Weniger Bock auf Arbeit! Hannah Arendt und die Vier-Tage-Woche

Von David Winterhagen  /  Carlo Brauch

Die Diskurslandschaft der Bundesrepublik wurde jüngst in helle Aufregung versetzt. Die IG-Metall fordert seit Mitte 2023 die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) macht die Reduzierung von Arbeitszeit zum zentralen Anliegen in den Auseinandersetzungen mit der Deutschen Bahn. Doch fiel die mediale und diskursive Unterstützung bei der Wortmeldung der IG-Metall im September 2023 noch enthusiastisch aus, ist die allgemeine Stimmung gegenüber den Forderungen der GDL im Dezember von Ablehnung, Empörung und Neiddebatten dominiert. Den Forderungen der Gewerkschaften werden Thesen der Alternativlosigkeit und der ökonomischen Zwänge entgegengehalten.[1] Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes, bezeichnete die Vier-Tage-Woche in diesem Sinne als eine »wirtschaftliche Milchmädchenrechnung«. Um in Zukunft den Wohlstand der Nation sichern zu können, bräuchten wir ganz gegenteilig »mehr Bock auf Arbeit«.[2] Flankiert wird er in dieser kategorischen Ablehnung von Abgeordneten der CDU und FDP, die der Vier-Tage-Woche mit dem klassischen Diskurs ökonomischer Alternativlosigkeit eine Absage erteilen. Arbeitszeitreduzierungen seien angesichts des Fachkräftemangels nicht umsetzbar, ohne die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands beträchtlich zu schädigen.[3] Solche Äußerungen sollten nicht nur vor dem Hintergrund der tatsächlichen Komplexität nationalökonomischer Annahmen kritisch betrachtet werden.[4] Sie sind Versuche, Anliegen, die die normative Frage nach der Zukunft der Arbeit und ihrer Rolle in unserem Leben stellen, aus dem Raum des Debattierbaren zu verdrängen.

Ein Grund, das Anliegen der Arbeitszeitbegrenzungen ernst zu nehmen, ist offensichtlich: Arbeitnehmer:innen befürworten die Forderung mehrheitlich. Rund 73 Prozent der Beschäftigten können dem Vorschlag laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung Einiges abgewinnen.[5] Das ist kaum verwunderlich. Wer hätte nicht gern mehr Zeit für sich, die Familie oder Projekte außerhalb der Arbeit?

Ist es somit – da hier Gewerkschaften offenbar eine verbreitete Stimmungslage aufgreifen – nicht an der Zeit für ein neues Arbeitszeitmodell? Immerhin hat sich nach mehr als einem Jahrhundert hartem Arbeitskampf im Zuge der Industrialisierung, der eine sukzessive Arbeitszeitreduktion zur Folge hatte – von der Verabschiedung erster Arbeitsschutzgesetze im 19. Jahrhundert über die Durchsetzung des Achtstundentages 1918 bis zur flächendeckenden Einführung der 40-Stunden-Woche in den 1960ern – in Sachen Arbeitszeitverkürzung seither in Deutschland kaum etwas getan. Zwar gab es in bestimmten, gewerkschaftlich stark präsenten Branchen vereinzelt Vorstöße hin zu einer 35-Stunden-Woche, doch in den allermeisten Fällen bildet der Stand der sechziger Jahre nach wie vor die Norm.[6] Eine frische Initiative hin zu weniger Arbeit scheint daher schlichtweg überfällig zu sein.

An der Zeit ist es daher auch wieder für eine theoretische Auseinandersetzung mit der Diskussionsgrundlage selbst: dem Sinn der Tätigkeit »Arbeit«.  Genau eine solche theoretisch anspruchsvolle und normativ gehaltvolle Auseinandersetzung leistet die politische Theoretikerin Hannah Arendt. Ihre Antwort auf die Frage »Was tun wir eigentlich, wenn wir tätig sind?« ermöglicht es, im Kontext der Debatte um die Vier-Tage-Woche zu erhellen, was überhaupt der Sinn menschlicher Arbeit sein könnte und welche Rolle wir ihr in unserer Gesellschaft beimessen.[7] Was tun wir also, wenn wir arbeiten, und warum tun wir es?

 

Arbeit und Leben

 

Dieser Frage geht Arendt in ihrem philosophischen Hauptwerk Vita Activa nach, das unter dem Titel The Human Condition erstmals 1958 in den USA erschien und zwei Jahre später in einer von Arendt selbst angefertigten und abgeänderten deutschen Übersetzung veröffentlicht wurde. Die Kombination der beiden unterschiedlichen Titel nimmt bereits einen zentralen Punkt von Arendts Vorhaben vorweg: Die Untersuchung des »tätigen Lebens« sei unweigerlich mit der Frage nach den Grundbedingungen des Menschseins verknüpft, also denjenigen Bedingungen, »unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist« – vita activa und human condition hängen also zusammen.[8] Davon ausgehend setze sich das tätige Leben aus drei Grundformen zusammen, dem Arbeiten, dem Herstellen und dem Handeln. Diese seien an jeweils unterschiedliche formal-anthropologische Grundelemente geknüpft.[9] In diesem Schema entspräche der Grundform des Arbeitens das Grundelement des Lebens als Bedingung und Zweck. Denn als Lebende können wir arbeiten, und wir arbeiten, um zu überleben.

Unter Leben versteht Arendt die alltäglichen Notwendigkeiten, die dem Menschen als Organismus auferlegt sind. Diese Notwendigkeiten äußern sich in dem Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, der bereits von Karl Marx im ersten Band des Kapitals als Kerngehalt der Arbeit erkannt wird.[10] Nicht um als Einzelner gut zu leben, sondern um als Gattung zu überleben, müsse der Mensch sich Nahrung zuführen, reinigen, fortpflanzen – kurzum, sich reproduzieren. Der Rhythmus dieser Aktivitäten im Kleinen folge dem Rhythmus der Natur im Großen als einem sich ewig kreisförmig wiederholenden Prozess, in dem Entstehen und Vergehen aufs Engste miteinander verbunden sind. Analog dazu folgen die Verausgabung der eigenen Körperkräfte in der Arbeit und die Reproduktion dieser Kräfte im Konsum der Arbeitsprodukte unmittelbar aufeinander: Der Mensch bereitet sich ein Mahl, um es zu verspeisen, und er reinigt sich und seine Umgebung in der Gewissheit darüber, dies bald erneut tun zu müssen. Die Flüchtigkeit der Arbeitsprodukte fließe buchstäblich aus der Natur der Sache, nämlich aus der Tatsache, dass sich das Leben qua Natur verbrauche und stetig über weitere Arbeit erneuert werden müsse.

Hieraus lässt sich Arendts kontraintuitive Unterscheidung zwischen dem Arbeiten und der zweiten Grundtätigkeit, dem Herstellen, erläutern. Das Ergebnis des Herstellens ist gerade kein flüchtiges Konsumprodukt, sondern ein relativ dauerhafter Gegenstand. Herstellend überwindet der Mensch die Grundbedingung des bloßen Lebens und erzeugt eine Welt selbstgeschaffener Dinge, die von einfachen Werkzeugen über große Gebäudekomplexe bis hin zu monumentalen Kulturgütern reicht.[11] Das Herstellen verlaufe nicht reproduktiv-kreisförmig wie das Arbeiten, sondern produktiv-linear und instrumentell: Der Mensch ordnet die verfügbaren Mittel an, um einen bestimmten, in seiner Vorstellung gegebenen Zweck zu vergegenständlichen. Entsprechend sei auch die dadurch erzeugte Welt zweckmäßig eingerichtet. Diese Welt aus zweckmäßigen, sprich für eine bestimmte Verwendung intendierten Gegenständen verleihe dem menschlichen Leben eine Struktur der alltäglichen Vertrautheit. Dieses Strukturganze reduziere einerseits Komplexität, gebe dem Menschen Orientierung und biete seinem fragilen, endlichen Dasein eine Art Obhut. Andererseits stelle es die Voraussetzung für die dritte und normativ bedeutsamste von Arendts Tätigkeitsformen dar: das öffentliche politische Handeln, das sich nur in einem vorstrukturierten, gegenständlichen Raum ereignen könne. Denn erst die menschlich hergestellte Welt offeriere einen stabilen örtlichen Rahmen – sei es nun in Form eines Parlamentes oder eines öffentlichen Platzes –, in dem die Vielen zusammenkommen können, um dauerhaft politisch zu interagieren.

Genau hier setzt Arendts radikale Gesellschaftskritik an. Denn ihr zufolge ist die moderne Gesellschaft von dem flächendeckenden Phänomen der Weltentfremdung gebrandmarkt. Unter Weltentfremdung versteht sie einen zweifachen Verlust: der strukturgebenden Gegenständlichkeit der hergestellten Dingwelt auf der einen Seite und der räumlichen Öffentlichkeit als Forum politischen Handelns auf der anderen Seite. Mindestens teilverantwortlich für die Weltentfremdung ist nach Arendt die moderne Idealisierung der Arbeit. Sie führt diese ideengeschichtlich auf eine Denktradition zurück, die von John Locke über Adam Smith bis Karl Marx reicht und die »gerade in der Arbeit die Quelle des Eigentums, des Reichtums, aller Werte überhaupt und schließlich gar der Menschlichkeit des Menschen« gesehen habe.[12] Mit dem Aufkommen des Kapitalismus und der Entfaltung der Produktivkräfte habe sich somit die Rangordnung menschlicher Tätigkeiten umgekehrt und die Arbeit sei zur zentralen Tätigkeitsform geworden. Ihre kapitalistische Gegenwart diagnostiziert Arendt entsprechend als eine Gesellschaft der Jobhalter, die durch Verausgabung ihrer Arbeitskräfte den kollektiven Wohlstand mehren und im Gegenzug als Einzelne einen Lohn erhalten, mit dem sie sich reproduzieren und den privaten Vergnügungen des Konsums nachgehen können.

In dieser Gesellschafskritik orientiert sich Arendt an den (ideen)geschichtlichen Entwicklungen der menschlichen Tätigkeiten in Hinsicht auf ihre Bedeutung, Beschaffenheit und Lokalisierung. Dabei fungiert die griechische Antike als eine Art Kontrastfolie für die Moderne. Um die Verdrängung der Tätigkeit des Handelns durch die Arbeit mitsamt ihren ideologischen Konsequenzen besser zu verstehen, hilft es daher, einen Blick zurückzuwerfen und die Hierarchie der Tätigkeiten in der griechischen polis den Gegebenheiten der modernen Gesellschaft gegenüberzustellen.

 

oikos, polis und Gesellschaft

 

In der griechischen Antike erkennt Arendt eine strikte Aufteilung der Welt in eine öffentliche und private Sphäre, in der auch die Tätigkeiten des Handelns und der Arbeit voneinander getrennt stattfinden und durch unterschiedliche Personen ausgeübt werden. Die private Sphäre, der oikos, zeichnet sich hierbei durch eine zweifache Herrschaft aus. Einerseits unterstehen die arbeitenden Subjekte im Haushalt der Herrschaft der Lebensnotwendigkeiten. Ihre Tätigkeit ist von den alltäglichen Bedürfnissen des menschlichen Körpers diktiert und dient deren Befriedigung. Andererseits ist in der Herrschaft des Hausherrn bereits ein Element der Entfremdung der Arbeit zu erkennen. Die Arbeit zielt nicht nur auf die körperlichen Notwendigkeiten der arbeitenden Subjekte, sondern in erster Linie auf die Bedürfnisse des Hausherrn, der sich durch die Mehrarbeit seiner Sklav:innen von den Lasten der Arbeit befreit.[13]

In dieser Befreiung des Mannes durch Herrschaft über den Hausstand bestehe, so Arendt, die einzige Verbindung der Tätigkeiten des Arbeitens und des Handelns. Die Erledigung der Arbeit, die notwendig ist zum Erhalt des eigenen Lebens, bilde die Voraussetzung für den Zugang zum öffentlichen Raum, der polis, in dem das Handeln stattfindet.[14] Die Beziehung zwischen Handeln und Arbeiten lässt sich somit auf die etwas trivial anmutende Aussage reduzieren, dass nur politisch tätig werden kann, wer sich nicht um das eigene Überleben zu sorgen braucht. Der öffentliche Raum, in den die Person aufsteigt, die sich von der Arbeit befreit hat, zeichne sich durch formale Gleichheit aus, insofern alle in ihm Anwesenden Hausherren sind, die sich durch Herrschaft von den Bürden des Lebens befreit haben.

Nun leben wir heutzutage nicht länger in diesem Sinne in einer Gesellschaft der Hausherren, dennoch hat Arendts ‚antike‘ Erkenntnis, dass nur politisch tätig werden könne, wer sich nicht länger mit der Arbeit beschäftigen müsse, keineswegs an Bedeutung eingebüßt. Vielmehr hat sich der zeitliche Aufwand für die Arbeit immer weiter ausgedehnt – wie Arendt auch selbst erwähnt[15] und was sie mit der angeführten Tätigkeitenverschiebung in der Moderne begründet:  In der kapitalistischen Moderne sei die Arbeit aus den Grenzen des Privaten ausgebrochen, in die Öffentlichkeit vorgedrungen und habe einen gesellschaftlichen Raum konstituiert. Dies ist als eine erweiternde Vereinnahmung der Öffentlichkeit durch die Arbeit zu verstehen, die nunmehr sowohl im Privaten als auch in der Öffentlichkeit stattfindet. Besinnen wir uns zurück auf Arendts Definition der Arbeit als der dem Lebensprozess des Menschen entsprechenden Tätigkeit, können wir eine konzeptionelle Dreiteilung der Arbeit in der modernen Gesellschaft erkennen.

Erstens existiert die Arbeit auch weiterhin in unvermittelter Form im Privaten und lässt sich mit dem feministisch geprägten Begriff der Care-Arbeit erfassen. Diese Erscheinungsform der Arbeit zeigt weiterhin Parallelen zum Haushalt in der griechischen Antike, nicht zuletzt durch das Abhängigkeitsverhältnis, in dem sie oft verrichtet wird. Die Care-Arbeit zeichnet sich durch eine direkte Gebundenheit an die alltäglichen Erfordernisse des Lebens aus, wobei unerheblich ist, ob die Bedürfnisse des eigenen Körpers oder von Bezugspersonen im Mittelpunkt stehen. Bezeichnend ist vielmehr, dass meist Bedürfnisse Gegenstand der Care-Arbeit sind, die eine unmittelbare Befriedigung erfordern, wie an der Betreuung von Kleinkindern oder Pflegebedürftigen gut zu erkennen ist. Die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte im Bereich der Altenpflege sowie die Forderungen feministischer Bewegungen nach mehr Kinderbetreuungsangeboten weisen allerdings auf eine Verschiebung der Care-Arbeit in den gesellschaftlichen Raum hin, in dem die Pflege zu einer durch Lohnarbeit und Konsum vermittelten Form der Arbeit wird.[16]

Die beiden weiteren Erscheinungsformen der Arbeit in der Moderne sind Lohnarbeit und Konsum. In Ersterer sind Form und Gegenstand der Arbeit entkoppelt von ihrem eigentlichen Zweck. Lohnarbeit steht nach wie vor, wie alle Arbeit, unter der Bedingung des Lebens und dient somit auch weiterhin dem Überleben. Indem die Erfüllung dieses Zwecks in der modernen Gesellschaft jedoch durch den universalen Tauschgegenstand bzw. das allgemeine Äquivalent der Geldform (Marx) vermittelt wird, löst sich der Gegenstand der Arbeit von den unmittelbaren, körperlichen Bedürfnissen und orientiert sich an den Aussichten auf monetären Verdienst. Hier zeigt sich deutlich die Angewiesenheit der Lohnarbeit auf die dritte Erscheinungsform, den Konsum. Ohne die Möglichkeit, die durch Lohnarbeit beschafften Mittel auf dem Tauschmarkt in die Gegenstände umzusetzen, die zur Befriedigung körperlicher Bedürfnisse erforderlich sind, ist sie buchstäblich zwecklos. Erst in der Verbindung mit dem Konsum beschreibt auch die Arbeit im gesellschaftlichen Raum einen zirkulären Stoffwechselprozess. Lohnarbeit und Konsum stellen somit eine geteilte Form der Arbeit dar, die charakteristisch für die moderne Gesellschaft ist. In Arendts Worten leben wir daher nicht nur in einer Konsumgesellschaft, sondern zugleich in einer Arbeitsgesellschaft, denn Lohnarbeit und Konsum sind zwei Seiten derselben Medaille.[17]

Arendts Kritik an der Massengesellschaft richtet sich daher auch gegen die moderne »Freizeit«, die in ihrer Prägung durch den Konsum für Arendt ebenfalls lediglich einen Teil des Arbeitskreislaufes bildet.[18] Insofern bezieht sich Arendts These der Verdrängung des politischen Handelns nicht nur auf den hohen Zeitaufwand, den die Lohnarbeit erfordert, sondern auch auf den Konsum, der die eigenen Lebensnotwendigkeiten übersteigt und den Großteil der übrigbleibenden Zeit, unserer sogenannten Freizeit, einnimmt.[19] Die Begegnungen mit Menschen außerhalb von Freundes- und Familienkreisen sind in dieser Freizeit geprägt von Instrumentalität, dem Konsumwunsch der kaufenden und der Lohnarbeit der verkaufenden Partei. Politisches Handeln als eine selbstzweckhafte Tätigkeit, die zwischen gleichrangigen Personen stattfindet, kann aus derartigen Begegnungen nicht entstehen.[20]

 

Mehr Bock auf Handeln

 

Doch was nützt uns diese Rekonstruktion von Arendts abstrakter Tätigkeitenontologie einschließlich ihres eigensinnigen Arbeitsbegriffes und ihrer Gesellschaftskritik in Bezug auf den Kontext der gegenwärtigen Debatte um die Vier-Tage-Woche? Kurzum, sie stellt diese zumeist technisch-pragmatisch geführte Debatte auf ein theoretisches Fundament. Dieses Fundament erlaubt es, die diskursive Aufmerksamkeit nicht allein auf die empirischen Vor- und Nachteile von mehr oder weniger Arbeitsstunden zu lenken, sondern auch darauf, was unter dem Begriff der Arbeit selbst genau verstanden werden kann – und welche normativen Konsequenzen aus einem solchen Verständnis folgen.[21] Dabei lassen sich insbesondere zwei normative Perspektiven ausformulieren: eine negativ-kritische und eine positiv-konstruktive.

In einer ersten normativen Hinsicht gelingt es Arendt, eine Konsum- und Kapitalismuskritik zu formulieren, ohne zugleich in einen Marx’schen Diskurs der anthropologischen Verherrlichung nicht-entfremdeter Arbeit zurückzufallen.[22] Dadurch nimmt sie eine nüchterne Sichtweise auf das Phänomen der Arbeit als einer in erster Linie der Reproduktion des Lebens dienlichen Tätigkeit ein, die es nicht über dieses Maß hinaus zu beschönigen und auszuführen gilt.

Diese nicht-idealisierende Sichtweise gewinnt auch dadurch an Bodenhaftung, dass spätestens seit dem Erscheinen von David Graebers Bullshit Jobs eine gewisse Skepsis gegenüber dem Sinn der eigenen Arbeit virulent zu sein scheint. In dem 2018 veröffentlichten Bestseller geht Graeber von der Prämisse aus, dass im Laufe der letzten Jahrzehnte massenweise »bullshit jobs« an die Stelle der durch die Entwicklung der Produktivkräfte obsolet gewordenen Tätigkeiten getreten sind. Unter einem »bullshit job« versteht Greaber

»a form of paid employment that is so completely pointless, unnecessary, or pernicious that even the employee cannot justify its existence even though, as part of the conditions of employment, the employee feels obliged to pretend that this is not the case«.[23]

Diese Jobs seien von bloßen »shit jobs« zu unterscheiden, die zwar unterbezahlt und körperlich und seelisch ruinös sind, denen dafür aber ein klar nachweisbarer Sinn zugerechnet werden kann. Demgegenüber sei ein »bullshit job« häufig gut bezahlt und komfortabel, jedoch zugleich nahezu bedeutungslos, da er beispielsweise bloß dazu dient, die Optik des Unternehmens aufzubessern, ein systemimmanentes Problem immer wieder aufs Neue provisorisch zu flicken oder wichtige Aufgaben zu verteilen, die dann von anderen erledigt werden. Klassische Beispiele bilden das mittlere Management und die Administration.[24]

Auch wenn Graeber sowohl in seiner Diagnose als auch in seiner Analyse teils schwankend, ungenau und sogar selbstwidersprüchlich argumentiert,[25] scheint er allein mit der Benennung des Phänomens der »bullshit jobs« einen Nerv der Zeit getroffen zu haben – so viel belegt zumindest die massenhafte Rezeption des Buches. Bedauerlicherweise geht diese Rezeption jedoch nicht in die Debatten rund um Arbeitszeitverkürzungen ein. Die Apologeten der Fünf-Tage-Woche scheinen vielmehr vorauszusetzen, dass die bestehenden Formen der Arbeit per se sinnvoll sind. Doch genau das stellt Graeber radikal infrage: Die Bedeutsamkeit von »bullshit jobs« kann per definitionem nicht über die Existenzsicherung des Einzelnen und seinen privaten Konsum hinausgehen. Daraus lässt sich normativ mindestens schlussfolgern, dass die dafür aufgewendete Zeit keinesfalls das notwendige Maß überschreiten sollte. Darin stimmen Graber und Arendt wohl überein. Doch anders als bei Graeber bildet bei Arendt nicht allein das Phänomen sinnloser Bürojobs im Informationssektor das Ziel der Kritik, sondern die Tätigkeit der Arbeit insgesamt. Contra Graeber würde es daher nicht ausreichen, die Bullshit-Formen der Arbeit durch vermeintlich bedeutungsvollere Formen zu ersetzen. Mit Arendt sollte vielmehr jedwede Arbeit – als an die Notwendigkeit des Lebens gebundene Tätigkeit – auf den dafür erforderlichen Umfang begrenzt werden. Somit gilt es, alle technischen und organisatorischen Mittel aufzuwenden, die die Entwicklung der Produktivkräfte hergibt, um die Gesamtarbeitszeit für alle zu reduzieren. Der übrigbleibende Rest an notwendiger Arbeitszeit sollte gerecht verteilt werden, um allen gleichermaßen die Möglichkeit zu geben, den Sinn vor allem in der wichtigsten von Arendts Tätigkeiten zu finden, dem Handeln.

Genau das konstituiert neben der negativ-kritischen die zweite normative Perspektive von Arendts Arbeitsverständnis: einen positiven Gegenentwurf zur (Bullshit-)Jobholder-Gesellschaft. Dieser wird zwar nicht en detail und explizit ausgeführt, ist aber in Arendts klarer Hierarchisierung der Tätigkeiten und der darauf aufbauenden Arbeits- und Gesellschaftskritik mindestens implizit enthalten. Aus dieser Hierarchisierung folgt, dass die (niedrige) Tätigkeit der Arbeit in ihrer Reproduktion des Lebens bloß die notwendige Grundlage für die (hohe) Tätigkeit des gemeinsamen, politischen Handelns bildet. Arendts anthropologisch begründete Rangordnung zieht hierin den Appell nach sich, nicht bloß genug (öffentlichen) Raum, sondern ebenso ausreichend Zeit für die politische Interaktion bereitzustellen. Eine Vier-Tage-Woche würde diese Zeit ausweiten. Das deckt sich durchaus mit den in der Einleitung zu diesem Text erwähnten Studienergebnissen: Rund 87 Prozent der Befragten, die sich für eine Vier-Tage-Woche aussprechen, geben als Grund an, »mehr Zeit für Hobbies, Sport, Ehrenamt etc.« aufwenden zu wollen.[26]

Nun lässt sich der Punkt »Hobbies, Sport, Ehrenamt etc.« wohl kaum auf politisches Engagement im engen Sinne reduzieren, etwa auf die Teilnahme an Demonstrationen oder die Mitwirkung in Parteien und Bewegungen. Doch derlei Aktivitäten können faktisch als eine Art vorpolitisches[27]  Arendt’sches Handeln verstanden werden, insofern dabei Menschen die Tätigkeit der Arbeit niederlegen und den Bereich von Wirtschaft und Haushalt verlassen, um freiwillig ein gemeinsames Projekt zu verfolgen. Zudem kann mit Arendt normativ dafür argumentiert werden, dass die Akteure dieses vorpolitische Handeln schrittweise in tatsächliches, politisches Handeln umwandeln sollten – vom Hobby über das Ehrenamt hin zur Bürgerversammlung. Das Fundament für dieses langfristige Ziel bildet der Austritt aus der ökonomischen Sphäre. In ihrem Fazit schließen die Autorinnen der Studie daher zu Recht, dass der Vier-Tage-Woche mindestens das Potenzial zu einer verbesserten zivilgesellschaftlichen Teilhabe innewohne: Die durch die Verkürzung der Arbeitszeit errungene Muße sei unerlässlich für »gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität von Demokratie«.[28]

Partizipation gegen Populismus

 

Dieser letzte Punkt ist besonders wichtig, ist doch in der Politikwissenschaft spätestens seit dem Erstarken des Rechtspopulismus vermehrt von einer Krise der liberalen Demokratie oder einer demokratischen Regression die Rede. Diese Phänomene werden häufig – insofern Wähler:innen populistischer Parteien nicht pauschal als intellektuell unzulängliche Globalisierungsverlierer:innen vom Land verunglimpft werden – auf eine Entfremdung zwischen Bürger:innen und politischer Elite zurückgeführt: Ein Mangel an Repräsentation und Teilhabe, das Sich-nicht-gehört-Fühlen, gilt demnach als Ursache für die Attraktivität von Populismen und die daraus folgende demokratische Instabilität.[29] Die stabilisierende Antwort darauf muss im Umkehrschluss eine Ausweitung und Vertiefung der Demokratie sein, also eine Stärkung der Einbindung des Demos in politische Entscheidungsprozesse.

Eine zentrale Voraussetzung für eine solche Strategie ist sicherlich auch, die Arbeitszeit auf eine Weise zu reduzieren, die Platz für ein gesteigertes bürgerschaftliches Engagement lässt. Dieser Aspekt lässt sich mit Arendts Begriffsapparat äußerst präzise fassen. Denn darin bildet Arbeit mit ihrer Gebundenheit an die private Notwendigkeit der Reproduktion des Lebens- und Kapitalflusses mitsamt deren Kehrseite der Freizeit als unpolitischer Konsumaktivität den drastischen Gegensatz zum freien, öffentlichen und politischen Handeln. Die dezidiert stabilitätspolitische Bedeutsamkeit dieses Handelns als Anteilnahme der Bürger:innen an der politischen Macht führt Arendt den Leser:innen ihre Werkes stets vor Augen – beispielsweise in ihren Überlegungen zu Bürgerräten, zur Verfassung und zum zivilen Ungehorsam.[30] Wenn also bürgerschaftliche Partizipation einen integralen Stabilisierungsfaktor politischer Ordnungen bildet und die grassierenden Populismen mindestens in Teilen auf einen Mangel an Partizipationsmöglichkeiten zurückzuführen sind, dann muss eine Verdrängung des Handelns durch Arbeit respektive der Öffentlichkeit durch die Privatheit destabilisierend und populismusfördernd wirken. Im Angesicht demokratischer Regressionen gilt es mit Hannah Arendt folglich, den ökonomischen durch den politischen Imperativ zu ersetzen: Wir brauchen weniger Bock auf Arbeiten und dafür mehr Bock auf Handeln.

 

[1] Siehe bspw. Jenny Rieger, Kürzer arbeiten – mehr leisten?, in: tagesschau.de, 20.11.2023, https://tinyurl.com/indes233h1.[2] Spiegel, Arbeitgeberverband nennt Viertagewoche „Milchmädchenrechnung“, in: spiegel.de, 30.04.2023, https://tinyurl.com/indes233h2.

[3] ZDF, Kontroverse um Vier-Tage-Woche, in: zdf.de, 30.04.2023, https://tinyurl.com/indes233h3.

[4] Um die Kritik an der ökonomischen Validität der Aussagen schlagworthaft zu umreißen, ist einerseits strittig, wie stark sich Arbeitszeitbegrenzungen auf Effizienz und Produktivität auswirken, und andererseits, wie sich der Arbeitsmarkt durch die Einführung einer allgemeinen Vier-Tage-Woche verändern würde. Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive sind natürlich weder das Wirtschaftswachstum noch der Fachkräftemangel festgeschriebene Größen, sondern normative Ziele und Herausforderungen des politischen Akteurs.

[5] Yvonne Lott & Eike Windscheid, 4-Tage-Woche. Vorteile für Beschäftigte und betriebliche Voraussetzungen für verkürzte Arbeitszeiten, in: Policy Brief WSI, H. 5/2023, https://tinyurl.com/indes233h4.

[6] Vgl. Julia Werthmann, Wenn die Milchmädchen rechnen, in: politischeoekonomie.com, 14.05.2023, https://tinyurl.com/indes233h5.

[7] Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2021 [1960], S. 20.

[8] Ebd., S. 23.

[9] Formal-anthropologisch meint hier „die Benennung weniger und möglichst allgemeiner menschlicher Eigenschaften“, vgl. Luca Hemmerich & Dirk Jörke, Politische Anthropologiekritik, in: Zeitschrift für Politik, H. 4/2021, S. 406. Das ist im Kontext von Arendts Anthropologie wichtig, da sie die klassisch philosophisch-anthropologische Suche nach einer verborgenen, ewigen Essenz des Menschen angesichts seiner Freiheit und Performativität rundheraus ablehnt; vgl. Malte Miram & Grit Straßenberger, Menschenbilder in Politischen Theorien, in: Michael Zichy (Hg.), Handbuch Menschenbilder, Wiesbaden 2022, S. 14 sowie Seyla Benhabib, Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998, S. 180.

[10] Vgl. Karl Marx, Das Kapital, in: Marx-Engels Werke [MEW], Bd. 23, Berlin 1962, S. 11–802.

[11] Vgl. Benhabib, S. 177.

[12] Vgl. Arendt, S. 141.

[13] Dieser Aspekt findet auch Eingang in Arendts Begriff der Freiheit. Neben der Freiheit von äußeren Verhinderungen des Handelns, die durch Grundrechte wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit gewährleistet wird, ist die Freiheit von den Notwendigkeiten des Lebens zentraler Bestandteil der Arendt’schen Freiheitskonzeption.

[14] Vgl. Arendt, S. 50f.

[15] Ebd., S. 176.

[16] Diese Ausführungen zeigen, dass Arendt mit ihrem Arbeitsbegriff die traditionsträchtige, aber problematische Trennung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit unterläuft, die zu einem Ausschluss der als unverwertbar geltenden und weiblich konnotierten Care-Arbeit aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung geführt hat. Mit ihrer Diagnose einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, in der auch die klassischerweise als produktiv angesehene Tätigkeit des Herstellens obsolet wird, gelingt es Arendt, uneingeschränkt alle Arbeitsformen miteinzubeziehen und zu kritisieren, ohne einzelne Felder zu privilegieren.

[17] Vgl. Arendt, S. 170f.

[18] Wer den Zusammenhang zwischen Freizeit und Konsum hinterfragen möchte, sei hier eingeladen, zu überlegen, was die letzte „Freizeitaktivität“ war, der er:sie nachgegangen ist, die keinerlei monetäre Mittel erfordert hat.

[19] Vgl. Arendt, S. 175.

[20] Vgl. Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 2017, S. 47f.

[21] Arendts Konzeption der Arbeit enthält somit eine zugleich deskriptive als auch evaluative Komponente, die sich besonders in ihrer Gesellschaftskritik äußert. Das macht die Konzeption zwar attraktiv für kritische Interventionen, steigert jedoch zugleich die argumentative „Fallhöhe“. Einschlägige Kritiken finden sich etwa bei Robert Major, A Reading of Hannah Arendt’s „Unusual“ Distinction Between Labor and Work, in: Melvyn Hill (Hg.), Hannah Arendt: The Recovery of the Public World, New York 1979, S. 131–155 sowie bei Hanna Piktin, The Attack of the Blob. Hannah Arendt’s Concept of the Social, Chicago & London 1998 und Rahel Jaeggi, Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts, Berlin 1997.

[22] Zur Kritik von Arendt an Marx’ (anthropologischer) Idealisierung der Arbeit siehe Winfried Thaa, Hannah Arendt: Politik und Weltentfremdung, in: Politische Vierteljahresschrift, H. 4/1997, S. 695–715.

[23] David Graeber, Bullshit Jobs. A Theory, New York 2019.

[24] Die Ursachen für die Verbreitung von „Bullshit Jobs“ sieht Graeber auf materieller Ebene in einem finanzkapitalistischen Manager-Feudalismus, bei dem es nicht länger um die effiziente Gestaltung von Arbeitsprozessen zur Mehrung des allgemeinen Wohlstands gehe, sondern um die Dominanzbestrebungen einer kleinen Kaste, die Renten für sich und ihre Vasallen abzuzapfen sucht. Auf ideeller Ebene folge der hartnäckige Bestand an „Bullshit Jobs“ einer über die Jahrhunderte gewachsenen Arbeitsethik, der zufolge die eigene Charakterbildung und das eigene Seelenheil davon abhänge, Erwerbsarbeit als eine Form der Selbstkasteiung auszuüben – und zwar ganz egal, zu welchem Zweck, solange es nur keine Lust bereite. Vgl. ebd.

[25] Zur Kritik an Grabers intellektuellem Populismus siehe Oliver Nachtwey, Verschwörungstheorie trifft intellektuellen Populismus, in: sueddeutsche.de, 03.09.2018, https://tinyurl.com/indes233h6.

[26] Lott & Windscheid, S. 5. Gewiss sind derlei Angaben mit Vorsicht zu genießen, sind sie doch stets durch einen Bias der sozialen Erwünschtheit geprägt. Wer würde schon offen zugeben, in der gewonnen Zeit ausschließlich „rumzuhängen“? Doch einerseits erwächst der Wunsch, „rumzuhängen“, aus einer Lebenswelt, die bereits durch lange ermüdende Arbeitszeiten und diese Arbeitszeiten kompensierenden passiven Konsumaktivitäten geprägt ist. Und andererseits operiert eine Anthropologie, die diesen Wunsch zu naturalisieren sucht, mit intuitiv deutlich fragwürdigeren Annahmen als die in diesem Text dargestellte.

[27] Mit Antonio Gramsci können wir diese Aktivitäten in einem vorpolitischen Raum lokalisieren, in dem es zwar nicht explizit um Politik geht, sich jedoch die Möglichkeit bietet, über Bande auch politische Fragen zu thematisieren. Auf diese Weise verfestigt sich ein politisches Alltagsverständnis, dass über diesen Raum hinaus Wirkung entfaltet. Daher bilden Vereine und Hobbygruppen ausgezeichnete Orte für die Herausbildung politischer Meinung und der Mobilisierung kollektiver Bindungskräfte sowie – in der Konsequenz – Anknüpfungspunkte für tiefergehendes politisches Engagement.

[28] Lott & Windscheid, S. 6. Dass mehr Partizipation auch ein Mehr an destabilisierendem Handeln bedeuten kann, etwa in Form einer rechten populistischen Mobilisierung, ist klar. Daher braucht es eine zusätzliche Evaluation, die solche Formen der Partizipation verurteilt. Ebenso klar ist jedoch auch, dass ein Mangel an politischen Handlungsmöglichkeiten dieses Problem kaum löst, sondern im Gegenteil eher als Brandbeschleuniger für die Verbreitung des rechten Populismus in den letzten Jahren gewirkt hat.

[29] Vgl. Armin Schäfer & Michael Zürn, Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus, Berlin 2021.

[30] Siehe hierzu Hannah Arendt, Ziviler Ungehorsam, Berlin 1986, sowie Hannah Arendt, Über die Revolution, München 2022, S. 321ff.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2023