Unendliche Weiten …? Umkämpfte Grenzen im Internet

Von Thorsten Thiel

Nicht anders sieht es aus, wenn man auf die Debatte um den Schutz von(geistigen) Eigentumsrechten im Netz fokussiert. Diese geht der Debatte um Cyber-Security zeitlich und an Bedeutung voraus und auch hier ist ein starkes Moment nationalstaatlicher Zuständigkeitsbehauptung zu beobachten. Die Debatte tritt in mehreren Mutationen auf: so zunächst mit Blick auf Open-Source-Software, später dann in Bezug auf Tauschbörsen und jüngst in den Auseinandersetzungen um die Reform des Urheberrechts. Sie dreht sich vor allem um die durch die Digitalisierung veränderte Beschaffenheit von Gütern und Vertriebswegen und insbesondere um die Möglichkeit der verlustfreien Vervielfältigung durch Kopieren. Gerade letzterer Aspekt gibt dem Ganzen staatliche Bezüge, da der grenzüberschreitende Verkehr von Daten – Stichwort: Peer-to-Peer-Verbindungen – die Problematik unterschiedlicher Jurisdiktionen unmittelbar evident macht. Die Suche nach nationalen Regelungen auf diesem Feld hat stark zugenommen und erstreckt sich von der Kooperation und Angleichung von Standards – man denke nur an die heftigen Debatten um ACTA und SOPA – vor allem auch auf technische Möglichkeiten der Unterdrückung illegalen Datenverkehrs bzw. dessen unmittelbarer Sanktionierung (am bekanntesten ist hier wohl die Three-Strikes-Regel in Frankreich, die nach dreimaligem Verstoß gegen das Urheberrecht unter anderem ein temporäres Abklemmen vom Internetzugang erlauben soll). So klar auf den ersten Blick die Trennung von Urheberrechten und illegaler Verwendung scheint, so schwierig wird es, wenn man sich konkrete Fälle genauer anschaut. Das Urheberrecht stößt im Netz permanent an seine Grenzen und die Idee des Originals und seiner kontrollierten Nutzbarkeit wird durch die Möglichkeiten von digitaler Vervielfältigung und Veränderung (Remix) konterkariert.[4] Da die Unterbindung des Austauschs von Daten über Peer-to-Peer-Netzwerke auch eine Vielzahl von legalen Nutzungen betreffen würde, werden Strategien der Delegitimierung herangezogen, die zugleich den Aufbau von Kontrollapparaturen und die rechtliche Sanktionierung außerhalb des virtuellen Raums erlauben sollen. Auch hier lassen sich daher Momente der »Versicherheitlichung« beobachten, wobei es nun zum Schutz privaten Eigentums errichtete Filter sind, die ein nationales Ordnungsverständnis durchzusetzen versuchen. Rhetorisch auf den Punkt gebracht wird dies in der Metapher der Piraten, in der sowohl die Rechts- und Hoheitslosigkeit als auch die überfallartige Schädigung mitschwingen, die dem Gemeinwohl durch gänzlich unverantwortliche Horden drohen.[5] Dass diese negative Stigmatisierung durch den Begriff der Piraterie gegenwärtig zumindest teilweise in das Bild von Freiheitsliebe und Horizontalität umgekehrt wird und in Deutschland die Piraten gar in Form einer Partei im großen Stil im System angekommen sind, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

1:1-Projektion nationaler Souveränität ist schädlich

Sowohl im Feld der Sicherheitspolitik als auch mit Blick auf die Durchsetzung der Eigentumsordnung zeigt sich also, dass Grenzen im virtuellen Raum nicht etwas von gestern sind, sondern vielmehr etwas, das heute zu etablieren versucht wird. Und dies geschieht nicht nur jenseits der OECD-Welt in autokratischen Regimen, wo man sich vor der Kraft von Facebook und Twitter fürchtet, sondern auch in den liberalen Demokratien des Westens, in denen die offenen Prinzipien des Internets zuerst formuliert wurden. Ganz unabhängig von der Frage, wie groß der wahre Kern der Argumente jeweils ist – immerhin wäre die cyber-romantische Gleichsetzung eines eingriffsfreien Raums mit demokratischer Selbstregierung ebenfalls kritisch zu erörtern –, muss diskutiert werden, ob die Strategie der lautstarken Grenzziehung nicht enorme Kollateralschäden nach sich zieht. Dass die 1:1-Projektion nationaler Souveränität schädlich ist, ändert sich daher auch nicht, wenn man feststellt, dass die Grenzziehung zwar mit Vehemenz propagiert wird, doch über die Frage ihres Erfolges noch lange nicht entschieden ist, sich vielmehr gerade wegen ihrer Plumpheit nun auch Gegenkräfte regen.

Bisher wurde bewirkt dass die Diagnose des Internets als etwas Ambivalentes und in mancher Hinsicht Bedrohliches – im traditionell eher technikskeptischen Deutschland ohnehin – viel Präsenz in der öffentlichen Diskussion einnimmt. Dass diese negative Politisierung nun Widerstandskräfte hervorruft, welche die Gefahr für die etablierte Kommunikationskultur erkennen und die (relative) Grenzenlosigkeit des Internets zu verteidigen suchen, ist eine logische Folge und wünschenswert.[6] Doch solange das Thema eines von Sicherheit und Bedrohung bleibt, so lange bleibt eine Durchsetzung des alten Denkens in Grenzen und Territorien wahrscheinlich. Es kommt daher alles auf das »Wie« der Regulierung an; und dieses »Wie« ist nicht nur technisch zu verstehen, sondern es umfasst auch die Rhetorik des Regulierungsdiskurses. Die Re-Etablierung nationaler Grenzen auf den Schultern wackeliger Metaphern und pauschalisierender Gleichsetzungen realweltlicher Raumvorstellungen mit digitaler Kommunikation unterschlägt die Möglichkeiten und das Potenzial des digitalen Raums.

Und darüber hinaus zieht die Debatte um staatliche Grenzziehung auch noch Aufmerksamkeit ab von einer anderen, viel subtileren Form der Grenzziehung, die gegenwärtig durchaus erfolgreich vorgenommen wird: die Parzellierung der Netzlandschaft in die Domänen weniger großer Internetunternehmen, die meist alle Nutzung in einem Angebot vereinen und es dann implizit über Anreize, Filter und zustimmungsbedürftige Geschäftsordnungen schaffen, das virtuelle Feld so einzugrenzen, dass Verbindungen aktiv kontrolliert, abgeschnitten und überwacht werden können. Apps treten an die Stelle freier Netzstandards und stellen einen ähnlichen Konterpunkt zur ursprünglichen Version des horizontalen Netzwerks dar, wie es auch staatlich Grenzen tun.[7] Ironischerweise bedarf es zur Entgegnung dieses Trends und zur Kontrolle der Unternehmen einer Regulierung, die zumindest nicht ohne staatliche Instanzen und deren realweltliche Zusammenarbeit gelingen kann. Diese müsste aber über Grenzen hinweg und mit dem Ziel der Erhaltung eines freien virtuellen Raums erfolgen.

Anmerkungen:

[1] John Perry Barlow, A Declarationof the Independence of Cyberspace, URL: https://projects.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html [eingesehen am 27.07.2012].

[2] Eine kurze Geschichte des Internets sowie eine allgemein gut verständliche Einführung finden sich bei Martin Warnke, Theorien des Internets, Hamburg 2011. Dass auch in der Entwicklung des Netzes und seiner Standards Staaten eine zentrale Rolle spielten, argumentiert Daniel Drezner, The Global Governance of the Internet: Bringing the State Back In, in: Political Science Quarterly, Bd. 119 (2004) H. 3, S. 477–498.

[3] Die klassische Verteidigung dieses Prinzips und der Vorteile eines »dummen« Protokolls finde tsich bei Doc Searls u. David Weinberger, World of Ends. What The Internet Is and How to Stop Mistaking it For Something Else, URL: http://www.worldofends.com [eingesehen am 27.07.2012].

[4] Das wohl bekannteste Plädoyer für einen neuen Umgang mit Wissen und Kreativität im Netz stammt von Lawrence Lessig, Freie Kultur. Wesen und Zukunft der Kreativität, München 2004.

[5] Dass in der gesamten Debatte eine rhetorische Abrüstung Not tut, wurde zuletzt mit Blick auf die innerdeutsche Urheberrechtsdebatte in den deutschen Feuilletons diskutiert. Siehe Frank Schirrmacher, Schluss mit dem Hass, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.2012.

[6] Die Entwicklung des Politikfelds der »Netzpolitik« samt starker zivilgesellschaftlicher Akteure ist hierfür ein Zeichen. Den Versuch, ein solches Anliegen so programmatisch wie pragmatisch zu formulieren, unternehmen Markus Beckedahl u. Falk Lüke, Die digitale Gesellschaft, München 2012.

[7] Diese Gefahr wird ausgeführt in Jonathan Zittrain, The Future of the Internet. And How to Stop It, London 2009.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2012| © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012