Weniger Versprechungen – mehr Stabilität Ein Plädoyer für eine realistischere Politik

Von Evelyn Bokler

Wie schön das wäre: eine Welt voller Frieden, in der Gerechtigkeit auf Erden herrscht, die Politik gewaltsame Konflikte durch versöhnende Diskurse verhindert und einen klugen Interessenausgleich aller gesellschaftlicher Gruppierungen ermöglicht. Indes: Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Nicht nur jetzt, zur vielzitierten »Zeitenwende«, ist die Gesellschaft mit Konflikten, mit Ungerechtigkeit sowie mit menschlichem Versagen ebenso konfrontiert wie mit unvermeidbaren wie vermeidbaren Katastrophen und vielem mehr. Der primäre Reflex der Politik, auf diese Herausforderungen zu reagieren, sind Versprechungen, die den Missständen etwas Positives entgegensetzen: »Freiheit für Selbstverwirklichung!«, »Für eine solidarische Gesellschaft!«, »Für Frieden auf der ganzen Welt«.

Nur: Ist die Politik überhaupt in der Lage, diese Postulate in der Wirklichkeit umzusetzen? Was darf sie versprechen, was kann sie gestalten? Was vermögen die Politik und die Normen, in deren Sinne Politiker (mindestens vorgeblich) handeln, in dieser Welt zu erreichen? Und wie verhält es sich in diesem Zusammenhang mit dem demokratischen Verfassungsstaat, der auf einer wertgebundenen Ordnung beruht? Er sieht sich anspruchsvollen Idealen wie den Grund- und Menschenrechten verpflichtet, deren Einhaltung er jeder Person zusichert. Die Verfassung verschreibt sich dadurch edlen Werten – gerinnen diese zur Wirklichkeit oder beiben sie bloße Illusion?

Zu viele Versprechungen – zu wenig Erfüllung

Die liberale Demokratie nimmt den Einzelnen, dem sie die Rechte gewährt, zugleich in die Pflicht. In einer freiheitlichen Gesellschaft bedeutet dies nicht nur ein hohes Maß an Initiative. Es bedeutet zudem, Verantwortung übernehmen zu müssen, wenn das eigene Leben trotz aller freiheitlicher Versprechungen nicht zu Glück und Erfolg führt. Keine rigide Ständeordnung steht mehr der beruflichen Selbstverwirklichung im Wege – es liegt grundsätzlich an jedem Menschen selbst, was er aus seinem Leben macht.

Sogar die Sinnfrage wird zu einer Angelegenheit des individuellen Selbst, das ganz allein für sich verantwortlich den Grund seines Lebens finden muss. Stand hier früher die Gesellschaft als Gemeinschaft oftmals haltgebend zur Seite, wird dieses moralische Geländer zunehmend abgebaut für Ideale, welche die individuelle Selbstverwirklichung in einer optimierten Karriereplanung predigen – statt die Erfüllung in Tätigkeiten, die nicht nur dem eigenen Fortkommen, sondern auch der Gemeinschaft dienen und so sinnstiftend wirken.

Viele Menschen scheitern im kapitalistischen Wirtschaftssystem an dieser Form der karrierezentrierten Selbstverwirklichung, wie Studien regelmäßig bestätigen: Zahlreiche Befragte geben dort an, in ihrer Arbeit keinen Sinn zu erkennen. Zugleich ist die Selbstmordrate in diesen Gesellschaften hoch.[1] Ein gewisser Zusammenhang zwischen Sinnlosigkeit im Job und Ausweglosigkeit für das gesamte Leben scheint zumindest naheliegend zu sein, wie der Philosoph Christian Uhle konstatiert.[2]

Den Postulaten der liberalen und freiheitlichen Gesellschaft folgend muss man sich erklären, wenn es nicht so läuft, wie es den eigenen Vorstellungen oder jenen des Umfelds entspricht. Gemeinhin fallen dem Menschen jedoch eine kritische Introspektion sowie eine reflektierte Analyse des eigenen Verhaltens schwer: Wenn der Bauer nicht schwimmen kann, ist häufig die Badehose daran schuld. Die Gesellschaft trägt dann die Verantwortung für das Scheitern und nicht die Person. Zugleich muss sich die Gesellschaft eingestehen, dass der Staat niemals seine postulierten Ideale in toto umzusetzen vermag: Die Menschen, die ihn tragen, agieren selbst nicht immer entsprechend diesen Vorgaben. Obgleich auf institutioneller Ebene Gerichte daran arbeiten, die verpflichtenden Normen und Rechte zu schützen sowie durchzusetzen, funktioniert dies in keiner Gesellschaft umfassend – das verhindert nicht zuletzt das menschliche Momentum der Schwäche und der Korrumpierbarkeit.

Die Entstehung des Ressentiments

Die unerfüllten hehren Versprechungen liberaler demokratischer Gesellschaften vermögen daher bei denen ein tiefsitzendes Ressentiment zu erzeugen, die nicht von den Früchten des Systems profitieren – aus welchen Gründen auch immer. Sie richten sich enttäuscht und zornig gegen die ganze Ordnung mit ihren Werten, an welche diese Menschen bis dahin so fest geglaubt haben: Dies ist die Geburtsstunde des Ressentiments. Es beschreibt eine Affektlage, die weit über ein einzelnes Gefühl der Kränkung hinausreicht. Als eine Affektorganisation bestimmt das Ressentiment negativ die gesamte Wahrnehmung des Menschen, wenn sich die Kränkungs- und Ohnmachtserfahrungen verselbständigen.[3] Durch das immer wieder neue Erleben – das Res-Sentiment – entwickelt der betroffene Mensch eine gänzlich negative Grundhaltung zur Gesellschaft, die sodann an allem Negativen, was ihm widerfährt, die Schuld trägt: Ist sie es nicht, die Gerechtigkeit verspricht? Warum geht es einem dann nicht besser? Wenn Arbeitslosigkeit die Existenz bedroht, sei die Gesellschaft daran schuld, da die Politik nicht einhalte, was sie verkünde: ein glückliches sowie materiell gesichertes Leben – »Arbeit für alle«.  Bereits der Moralphilosoph Max Scheler deutete hierbei einen Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des politischen Gesellschaftssystems und ihrer Anfälligkeit für das Ressentiment an:[4] Egalitäre Gesellschaftssysteme seien besonders ressentimentanfällig. Sie suggerierten eine Gleichheit, die in der realen Welt der begrenzten Güter nicht erfüllbar sei. Durch diese Knappheit ergibt sich ein strukturelles Dilemma, schließlich wird es stets Gewinner und Verlierer geben, obgleich dies gesellschaftlich nicht gewünscht sein mag.[5] Während zudem der Egalitarismus in einer liberalen Demokratie fortwährend verkündet, jeder Mensch habe dieselben Rechte und die Chancen sollten gleich verteilt sein, sieht die Realität für diejenigen, die an den Rändern der Gesellschaft stehen, anders aus. Kann von ihnen erwartet werden, ein System zu unterstützen sowie dessen normative Ordnung gut zu heißen, von der sie keinen Nutzen haben? Wer nicht von den Vorteilen des liberalen Systems profitiert, erlebt ein Gefühl der Kränkung durch mangelnde Anerkennung, die ihm laut den Versprechungen des Systems zustünde, aber eben ausbleibt. Es ist nach Scheler der Diebstahl dessen, was sie nie besaßen.[6]

In einer Leistungsgesellschaft, die dem Einzelnen keinen Ort und Status vorab qua Geburt zuteilt, sondern vielmehr jedem suggeriert, bei entsprechender Leistung ein König oder eine Königin werden zu können,[7] ist die Frustrationsgefahr des Einzelnen erheblich. Denn wer dem Leistungsprofil nicht entspricht, gehört zu den Verlierern und nicht zu den Königen.

Doch auch das Gegenteil formt die politische Wirklichkeit. Immer wieder stoßen leistungsbereite sowie leistungsfähige Menschen an Grenzen und persönliche Beschränkungen, die sich aufbauen, weil das Leistungsprinzip eben nicht durchgängig gilt. Etliche Studien belegen Diskriminierung von Minderheiten durch die Mehrheitsgesellschaft. Frauen erhalten nach wie vor weniger Gehalt bei gleicher Leistung, Ostdeutsche sind weiterhin in Führungspositionen unterrepräsentiert und Menschen mit Migrationshintergrund berichten von Benachteiligungen trotz besserer Qualifikation.[8] Das Konzept der Leistungsgesellschaft ist daher doppelt herausfordernd: zum einen für die, welche dem Leistungsdruck nicht standhalten können und ins Abseits geraten, und zum anderen für diejenigen, die Leistung erbringen können und wollen, aber wegen unterschiedlicher Gründe benachteiligt werden.

Es existieren eben nicht überall diskriminierungsfreie Räume, obgleich diese von der Verfassung gefordert sind. Hier eine Sensibilisierung sowie Verbesserung zu schaffen, ist dringend geboten – Ehrlichkeit aber ebenso: Eine Gesellschaft ist nicht in der Lage, umfassend diskriminierungsfreie Räume zu verwirklichen. Sie vermag sie lediglich als zu erreichendes und verpflichtendes Ideal zu verkünden, da sie als plurale und demokratische Gesellschaft auf die Partizipation möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist. Und sie kann – und muss – alles daransetzen, diesem Ideal nahezukommen. Ferner sind Mechanismen einzuführen, die bei Normverletzungen greifen. (Eine gute Resilienz innerhalb der Bevölkerung ist aber mit Sicherheit ebenfalls hilfreich für Situationen, in denen es zu Ausgrenzung und Beleidigung kommt. Eine Debatte, die ausschließlich die Klage des Opfers in den Mittelpunkt rückt[9] und nicht auch an seine Stärkung denkt, ist nicht hilfreich. Sie schafft nur Frustration und Wut auf die Unerfüllbarkeit der ersehnten Ideale, wenn Diskriminierungen erfahren werden.)

Grenzen der Politik

»Keinem wird es schlechter gehen, aber vielen besser«, »Für eine gerechte Gesellschaft« oder »Arbeit für alle« – Wer derart apodiktische Wahlversprechen liest, mag sich erstaunt die Augen reiben: Ist das tatsächlich so naiv gemeint wie gesagt, oder folgt es einfach dem Kalkül, gewählt zu werden – wider das bessere Wissen um die Unerfüllbarkeit dieser Versprechungen? Beide Antworten bilden keine kluge und besonnene Politik ab. Denn sind diese hehren Verheißungen tatsächlich das, was die Politik zusichern sollte? Tut es statt einem vollmundigen »Gerechtigkeit ist machbar« nicht auch ein mundgerechtes »Mehr Gerechtigkeit ist machbar«? Denn die Anspruchshaltung, die sich in dem apodiktischen Slogan »Gerechtigkeit ist machbar« ausdrückt, weckt in ihrer Bestimmtheit Hoffnungen in der Wahlbevölkerung, die in ihrer Absolutheit nicht erfüllbar sind. Es scheint eine systemimmanente Schwäche demokratischer Systeme zu sein, unmögliche Verheißungen zu postulieren, die sich sodann in der politischen Wirklichkeit mit all ihren Widrigkeiten brechen. Frust und Wut aufgrund der ausbleibenden Einlösung dieser heilsähnlichen Versprechen und andauernde Ungerechtigkeit mögen sich nun in eins legen und den idealen Nährboden für ein grassierendes Ressentiment bieten. Je mehr Hoffnung damit verbunden war, desto größer ist der Frust bei ihrer Enttäuschung. Politik, die eine „gerechte Gesellschaft“ verspricht, ist daher auf Dauer zum Scheitern verurteilt – denn welche Gesellschaft mag schon gerecht für alle ihre Mitglieder und zudem zu jeder Zeit konstruiert sein?

Ferner besteht die Gesellschaft nicht nur aus Regierenden, sondern auch aus Regierten. Sie kann nicht ausschließlich egalitär strukturiert sein. Macht benötigt einen Macht-Haber sowie zugleich ein Gegenüber, über das der Macht-Haber mittels Macht verfügt. Ein reiner Egalitarismus verfängt daher nicht. Ebenso verhält es sich mit sozialer Gerechtigkeit in Form eines »Reichtums für alle«, wie ihn zum Beispiel die Partei »Die Linke« fordert. Es kann nicht nur reiche Menschen geben, denn der relative Begriff des Reichtums setzt nun mal Armut als dialektisches Gegenüber voraus. Auf die Weltwirtschaft übertragen identifiziert Pankaj Mishra gar ein globales Ressentiment in direkter Reaktion auf die Unmöglichkeit, die Versprechungen der Marktgesellschaft für alle Staaten gleichzeitig einzulösen.[10]

Radikalisierung als Folge unerfüllter politischer Erwartungen

Wer die Argumentation von Scheler fortführt, kann potenzielle gesellschaftspolitische Desintegrationsprozesse in politischen Systemen beschreiben, die allen Mitgliedern bestimmte Rechte garantieren: Verfestigt sich das Diskriminierungsgefühl, so beginnt der Einzelne, sich nach Gleichgesinnten mit Kränkungserfahrungen umzuschauen. Finden sie zusammen, kann aus einem individuellen ein vergemeinschaftetes Ressentiment erwachsen. Die Gekränkten erkennen keinen Vorteil mehr darin, sich der sie ausschließenden Gesellschaft gegenüber zur Loyalität zu verpflichten. Die Solidarität untereinander, die das Fundament einer friedlichen Gesellschaft bildet, beginnt nun zu erodieren. Die Radikalisierungsverläufe nehmen zu, und das System verliert seinen gesellschaftlich tragenden Untergrund, wenn sich immer größere Teile der Bevölkerung von ihm abwenden.

Radikale wird dies freuen, finden sie doch eine Schwachstelle, an der sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einem demokratischen Verfassungsstaat empfindlich treffen können. Sie pflegen das Ressentiment, das sich bei vielen Menschen entwickelt, als kulturellen Nährboden, um die Gesellschaft zu destabilisieren und eine radikal andere Werteordnung zu postulieren: Diese, so die verheißungsvolle Botschaft, werde alle bisherigen Unvollkommenheiten endlich überwinden.

Außenpolitik als überambitionierte Heilsmission

Die verfehlte Politik des »Immer mehr«, die auf einem unrealistischen Menschen- und Weltbild aufbaut, hat über innenpolitische Fragen hinaus erhebliche Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik eines Landes. Denn wer sich mit Krisenregionen wie dem Nahen Osten befasst, mag mit einiger Verwunderung, wenn nicht gar Erschütterung, auf die mitunter naiv anmutenden Einlassungen mancher europäischer Politiker und Wissenschaftlerinnen bei Ausbruch des Ukraine-Krieges blicken. Hier schien sich tatsächlich zuvor eine europäische Wahrnehmung durchgesetzt zu haben, die davon ausgeht, Kriege fänden nur noch in fernen Ländern statt, mit einer Bevölkerung, die wohl ganz anders sein müsse als man selbst. Schließlich habe man doch »im Westen« gelernt, politische Konflikte innerhalb respektvoller Diskurse zu entschärfen.

Was aber, wenn die internationale Ordnung, auf welcher der Friede gründet, nicht von allen Staaten gewünscht ist, sondern aus Sicht mancher Länder radikal anders beschaffen sein sollte? Wie, wenn nicht gewaltsam, könnten diese Herrscher die bestehende Weltordnung zu Fall bringen? Anscheinend hat sich die Spezies Mensch trotz eines mitunter heilsähnlichen Fortschrittsglaubens nicht zu einem besseren, geschweige denn vollkommenen Wesen entwickelt, das der Gewalt und dem Krieg abgeschworen hat.

Wie nicht zuletzt der Politikwissenschaftler Peter R. Neumann ausführt, ist die Naivität, mit der die Agenda »spread democracy all over the world« umgesetzt wurde, irritierend.[11] Gleich den Anhängern historizistischer Heilsideologien[12] waren Politik und Wissenschaft in den westlichen Ländern mehrheitlich so überzeugt von ihrer Weltanschauung, dass sie sich alternative politische Ordnungen, die ebenfalls attraktiv sein könnten, nicht vorzustellen vermochten: Das derzeit stabile autokratische China wird immer mächtiger, und ideologische Gegenentwürfe à la Putin, Orbán und Erdoğan zur offenen, pluralen Gesellschaft sowie der Systemzerstörer Trump fordern den liberalen Rechtsstaat an seinen Grundfesten heraus. Sie alle entfalten eine Anziehungskraft auf diejenigen, die wegen der tiefgreifenden strukturellen Veränderungen nicht zuletzt durch die Globalisierung als Verlierer zurückbleiben: Denn jedes System erzeugt Verlierer.

Das Erwachen vieler aus diesem friedensbewegten Wunschtraum, der Gewalt als anthropologische Grundkonstante verdrängt, wird nun als Zeitenwende deklariert. Es bedeutet für seine Anhängerschar Trauer, Frust und Enttäuschung. Ihre pazifistischen Ideale scheinen sich in der politischen Wirklichkeit diskreditiert zu haben. Die Verheißungen einer liberalen Demokratie, die sich in ihren Augen als heilsähnliches politisches System im Schulterschluss mit der Modernisierung und Globalisierung weltweit durchsetzen würde, ja müsste, scheinen die eigenen Erwartungen nicht zu erfüllen. Schließlich ist das Himmelreich auf Erden auch in einer liberalen Demokratie nicht erfüllbar, da diese von unvollkommenen Menschen getragen wird, die immer wieder an sich und an den eigenen Ansprüchen scheitern.

Was tun?

Die Anerkennung einer unzulänglichen Wirklichkeit darf trotz allem nicht bedeuten, sich zynischen Bequemlichkeiten hinzugeben, die ein »besser geht es eben nicht« suggerieren oder gar rechtfertigen. Vielmehr gilt es, eine realistische politische Anthropologie zu formulieren, an der die Gesellschaft und die Politik in einem demokratischen Verfassungsstaat Orientierung finden. Schließlich sind die Menschenrechte kein Abstraktum, sie können umgesetzt werden – aber eben niemals für alle Menschen zu jederzeit. Sie bedeuten Ideale, welche der Politik ihre dringend gebotene Orientierung ermöglichen. Eine Gesellschaft wird sie jedoch niemals im Ganzen erreichen. Das sollte folglich auch nicht versprochen werden. Ein Blick auf die Stückwerk-Technologie von Karl R. Popper[13] mag die Grundlage für eine realistische Politik zu vermitteln. Ein schrittweises kleines Eingreifen verbessert mehr als ein holistisches überambitioniertes Vorgehen. Ebenso entspricht es einer realistischen politischen Anthropologie zu erkennen, dass die liberale Demokratie nicht überall willkommen ist – schon gar nicht, wenn Panzer sie in die Länder rollen. Ihre Stärke beruht auf einer Freiwilligkeit, die sich aus der Gesellschaft heraus entwickelt.

Politik und Wissenschaft sind daher dazu aufgefordert, in den Idealen, die sie als umsetzbar verkünden, Maß zu halten: Weniger ist mehr! So sollte es besser »Für eine gerechtere Gesellschaft« statt »Für eine gerechte Gesellschaft« lauten. Sonst schlagen der Politik rasch die Wut, der Frust sowie die Enttäuschung derer entgegen, die nicht vom demokratischen Rechtsstaat profitieren oder sich durch seine unerfüllten Versprechungen verraten fühlen. Diese Nüchternheit mag für die Wählerschaft unattraktiver klingen; aber vielleicht sollte die Politik den Realismus der Mehrheit nicht unterschätzen, wenn sie ihr reinen Wein einschenkt. Der liberalen Demokratie wären daher realistische Anhänger zu wünschen, die sie nicht zur unerfüllbaren sowie alle Menschen allein glückselig machenden Heilsideologie verzerren. Schließlich ist dieses politische System, wie Raymond Aron einst festhielt, das am wenigsten schlechte Regime.[14] Und das allein ist alle Unterstützung wert.

[1] Vgl. hierzu Shigehiro Oishi & Ed Diner, Residents of Poor Nations Have a Greater Sense of Meaning in Life Than Residents of Wealthy Nations, in: Psychological Science, H. 2/2013, S. 422–430, https://tinyurl.com/indes233b1.[2] Vgl. Christian Uhle, Wozu das alles? Eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens, Frankfurt a. M. 2022.

[3] Vgl. zum Ressentiment als Affektlage und ihrem Verhältnis zur Radikalisierung das derzeitige Münsteraner Forschungsprojekt „Ressentiment“, an dem die Autorin des Beitrags mitforscht, https://tinyurl.com/indes233b2.

[4] Vgl. Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Frankfurt a. M. 2017 [1912], S. 9.

[5] Vgl. hierzu auch Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a. M. 20195, S. 67.

[6] Vgl. Scheler

[7] Man denke nur an zahlreiche Phrasen und Ratgeber à la „Glaube an Dich selbst, dann wird Dir alles gelingen“, welche die Buchläden füllen.

[8] Vgl. hierzu https://tinyurl.com/indes233b3l; Der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, Ostdeutschland. Ein neuer Blick, Bericht 2022 sowie die Studien der Antidiskriminierungsstelle des Bundes www.antidiskriminierungsstelle.de.

[9] Vgl. zum aktuellen Opferdiskurs Matthias Lohre, Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben, Bonn 2021.

[10] Vgl. Pankaj Mishra, Politik im Zeitalter des Zorns. Das dunkle Erbe der Aufklärung, in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017, S. 175-195, hier S. 185.

[11] Vgl. Peter R. Neumann, Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört, Berlin 2022.

[12] Vgl. hierzu Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2004.

[13] Vgl. Karl Raimond Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 19877.

[14] Raymond Aron, Opium für Intellektuelle oder die Sucht nach Weltanschauung, Berlin 1957.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2023