Revolutionen des Wohnens Von erniedrigender und erhebender Architektur

Von Ludger Schwarte

Die Frage kann nicht sein, ob, sondern wie genau Architektur Gesellschaft gestaltet. Dies geschieht nicht nur durch die symbolischen Formen der Architektur, als die man Volumen, Raumeinteilungen, Anordnungen, Farben, Materialauswahl und sichtbare Funktionen betrachten kann. Aber Ghettos, Lager oder Schlachthöfe sind keine Symbole, deren Bedeutung es zu interpretieren gälte. Aus meiner Sicht greift deshalb jeder Ansatz zu kurz, der das Augenmerk nur auf die Ästhetik des gebauten Raumes richtet oder Architektur als Symbolsystem auf intendierte Bedeutungen reduziert.

Das gilt nicht nur für die Architektur der Stadt, sondern für jedes Kinderzimmer. Und zwar aus folgendem Grund: Wie jeder von uns in der Corona- Krise erlebt hat, ist es keine Frage kommunikativer Codes oder sozialer Anerkennung, sondern etwas körperlich Reales, ob man sich mit dem Virus ansteckt oder nicht. Wie viele Personen sich wo und in welchem Abstand aufhalten können, ohne sich zu infizieren, ist in erster Linie eine architektonische Frage; ebenso wie jene danach, wie viele Personen sich wo und in welchem Abstand weiterhin aufhalten müssen, damit sich freies Handeln und demokratische Politik erhalten. Deshalb schlage ich vor, unter Architektur nicht nur Werke diplomierter Architekt*innen zu fassen, sondern all das, was die menschliche Lebenswelt strukturiert. […]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020