Editorial

Von Matthias Micus  /  Luisa Rolfes

Auf etwas schmerzhafte Weise ist im Vorfeld dieser Ausgabe, so scheint es uns, die Funktion der INDES auf uns zurückgeschlagen. Besteht diese doch dem Selbstverständnis der Zeitschrift zufolge darin, über den akademischen Arkandiskurs hinausgreifend die Informationsbedürfnisse der interessierten Öffentlichkeit zu adressieren und an gesellschaftlichen Debatten teilzuhaben, was unter den Rahmenbedingungen einer Vierteljahreszeitschrift zwangsläufig auf die Antizipation in nächster Zeit plausibel zu erwartender Diskussionsthemen hinausläuft. Ein solches Thema, so stand im Herbst 2019 zu erwarten, wäre in einem Jahr mit Olympischen Spielen und Fußballeuropameisterschaft der »Sport«, weshalb wir uns entschieden, dazu ein Heft zu machen. Doch dann kam die Corona-Pandemie dazwischen, auch sämtliche sportiven Großereignisse wurden mittlerweile abgesagt, sodass das Schwerpunktthema der vorliegenden INDES nun etwas anachronistisch anmuten mag.

Freilich lässt sich auch Gegenteiliges behaupten – und begründen. Dabei geht es nicht so sehr darum, dass der Sport auch ohne spektakuläre Gipfeltreffen der Athletenelite ein Massenphänomen ist und schon insofern mehr als nur ephemere Bedeutung für die Gegenwartsgesellschaft besitzt. Vielmehr lässt sich die Begeisterung für den Sport mit Helmuth Plessner essenziell mit der modernen Gesellschaft und der ihr entsprechenden Sozialverfassung verbinden. Plessners Darstellung in dem Aufsatz »Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft«[1] aus dem Jahr 1956 zufolge ist der Sport eine »Ausgleichsreaktion« auf die im Arbeits- und Alltagsleben unbefriedigten Bedürfnisse nach Erholung und sozialem Kontakt, Aggression und Spiel, Selbstbestätigung und Heldenverehrung.

Zunächst insofern, als die Menschen in den arbeitsteiligen, mechanisierten, bürokratisierten Gesellschaften zu bloßen »Rädern in einem Getriebe« geworden seien, »das sie selbst kaum noch überblicken und in dem sie nur noch eine Teilfunktion in einer unpersönlichen Einrichtung, in hochspezialisierter Verantwortung für irgendeine Teilaufgabe« besäßen. Die Folge sei ein Leiden an der eigenen Unsichtbarkeit, an individueller Anonymität und subjektivem Untergehen in der Masse – ein Leiden, das sportliche Siege zu kurieren versprächen. Sodann böte der Sport einen Raum, in dem die Versprechen demokratischer Gesellschaften von gleichen Rechten und gleichen Lebenschancen, die hier trotz aller rechtlichen Garantien durch die wirkungsmächtigen Effekte sozialer Herkunft, ethnischer Abstammung und geschlechtlicher Zugehörigkeit weithin und in den letzten Jahrzehnten wieder zunehmend konterkariert werden, eingelöst würden.

Denn nur hier, im Sport, finde der »entwurzelte Städter, vereinsamt und den anonymen Institutionen ausgeliefert«, eine »echte Kameradschaft« und einen »Kreis, der ihn achtet und auf ihn zählt, dem er etwas bedeutet, und zwar durch die Qualitäten, die im Alltag verborgen bleiben«, wodurch der »gleiche Anspruch auf sozialen Aufstieg, auf Anerkennung und gleiche Chance im Leben« verwirklicht werde. Wenn sich nun aber nicht zuletzt daraus, aus der Unübersichtlichkeit und sozialen Spaltung der Gesellschaft, die Bedeutung des Sports ebenso wie die Begeisterung für ihn herleiten lassen, dann dürfte beides angesichts der Corona-Pandemie, die einerseits das totale Ausgeliefertsein des Einzelnen an individuell vollkommen unkontrollierbare Phänomene markiert und andererseits in ihren Auswirkungen die sozial Schwachen besonders hart trifft, eine neue Zuspitzung erfahren.

Und auch diesbezüglich, mit Blick auf die durch das Coronavirus verursachten Gefahren für die Gesundheit, lassen sich Verknüpfungen zum Sport herstellen. Schließlich hat der Sport unzweifelhaft einen Einfluss auf die Gesundheit. Mehr noch: Dass die sportliche Betätigung zu jenen Freiheiten gehört, die den Bürgern nur in letzter Konsequenz verwehrt bleiben sollen, dürfte ganz wesentlich mit dem zugeschriebenen Nutzen des Sports für Gesundheit und Wohlbefinden zusammenhängen. Doch im Zuge der Corona-bedingten vorübergehenden Beschränkung auf den Individualsport wird der Sport eines Großteils seiner Facetten und damit seiner gesellschaftlichen und politischen Potenziale beraubt. So mögen dem Einzelnen etwa mit dem zeitweiligen Ruhen des Vereinssports zentrale Gemeinschaftserfahrungen fehlen. Und das Beispiel Olympia zeigt, dass die Bedeutung von Sportgroßereignissen vielschichtiger ist als der entspannungsselige und unterhaltungsheischende Fernsehkonsum derselben wahrscheinlich spontan vermuten ließe.

Erstmals in der Geschichte wird in diesem Jahr außerhalb von Kriegszeiten mit der olympischen Tradition gebrochen. Vier Jahre nach den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro können 2020 keine Spiele stattfinden. Was für die einen nur ein wiederkehrendes Sportgroßereignis ist, ist für die anderen unter politischen, religiösen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten kaum wegzudenken. So hielten die Olympischen Winterspiele 2018 auf sportlicher Ebene mit dem Sieg Norwegens im Medaillenspiegel nicht unbedingt eine Überraschung bereit, dafür aber umso mehr unter symbolpolitischen Gesichtspunkten, stellten Nord- und Südkorea bei den Frauen doch ein gemeinsames Eishockey-Team auf. Was im Bereich der harten Realpolitik vollkommen abwegig erscheint – eine Vereinigung der beiden Koreas –, das macht(e) der Sport möglich. Damit reiht sich die Neuauflage der Spiele des Jahres 2018 durchaus in eine Tradition der olympischen Wettkämpfe ein, besaßen sie doch seit ihren Anfängen immer auch politische, religiöse und gesellschaftliche Implikationen. So herrschte im antiken Griechenland während ihrer Dauer das Gebot, die Region rund um Olympia ohne Waffen zu betreten. Das Ereignis galt als diplomatisches Forum und diente dem gesellschaftlichen Austausch.

Bis heute wohnt dem Sport ein integratives Potential inne, auch gegenwärtig noch dient er als Kommunikationsgelegenheit über Ländergrenzen, Sprachbarrieren und (sub-)kulturelle Trennungslinien hinweg und fungiert darüber hinaus als eine Form des zivilisierten Wettbewerbs. Freilich zeigen sich hier auch Widersprüche: Sport soll einen und ist dennoch ein Wettkampf. Er ermöglicht Austausch, Verständigung und Solidarität, ist aber zugleich Ursache für Zwietracht und Hass. Er kanalisiert Energien und beugt Gewalt vor, doch sind sportliche Spiele auch immer wieder Anlass für gewalttätige Auseinandersetzungen, sei es auf dem Platz oder an dessen Rand, wenn enthemmte Fanszenen aufeinandertreffen.

Sport soll zur Völkerverständigung beitragen und stärkt gleichzeitig Nationalismen – wodurch sich nicht zuletzt auch der von den nationalen Sportverbänden auf die Athleten ausgeübte Leistungsdruck und eine Vielzahl an Beispielen für staatlich geförderte oder zumindest stillschweigend in Kauf genommene Dopingstrukturen erklären lassen. Der schon zitierte Plessner meinte gar, dass die wettbewerbsmäßige Gesinnung des Sports in einer Gesellschaft, die sich durch die »Geringschätzung alles dessen [auszeichnet], was sich nicht in Leistung offenbart und an Leistungsmaßstäben fassen läßt«, das Wettkampfdenken noch verstärkt. Bis hin zu kriegerischen Tendenzen, die ihrerseits »eine ideelle, um nicht zu sagen eine ideologische Rechtfertigung durch das Ethos der Sportlichkeit« erführen. Dieses Ethos begünstige mithin – ohne es zu beabsichtigen und ganz gegen jede friedliche Intention von Sportfunktionären – eher die Bereitschaft zur Kriegsführung, als dass sie sie vermindere.

So oder so verbietet es die Vielschichtigkeit des Phänomens Sport, ausschließlich Lobgesänge auf ihn anzustimmen. Die Geschichte und Gegenwart des Sports, seine vielfältigen Verbindungen mit Kultur, Ökonomie, Politik und Gesellschaft zeichnen ein spannungsreiches Bild. Die vorliegende Ausgabe der INDES ist darum umso mehr bestrebt, ebendiese Vielschichtigkeit und Amivalenz des Sports unter verschiedenen Blickwinkeln abzubilden und in einem nur auf den ersten Blick ereignisarmen Sportjahr neu über seine Ansprüche, Erscheinungsweisen und Effekte nachzudenken. Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre.

Anmerkungen

[1] Helmuth Plessner, Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft (1956), in: Günter Dux u. a. (Hg.), Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 2003, S. 147–166.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020