»Menschen dürfen nicht Objekte von Entscheidungen sein« Ein Gespräch mit Bernd Faulenbach über Traditionen, Krisen und Perspektiven der Sozialdemokratie

Interview mit Bernd Faulenbach

Die goldene Zeit der Volksparteien scheint generell vorbei zu sein. Wieso aber geht es der Sozialdemokratie in Deutschland so viel schlechter als der Christdemokratie?

Wenn man die CDU als Kontrast heranzieht, muss man berücksichtigen, dass sie die Kanzlerin gestellt hat, die zwar auch Probleme im eigenen Lager hatte, aber im Hinblick auf die Medien erhebliche Vorteile genoss. Die Sozialdemokratie in Europa, mit ihren spezifischen Ausformungen in den einzelnen Ländern, ist in eine recht umfassende Krise geraten. Ein Grund dafür ist das Dilemma, aus dem heraus alle sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien handeln. Sie sind in aller Regel reformistisch und gehen schrittweise vor. Dabei glauben sie meist nicht, ihren großen Zielen hinreichend nähergekommen zu sein, sind also mit ihrer Arbeit immer wieder unzufrieden. Zudem fällt es ihnen schwer, das, was sie erreicht haben – und das ist in der Regel eine ganze Menge – auch klar zu benennen. Das liegt nicht zuletzt an dem Anspruch, Emanzipation vorantreiben, etwas Größeres erreichen zu wollen. Natürlich bleibt man hinter diesen Zielen stets zurück.

Ein weiteres Problem der Sozialdemokratie, in Deutschland wie Europa, besteht meines Erachtens darin, dass sie sich ihrer Mission unsicher geworden ist, die sie lange glaubte, zu haben. Dieses Denken in größeren Zusammenhängen und Zielen ist meines Erachtens in die Krise gekommen. Das hängt auch mit dem Verlust eines sozialdemokratischen Bewusstseins zusammen, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen dachte. Wo die Leute kein Gestern sehen, sehen sie auch kein Morgen mehr, sondern nur noch das Heute und das kurzfristige Handeln. Sozialdemokratisches Handeln ist aber eigentlich Handeln in Perspektive, das, solange es in die richtige Richtung weist, auch Rückschritte aushält. Dass ebendieses Denken in die Krise geraten ist, fand seinen Ausdruck nicht zuletzt in dem Beschluss der SPD, die Historische Kommission, und damit ein wesentliches Merkmal ihrer Identität, sich als eine langfristig agierende Emanzipationsbewegung zu begreifen, aufzugeben.

Wenn der Kern sozialdemokratischer Unzufriedenheit die unzureichende Umsetzung ihrer größeren Ziele ist, Sie aber zugleich sagen, dass diese Ziele verloren gegangen sind, ist dann das heutige Problem der Sozialdemokraten, dass sie zu zufrieden sind?

Das würde ich so nicht sagen. Die Gegenwart kritisch zu betrachten sowie der Wille, eine neue Gesellschaft der Freien und Gleichen gestalten zu wollen, ist durchaus tief verankert bei vielen Sozialdemokraten. Daran gemessen ist das, was erreicht wird, immer zu wenig. Zugleich ist aber auch die Fähigkeit geringer geworden, dieses Ziel durch gestaltende Politik schrittweise zu realisieren, also nicht nur auf bestimmte Herausforderungen zu reagieren. Das verbindet im Grunde genommen beide Momente. Das Ziel ist nicht mehr hinreichend deutlich und zugleich ist man unzufrieden damit, nicht weitergekommen zu sein.

Die deutsche Sozialdemokratie hat in ihrer mehr als 150 Jahre umfassenden Geschichte zahlreiche dramatische Situationen erlebt, in denen die Parteiexistenz bedroht war. Relativiert dies das aktuelle Krisengerede – oder erscheint der heutige Zustand der Partei vor der Projektionsfläche vergangener Krisen sogar noch prekärer?

Krisen wie die Verfolgung unter dem Sozialistengesetz oder die unter dem Nationalsozialismus haben die Partei praktisch infrage gestellt und ihre Fortexistenz unmittelbar bedroht. Die gegenwärtige Krise ist, wenn nicht existenzieller, doch zumindest besonderer Art, denn sie ist nicht ausschließlich von außen herbeigeführt. Eine äußerliche Veränderung besteht in einem gewandelten Parteiensystem mit der Linkspartei und auch den Grünen, die sich zuteilen als links verstehen. Das, was bei der Sozialdemokratie zuhause war, hat sich zum Teil aufgefächert. Auch in der Weimarer Zeit, als es eine relativ starke kommunistische Partei und noch einige Splittergruppen gab, lag die SPD bei manchen Wahlen – sieht man einmal von der Wahl zur Nationalversammlung ab – nicht weit über zwanzig Prozent. Wenn weitere Linksparteien da sind, sinkt der Stimmanteil ziemlich zwangsläufig, so wie es gegenwärtig der Fall ist. Dazu kommen nun die Rechtspopulisten, die als Bewegung aufgetaucht sind und vom sozialdemokratischen Potenzial einiges wegnehmen. Dennoch sollten Sozialdemokratie und Öffentlichkeit kein zwangsläufiges weiteres Abstiegsszenario in den Vordergrund stellen. Es gibt so etwas wie self-fulfilling prophecies.

Interessant ist ein wiederkehrendes SPD-Bashing, das ich seit Jahren feststelle. In Interviews wurde Merkel oftmals mit großem Respekt begegnet, wohingegen die Art, wie man mit Gabriel umging und ihm Fragen stellte, ein bisschen rotzig erschien. Die Frage ist, woraus diese Schadenfreude an der SPD resultierte. Sicherlich spielten unerfüllte Erwartungen an die Sozialdemokratie eine Rolle. Manche glaubten auch, sich über den moralischen Anspruch sozialdemokratischer Politik ärgern zu müssen. Vor diesem Hintergrund war natürlich jeder erkennbare Fehler etwas, was an einem bestimmten Bild kratzte.

Sie haben von langfristigen Zielen gesprochen, von der Idee des Sozialdemokratischen. Was, würden Sie sagen, ist im historischen Längsschnitt das charakteristisch Sozialdemokratische?

Ich glaube, dass es bei der Sozialdemokratie eine Identität im Wandel gibt. Wenn sie sich nicht verändert und den Gegebenheiten angepasst hätte, würde es sie auch nicht mehr geben. Dennoch gibt es Grundideen und -werte, die vom 19. Jahrhundert bis heute Bestand haben: dass Menschen weder Objekte von ökonomischen Prozessen noch Objekte von politischer Herrschaft sein sollen. Man will Menschen zu freien Subjekten machen, die über ihre Politik und Ökonomie mitbestimmen, um soziale Verhältnisse zu gestalten. Das ist der Grundimpuls, der sich auch mit dem Wunsch, eine friedliche Welt zu schaffen, verbindet. Die Sozialdemokratie war im Grunde genommen die erste richtige Demokratiebewegung. Sie hat das allgemeine Wahlrecht realisiert und als erste Partei schon im Kaiserreich das Frauenwahlrecht gefordert. Sie hat das parlamentarische System institutionalisiert und auch in Weimar versucht, Demokratie zu realisieren, und zwar nicht nur im staatlichen Bereich, sondern auch im Hinblick auf Wirtschaft und Verteilungsfragen, in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften. Dinge nicht einfach hinzunehmen, sondern durch gemeinsames Handeln zu gestalten – das ist genuin sozialdemokratisch. Insofern ist sie nicht nur Demokratiebewegung, sondern schon immer auch ökonomisch-soziale Reformbewegung, die zeitweilig glaubte, in der Abschaffung des Privateigentums die Schlüsselfrage gefunden zu haben, nicht zuletzt aber die Entwicklung dadurch prägte, dass sie den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme vorantrieb. Am Fortschritt orientiert, hat sie diesen immer wieder neu definiert. So ist beispielsweise die ökologische Frage Teil dieses Konzeptes geworden. Und schließlich ist sie außenpolitisch eine Partei des internationalen Ausgleichs. Sie hat früh für Schiedsgerichte plädiert, für einen Völkerbund, für die Europäische Föderation und für eine Entspannungspolitik im Ost-West- Konflikt. Der aufkommende Populismus und Nationalismus in Deutschland und Europa kann einer Sozialdemokratie nicht gleichgültig sein.

In Zeiten, in denen wir vielerorts in einen Nationalismus zurückfallen, muss eine Politik gemeinsamer Interessen, ein multilateraler Ansatz verfolgt werden. Diese verschiedenen Komponenten des historisch fundierten sozialdemokratischen Profils müssen zu einem Gesamtkonzept zusammengefügt werden, das nicht bloß die Summe vieler Einzelforderungen ist, sondern Gesellschaft umfassend zu gestalten versucht. Den Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, die in modifizierter Form als Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität wiederaufgetaucht sind, ist im letzten Wahlkampf unzureichend Rechnung getragen worden. Natürlich gibt es Nachholbedarf in Gerechtigkeits- und Gleichheitsfragen, doch der umfassendste Begriff ist der der Freiheit. Gleichheit ist ein Mittel, Freiheit für die große Mehrheit zu erringen. Dafür brauchen wir wiederum gesellschaftliche Solidarität mit den Schwächeren und Sozialsysteme, die ein Absinken größerer Bevölkerungsgruppen verhindern. Diese Begriffstrias kann man sehr logisch zusammenfügen, doch wie Brandt sagte: Der höchste Begriff neben dem Frieden ist doch zweifellos der der Freiheit, einer umfassend gedachten Freiheit. Das würde ich sagen, macht Sozialdemokratie im Kern aus.

Auf krachende Niederlagen reagieren Parteien oft mit Reformprozessen. Unser Eindruck ist: Seit dreißig Jahren wird von den sich avantgardistisch gebenden Reformern stets dasselbe gefordert, nämlich Öffnung, Quoten, Basispartizipation. Können solche Reformen die Revitalisierung der Sozialdemokratie bewirken?

Ich bin im Hinblick auf die Wirksamkeit derartiger Reformen eher skeptisch. Bei den Reformen, die Peter Glotz damals angesetzt hat, gab es durchaus gute Ansätze, wie die Gründung des Kulturforums im Jahr 1983. Dahinter steckte die Vorstellung, kulturelle Hegemonie anzustreben und alle, die sich der Aufklärung im weitesten Sinne verpflichtet fühlten, mit der SPD in Verbindung zu bringen. In diesen Kontext gehört auch die Gründung der Historischen Kommission. »Wir dürfen unsere Geschichte nicht verschlammen lassen«, sagte Glotz plakativ. Sie sollte Mittel sein, sich der eigenen Identität zu vergewissern, ebenso wie Ressource in der öffentlichen Auseinandersetzung. Das waren konstruktive Ideen.

Ich würde sagen, dass man die Kommunikationsstrukturen anschauen und auch verbessern muss. Zum Teil besteht eine gewisse Abgehobenheit des politischen Betriebes in Berlin, ein fehlender Bezug zur Bevölkerungsmehrheit, die an manchen Berliner Fragen nur bedingt interessiert ist. Die Kommunikation muss zweifellos verbessert, die Ansprechbarkeit erhöht und aufkommende Fragen auch beantwortet werden. Zudem muss man die Möglichkeiten, die das Internet bietet, stärker nutzen, sich auch neuen Kommunikations- und Diskussionsformen öffnen, um der ständig vorherrschenden Aufregung und Entrüstung etwas Rationales entgegenzusetzen. In erster Linie aber muss die Partei ihr Profil schärfen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Zivilisierung des Kapitalismus. Und die Partei braucht eine mutigere Führung, die Trends der Gesellschaft aufgreift, die anschlussfähig ist an das, was die Menschen gerade denken oder als Problem definieren. Es gilt, die kulturellen Faktoren stärker zu nutzen. Bedeutsan ist, wie sich die Verhältnisse in den Köpfen der Menschen spiegeln. Maßnahmen zählen nicht als solche, sondern müssen erläutert und mit Sinn versehen werden. Dies gilt auch für Ostdeutschland.

Wichtiger als Organisationsreformen sind diese Fragen der Programmatik, der Strategie und der realistischen Analyse der gegebenen Verhältnisse. Basispartizipation kann nicht heißen, auf die Erarbeitung durchdachter Politikkonzepte zu verzichten, mit denen die Basis sich auseinandersetzen kann. Führung und Parteiapparat sind gefragt, Diskussionen anzuregen, die zu relevanten Ergebnissen führen können.

Wie würden Sie – im historischen Rückblick und Verlauf – die Position der SPD zur Europäischen Einigung beschreiben? Welche Akzente müsste die Partei diesbezüglich heute setzen?

Die Europafrage ist schon sehr alt in der Sozialdemokratie. Von deutschfranzösischer Freundschaft haben die französischen Sozialisten und die deutschen Sozialdemokraten schon vor dem Ersten Weltkrieg gesprochen. Im Heidelberger Programm von 1925 stehen – wenn auch etwas unvermittelt – die Vereinigten Staaten von Europa als Ziel der Sozialdemokratie. Man wollte die nationalen Gegensätze durch Formen der Zusammenarbeit überwinden. Im Exil haben Sozialdemokraten viel über Europa gehandelt. Ein Teil der sozialdemokratischen außenpolitischen Ziele, richtete sich auf den Aufbau einer Europäischen Föderation. In der Nachkriegszeit kamen sie damit aufgrund der deutschen Teilung nicht zum Zuge. Schumacher wollte Europapolitik nur unter nationalem Vorbehalt machen. Vor Europa stand die deutsche Vereinigung. Doch es gab einige Sozialdemokraten, wie Carlo Schmid, die den europäischen Prozess positiv begleiten wollten. Auch Brandt war jemand, der sehr europäisch dachte, nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial. Mit einer Arbeitsschutzgesetzgebung versuchte man später, eine soziale Charta zu entwickeln. Einiges ist in dem Zusammenhang auf Betreiben der sozialdemokratischen Parteien in Europa auch geschehen. Dieser Prozess ist von der Sozialdemokratie mitgetragen worden, doch war er zu ausschließlich ökonomisch dimensioniert und wurde zunehmend neoliberal geprägt, mit der Tendenz, dass er dadurch auf alle möglichen Bereiche ausgegriffen hat. Alles sollte dem Markt unterworfen werden, auch Bildung, Fernsehen und Rundfunk. Diese Marktdominanz hat der europäischen Idee mit Sicherheit geschadet.

Aus meiner Sicht liegt die gegenwärtige Aufgabe der Sozialdemokratie darin, eine europäische Ordnungspolitik zu machen und die Einhegung des Kapitalismus in Europa voranzutreiben, nicht in detailistischen Versuchen, Marktfragen zu klären. Es ist beunruhigend, zu sehen, dass Brüssel in vielen Ländern als eine Institution aufgefasst wird, die sie fremdbestimmt. Man muss ein Europa schaffen, in dem man koordiniert und bestimmte Rahmen setzt, auch außenpolitisch, und gegebenenfalls auch verteidigungspolitisch zusammenarbeitet. Zugleich muss es bestimmte Freiräume geben, um das wachsende Gefühl von Fremdbestimmung zu mindern, denn dies ist ein ernstzunehmendes Problem. In manchen Bereichen, wie dem Sicherheitsbereich, vor allem im Kampf gegen Terrorismus und Bandenkriminalität, ist gemeinsames Handeln ebenso notwendig wie im Verteidigungsbereich und in Grundfragen des gemeinsamen Marktes und der Finanzpolitik.

Für ein solches Europa muss das Europäische Parlament ein wirkliches Parlament werden, mit einer Zusammensetzung entsprechend der Bevölkerungszahlen. Dort gibt es aktuell eine erhebliche Verzerrung. Stimme ist nicht gleich Stimme. Und es braucht Initiativrecht. Dass das Europäische Parlament keine Gesetzesinitiativen starten kann, ist geradezu vorsintflutlich. Gegengewichte eines zu starken Zentralismus kann man anderweitig schaffen. Das muss nicht anhand der Blockade des Parlaments passieren, sondern kann über den Europäischen Rat und dortige Mindestanteile der Zustimmung geregelt werden, die notwendig sind, um bestimmte Gesetze gültig werden zu lassen. Doch das Parlament muss als solches arbeiten können. Die wahre Gestaltung Europas ist aus meiner Sicht durchaus auch eine intellektuelle Herausforderung. Mir scheint z. B. der Begriff Vereinigte Staaten von Europa als realistisches Ziel in einem überschaubaren Zeitraum eher missverständlich zu sein, denn man muss mit Blick auf die Frage eines europäischen Geschichtsbewusstseins bedenken: Europa hat eine lange Geschichte. Und so haben die europäischen Länder alle ihre eigenen Geschichten und erzählen sie entsprechend. Sie wollen ein Stück weit eigenständig bleiben. Insofern gilt es einerseits, eine europäische, politische Kultur zu entwickeln. Andererseits werden die unterschiedlichen Kulturen nicht völlig verschwinden, jedenfalls nicht in überschaubarer Zeit. Dieses Europa wird ein vielfältiges Europa bleiben müssen, wenn sich die Leute nicht fremdregiert fühlen wollen. Es muss Bereiche geben, in denen die kulturelle und historische Unterschiedlichkeit zum Ausdruck kommt. Das sind Fragen, die man offener diskutieren sollte.

Steht der von Ihnen skizzierte Staatenbund, angesiedelt zwischen lose verkoppelter Anarchie und Bundesstaat, mit vielen Freiräumen für die einzelnen Staaten aufgrund unterschiedlicher Vergangenheiten und kultureller Prägungen, nicht im Widerspruch zu einer – von Ihnen auch geforderten – Stärkung des europäischen Parlaments?

Ich würde den Begriff des Staatenverbundes (Begriff der BVG-Rechtsprechung) auf absehbare Zeit für tragfähig halten. Einiges geht in Richtung eines Bundesstaates, obgleich es rein rechtlich immer noch die Einzelstaaten sind, die in vieler Beziehung das letzte Entscheidungsrecht haben. Doch man kann die Außen-, Verteidigungs- oder innere Sicherheitspolitik stärker vergemeinschaften, was ich für notwendig halte.

Andererseits gibt es insbesondere den kulturellen Bereich, auch den der Bildung, wo man etwa Schulabschlüsse und Universitätsabschlüsse abstimmen, ansonsten jedoch Freiräume bewahren muss, um kreativ zu bleiben. Man kann Bereiche als europäisch deklarieren, in denen wir eine europäische Rahmengesetzgebung für sinnvoll halten, in denen jedoch nationale und regionale Gestaltungsräume bleiben. In bestimmten Bereichen sollte die Europäische Union und auch das Parlament in besonderer Weise handeln können, in anderen würde ich eine gewisse Kompetenz der Einzelstaaten erhalten, vielleicht sogar an diese zurückgeben.

Kommen wir zu einem anderen Kern des Sozialdemokratischen – der Arbeiterschaft. Sind die neuen Unterschichten unwiderruflich an die politische Rechte verloren? Oder kann und soll die SPD sie zurückgewinnen?

Die Sozialdemokratie sollte durchaus versuchen, Teile der neuen Unterschichten zurückzugewinnen, wenngleich dies nur in einem längeren Prozess möglich sein wird. Folgende Punkte wären in dem Zusammenhang wichtig: Die Sozialdemokratie muss sich dafür einsetzen, dass das untere Drittel der Gesellschaft nicht weiter von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt wird. Ich halte es für denkbar, den Mindestlohn weiter anzuheben, ohne dass die Wirtschaft nachhaltig erschüttert wird. Finanz- und Einkommensverhältnisse müssen so geregelt sein, dass auch die unteren Schichten profitieren können. Außerdem muss im Bereich des Wohnungsbaus etwas passieren, ebenso wie in der Rentenfrage, gerade für diejenigen, die keine nennenswerte Betriebsrente haben oder nicht in der Lage sind, eine zusätzliche Rente anzusparen. Es müssen Regelungen geschaffen werden, die sicherstellen, dass auch diese Menschen später einmal eine Mindestrente und damit eine gewisse Sicherheit haben. Bestimmte sozialpolitische Dinge, die gerade im unteren Drittel eine Rolle spielen, sind bedeutsam. In diesem Zusammenhang von Relevanz ist das Bemühen von Hubertus Heil, die Langzeitarbeitslosen – die zum Teil in diesem Segment liegen – mit einem aufwändigen Projekt in Arbeit zu bringen. Wenn es funktioniert wie gedacht, ist das ein Signal in diese Richtung.

Ein weiterer Aspekt ist die Globalisierung, die nicht bloß nachzuvollziehen ist, sondern auch gestaltet und eingehegt werden will. Dies kann man, sofern erfolgreich über einige Jahre umgesetzt, auch dem unteren Drittel der Bevölkerung darstellen und die Gründe einzelner Maßnahmen erläutern. Dazu gehören auch Sicherheitsfragen, die man im Hinblick auf die Sorgen der Bevölkerung vor Überfremdung, aber auch vor Einbrüchen und solchen Dingen, ernster nehmen muss. Zuletzt muss man auch der Frage der Kultur Beachtung schenken. In der Unterschicht ist die Kenntnis von Fremdsprachen im Allgemeinen nicht verbreitet, was selbst im Alltag zu Problemen führt, die sich bei einem hohen Anteil von Ausländern verschärfen. Im Umfeld der Universität, wo möglicherweise Menschen aus zwanzig Nationen zusammenkommen, mag vieles – auf der Basis von Englisch – funktionieren. Doch wenn es, etwa in Schulen, eine oder zwei Minderheiten gibt, die womöglich die Hälfte der Schülerinnen und Schüler ausmachen, entstehen Probleme, die man ernst nehmen muss.

Die Mehrheitsgesellschaft kann erwarten, dass auch ihre Kultur ein Stück weit respektiert wird, ohne als fremdenfeindlich denunziert zu werden, wenn sie diese verteidigt. Natürlich ist ein Teil der Leute in dieser Frage verbohrt und sieht die Ursache aller Probleme in der Migration. Diese Menschen sind nur schwer zurückzuholen, doch durch ein Maßnahmenbündel glaube ich, auch diese Gruppe auflockern zu können.

Man muss nicht in allen Punkten identische Positionen haben, doch man muss voneinander wissen, die Legitimität der Anliegen des Anderen erkennen und das Gemeinsame zu akzentuieren versuchen. Das ist möglich, braucht jedoch Zeit. Problematisch ist, dass ein Teil des Proletariats sehr vereinzelt ist – wenn man zum Beispiel an die hohe Zahl alleinerziehender Frauen denkt. Man müsste in diesem Bereich den Versuch machen, Solidar- oder auch Kommunikationsstrukturen zu entwickeln, die helfen, dieses neue Proletariat wieder in die Gesellschaft zurückzuführen.

Zahlreiche Autoren sagen, von der Arbeiterkultur ist nur noch die Armut geblieben. Armut führt jedoch zu Rückzug, Abgrenzung und Feindseligkeit anstelle von Solidarität und Engagement. Wie können Solidarstrukturen aufgebaut und damit Toleranz und Offenheit gefördert werden?

In den Stadtteilen funktioniert manches durchaus. Ganztagsschulen helfen beispielsweise alleinerziehenden Müttern. Wenn die sozialen Strukturen intakt sind, ist einiges möglich. Die sozialen Umfelder können dort vieles bewirken. Die Leute müssen eine Anlaufstelle haben sowie das Gefühl, ihre Situation bewältigen zu können. Das muss systematisch von kommunaler Seite angegangen werden. Einerseits müssen wir die Alleinerziehenden finanziell besserstellen, dann aber ihnen mit sozialen Strukturen helfen, was auch Beratung einschließen muss. Bedeutsam ist vor allem praktische Nachbarschaftshilfe zu entwickeln, möglichst mit den Schulen als Zentrum für die Kinder. Auch Kindergärten sind hierfür geeignet.

Gilt mittlerweile auch für die Sozialdemokratie das Schmidt-Diktum, wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, oder braucht die Sozialdemokratie eine neue Vision für das 21. Jahrhundert? Wenn ja, wie muss diese aussehen?

Zunächst: Schmidt hat bestritten, diesen Ausspruch jemals getätigt zu haben.

Den Begriff der Vision halte ich für anspruchsvoll und vage zugleich. Gewiss braucht die Sozialdemokratie größere Ziele, an denen sie die Politik ausrichtet und die so etwas wie ein Zukunftsbild formen. Da sind einmal bestimmte Gemeinschaftsaufgaben, die als Ziel unstrittig sein müssen, wie Infrastruktur-, Energie-, Klima- oder Bildungspolitik; hier kommt es auf die Ausgestaltung an.

Daneben gibt es das größere Ziel der Zivilisierung des Kapitalismus. Menschen dürfen nicht reine Objekte von Entscheidungen sein. Wir können den Kapitalismus meiner Ansicht nach nicht vollkommen überwinden. Ohne Marktmechanismen kann man sich Gesellschaft schwer vorstellen, doch Kapitalismus kann gezähmt werden.

Außerdem gehört zu dem Bild, das Sozialdemokraten von der Zukunft haben, eine Gesellschaft, in der es gute Arbeit gibt. Menschen brauchen sinnvolle Tätigkeiten und es gibt viele Aufgaben, die in dieser Gesellschaft, insbesondere im Sozialen, aber auch im Umweltbereich und in vielen weiteren Bereichen, zu machen sind. Zu guter und sinnvoller Arbeit als einem Zukunftsbild der Sozialdemokratie gehört auch ein System sozialer Sicherheit, nicht in dem Sinne, dass der Einzelne keine Verantwortung trägt, doch Menschen dürfen nicht ins Bodenlose fallen.

Dazu kommt, wie schon gesagt, ein Europabild, das die Gemeinsamkeiten pflegt, aber die Legitimität nationaler Kulturen nicht per se infrage stellt, bei allen Versuchen, so etwas wie eine europäische, politische Kultur zu entwickeln.

Nicht zuletzt sind Anforderungen an die digitalisierte Welt zu formulieren, in der es eine Eigengewichtigkeit von Bildung und Kultur geben muss. Wir brauchen eine ernsthafte Diskussion darüber, was Bildung heute eigentlich meint. Worin soll sie, jenseits von Markt und Utilitarismus, bestehen?

Alle diese Dinge, zu denen noch einige Komplexe wie die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen gehören, machen, um nicht Vision zu sagen, ein Leitbild aus, wie man Gesellschaft entwickeln will.

Klassenpartei, Volkspartei, Quotenpartei – so haben Peter Lösche und Franz Walter in den 1990er Jahren plakativ die Entwicklung der SPD zusammengefasst. Was für eine Partei sollte die SPD heute zu sein anstreben?

Das Buch war damals ein Versuch, in der SPD Diskussionen anzuregen. Wohl am ehesten könnte ich mit dem Begriff der Volkspartei arbeiten, der sich schließlich mit dem Anspruch verbindet, ein Gesamtkonzept zu entwickeln. Ein besonderes Maß an sozialer Verantwortlichkeit gehört zu den Genen der Sozialdemokratie. Die breiten arbeitenden Bevölkerungsschichten und Teile des aufgeklärten Bürgertums möchte man nach wie vor zusammenbringen und ich glaube, dass das vielerorts auch möglich ist. Ein Teil des aufgeklärten Bürgertums möchte gesellschaftlichen Zusammenhalt erreichen und verortet sich in der Sozialdemokratie. Im weitesten Sinne benachteiligte Gruppen tendieren ebenfalls zur Sozialdemokratie, dennoch ist die SPD mehr als ein Bündnis von Minderheiten.

Dort ist man weitergegangen, auch im Erscheinungsbild. Es war längst überfällig, dass man etwa Homosexuelle in dieser Gesellschaft ernstnahm, die Legitimität ihrer Lebensweise anerkannte. Dennoch war zum Beispiel die Ehe für alle aus Sicht des Großteils der arbeitenden Bevölkerung nicht der große Fortschritt der letzten Legislaturperiode. Hinter den durchaus legitimen Minderheitenthemen dürfen die Fragen der großen Mehrheit der Bevölkerung, sozialer und kultureller Natur, nicht zurückbleiben. Im Zeichen der Zähmung des Kapitalismus sind jedenfalls sowohl die arbeitende Bevölkerung als auch bürgerliche Schichten für die SPD zu gewinnen. Für die breiten arbeitenden Schichten, so sehr sie enthomogenisiert sind, muss die Sozialdemokratie der wichtigste Adressat sein; allerdings kann sie nicht mehr die alte Arbeiterpartei sein. Arbeitgeber und viele kleine Selbstständige sind mindestens so stark gefährdet, ins Proletariat abzusinken wie Teile der Arbeitnehmerschaft. Viele kleine Existenzen haben früher ihren Ort in der Sozialdemokratie gefunden. Wer eine abgehobene Mittelstandsideologie vertritt, ist wohl nicht in der Sozialdemokratie zuhause, doch es gibt viele aufgeklärte Leute, die in ihren Kleinbetrieben beispielsweise mit Formen von Gewinnbeteiligung experimentiert haben – was aktuell etwas aus der Mode gekommen ist. Dennoch bin ich optimistisch, dass man Teile des öffentlichen Dienstes und auch kleinere Selbstständige dauerhaft an die SPD binden kann.

Die Einführung der Quote war meines Erachtens Mittel, um die Emanzipation der Frauen und Gleichberechtigung innerhalb der Partei zu bewirken. Die Quote selbst sehe ich eher als begrenztes Instrument denn als demokratischen Mechanismus an, schließlich können Quoten die Demokratie einschränken.

Brandt sagte, die SPD müsse das mittlere und untere Drittel miteinander verbinden. Ist die Volkspartei heute, im Kontext gesellschaftlicher Individualisierung, Pluralisierung und Fragmentierung überhaupt noch möglich?

Insbesondere auf der programmatischen Ebene sollte man versuchen, gemeinsame Themen zu entwickeln. Sichere Rente ist zum Beispiel ein Interesse aller, wenn auch für manche dringlicher als für andere. Ebenso die Wohnungsfrage.

Natürlich bleibt ein besonderes Verhältnis zu den arbeitenden Schichten. Auch das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften hat sich inzwischen wieder erheblich verbessert. Diese haben immer noch eine bedeutsame Rolle, auch wenn sie nicht mehr so stark sind wie in den 70er-Jahren. Die Arbeitnehmerorganisationen haben eine natürliche Nähe zur Sozialdemokratie. Es ist nicht leicht, die enthomogenisierte Arbeitnehmerschaft zu gewinnen, doch über bestimmte sozialpolitische Fragen ergeben sich nach wie vor Möglichkeiten. Zugleich gibt es in der Gesellschaft extreme Formen von Ungleichheit, die man nicht ohne Weiteres hinnehmen kann. Das gilt auch für Teile des Bürgertums.

Außenpolitisch braucht man ein Ziel wie ein aufgeklärtes Modell von Europa, das dann inszeniert wird. Ich denke, für das Ziel, sich für die internationale Ordnung einzusetzen anstatt dem Nationalismus oder Trumpismus das Wort zu reden, lassen sich Menschen gewinnen. Es lässt sich sogar ein deutscher Auftrag formulieren für eine Politik, in der die Zusammenarbeit zwischen den Nationen und die vernünftige Konfliktregelung durch multilaterale Organisationen bewusst gefördert werden.

Dazukommen muss ein überzeugendes Personaltableau. Zur Zeit der Wahl Brandts hat man noch Kandidaten aufgestellt, die breite gesellschaftliche Gruppen repräsentierten. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, ein Personaltableau aufzustellen, das über einen einzigen Kanzlerkandidaten hinausgeht, der schließlich allein als Identifikationsmittel nicht ausreicht. Der SPD mangelte es bei den letzten Wahlen an Professionalität und Vorbereitung. Eigentlich liegt auf der Hand, dass nicht weitergemacht werden kann wie bisher.

Stellt die Wagenknecht-Lafontainsche Sammlungsbewegung eine Chance oder im Gegenteil eine Gefahr für die Sozialdemokratie im Speziellen, die linken Parteien im Allgemeinen dar?

Ich teile die Hoffnungen, die damit bei einigen Leuten verbunden sind, nicht. Die Sammlungsbewegung scheint mir ein Versuch zu sein, die Probleme der Linken zu lösen, jedoch sehe ich die Gefahr, dass eine weitere linke Gruppierung entsteht. Dafür spricht die historische Erfahrung mit jenen Gruppen, die vorhandene Parteien überlagern oder zusammenbringen wollten, wie etwa der Internationale Sozialistische Kampfbund in der Weimarer Zeit und anschließend bestimmte Exilgruppen. Sie wurden alle mit großem Anspruch gegründet und schließlich zu gesonderten Gruppen, jenseits des Gegensatzes von Sozialdemokraten und Kommunisten.

Mit Aufstehen könnte also eine neue Gruppierung entstehen, die die Linkspartei ebenso stören wird wie die Sozialdemokratische Partei, die ich auch aufgrund der Personalstruktur und der Galionsfiguren, nur für bedingt zukunftsfähig halte.

Wagenknecht und Lafontaine gehörten zu denjenigen, die ausgesprochen negativ auf die SPD fixiert waren. Ich traue ihnen die Offenheit nicht zu, die man braucht, um eine Bewegung zu initiieren, die die bisherigen Strukturen überformt und vielleicht auf die Dauer ersetzt. Dafür müssten sie die Eigengewichtigkeit der anderen anerkennen und auch sehen, dass die SPD eine Partei mit mehreren, sehr verschiedenen Flügeln ist. Und sie müssten mit der SPD wie sie ist und nicht mit einer, wie man sie gerne hätte, zusammenarbeiten. Teile der Grünen, die eher zur Mitte tendieren, sind ohnehin nicht zu gewinnen. Das Ganze ist meines Erachtens ein Versuch, der nicht gelingen kann.

Odo Marquard, nicht gerade ein sozialdemokratischer Fahrensmann, hat einmal einen Essayband herausgebracht mit dem Titel »Zukunft braucht Herkunft«. Braucht es für die Zukunft der Sozialdemokratie mehr Tradition?

Aus meiner Sicht muss die Sozialdemokratie gerade in der heutigen Situation sich durch Rückbesinnung auf die Geschichte ihrer Identität vergewissern. Ich glaube, dass die sozialdemokratischen Werte und auch bestimmte Traditionen heute noch tragfähig sind, doch müsse sie vor dem Hintergrund neuer Gegebenheiten neu interpretiert werden. Eine genuine Frage der Sozialdemokratie war, wie gesagt, die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und dessen Einhegung. Weitere Impulse sind, Demokratie zu fördern, soziale Sicherheit auszubauen, den Bildungsbegriff weiterzuentwickeln. Auch, die europäische Linie intelligent fortzuführen, ist tief in der sozialdemokratischen Tradition verwurzelt, wenngleich es der Partei in den letzten Jahrzehnten nicht ausreichend gelungen ist, die Wählerschaft in diesem Thema mitzunehmen.

Im Kern sind diese wesentlichen Gedanken alle in der sozialdemokratischen Tradition enthalten. Die dahinterstehenden Werte müssen allerdings benannt werden, die gegenwärtige Situation muss analysiert und die Konzepte auf die gegenwärtige Situation bezogen werden. Vor der Folie der Leitbilder, die ich genannt habe, ist meines Erachtens in der Tat eine neue Zukunft möglich.

Das Interview führten Matthias Micus und Alexander Deycke.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018