der von Entbehrungen durch Arbeit und Folter ohnehin strapaziert ist, weitere Belastungen zumuten? Zudem wird Sport vor allem in Bezug auf die anderen Lagerinsassen, die möglicherweise nicht oder nicht mehr stark genug sind, zum moralischen Dilemma, wie in den (fiktiven) Erzählungen aus den Vernichtungslagern von Tadeusz Borowski mit dem Titel »This way for the gas, ladies and gentleman«, in denen er einen Fußballtorwart in Auschwitz- Birkenau sagen lässt: »Zwischen zwei Einwürfen in das Fußballspiel wurden direkt hinter unserem Rücken 3.000 Menschen ermordet.«[3]

»Stacheldrahtkrankheit« und pervertierter militärischer Drill

Aber das ist nur eine Perspektive auf Sport in den unterschiedlichen Lagererfahrungen im 20. Jahrhundert. Das Lager ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts[4], es ist als »Nomos der Moderne« bezeichnet worden.[5] Das Lager steht als solches für die Entgrenzung von Gewalt und Krieg in der Moderne und wurde bereits im sogenannten Zweiten Burenkrieg (1899–1902) in Südafrika zur Internierung von Zivilist*innen genutzt. Auch während des Großen Krieges 1914 bis 1918, der später aufgrund der Häufung dieser Konflikte »Erster Weltkrieg« genannt wurde, wurden Lager etabliert. Sie dienten dem Aufenthalt von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. […]

Anmerkungen

[1] Vgl. zu diesem mittlerweile geflügelten Wort stellvertretend für viele: Joël Kotek u. Pierre Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung, Berlin 2001. Dieser Text ist ein Ergebnis aus vielen Diskussionen im Umfeld einer Tagung zum Sport im Lager im Jahr 2015 und dem daraus folgenden Sammelband aus dem Jahr 2018: »Sport Under Unexpected Circumstances. Violence, Discipline, and Leisure in Penal and Internment Camps«, der bei V&R und Open Access erschienen ist. Ich möchte mich bei den Autorinnen und Autoren für die vielen inspirierenden Gespräche und die intensive Arbeit an den Texten bedanken. Mein besonderer Dank gilt meinen Mitherausgebern Dittmar Dahlmann und Gregor Feindt. Bei dem einen habe ich studiert, der andere hat bei mir studiert. Von beiden habe ich viel gelernt.

[2] Vgl. Friedrich Maase, Archiv Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Jd 2/7, Bl. 68; zitiert nach Veronika Springmann, »Sport machen«: eine Praxis der Gewalt im Konzentrationslager, in: Wojciech Lenarczyk u. a. (Hg.), KZ-Verbrechen: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager und ihrer Erinnerung, Berlin 2007, S. 92 f.

[3] Tadeusz Borowski, This Way for the Gas, Ladies and Gentleman, New York 1967, S. 84. Auch für Primo Levi wurde ein Fußballspiel zur Metapher für die Komplizenschaft und Schuld, die sich mit dem Überleben des Konzentrationslagers generell verband; vgl. dazu auch: Debarati Sanyal, A Soccer Match in Auschwitz. Passing Culpability in Holocaust Criticism, in: Representations, Bd. 79 (Summer 2002/1), S. 1–27.

[4] Alan Kramer, The World of Camps. A Protean Institution in War and Peace, in: Gregor Feindt u. a. (Hg.), Sport Under Unexpected Circumstances. Violence, Discipline, and Leisure in Penal and Internment Camps, Göttingen 2018, S. 23–41

[5] Zygmunt Bauman, Modernity and the Holocaust, Cambridge 1989; Giorgio Agamben, Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, Stanford 1998, siehe exemplarisch das Kapitel »The Camp as the Nomos of the Modern«. Vgl. dazu auch das Kapitel von Gregor Feindt und mir: Camps as Nomos of Modernity?, Feindt u. a. (Hg.), Sport Under Unexpected Circumstances, S. 43–47.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020