The Italian Job Melonis ungewöhnlicher Vorschlag einer Direktwahl des Premierministers samt Mehrheitsbonus

Von Mahir Tokatlı

Lange Zeit war in der vergleichenden Regierungslehre die dichotome Unterscheidung zwischen parlamentarisch und präsidentiell, die im deutschsprachigen Raum vor allem der Hamburger Politikwissenschaftler Winfried Steffani[1] prägte, stilbildend.[2] Maurice Duverger[3] stellte mit dem Semipräsidentialismus einen dritten Typus vor. Andere Typologien nutzen zwei Merkmale mit je zwei Ausprägungen, die in einer Vierermatrix zwei Haupt- und zwei Mischtypen umfassen.[4] Bei Typologien mit Mischformen bleibt ein Feld ohne empirische Entsprechung: ein System mit einem direkt gewählten Regierungschef, der vom Parlamentsvertrauen abhängig ist.[5] Letzteres ist das Kernmerkmal parlamentarischer Systeme,[6] während einige die Direktwahl[7] als definitorisch für Präsidialsysteme betrachten.[8]

Unterschiedliche Typologisierungen existieren parallel nebeneinander. Eine Möglichkeit, sich diesem typologischen Chaos zu entziehen, ist eine konsequente Fortsetzung des luziden Gedankens Steffanis, das Abhängigkeitsverhältnis zum entscheidenden Merkmal zu erheben. Dies entspricht dem einzigen Konsens aller Typologien. Zwar ist häufig die (un)mittelbare Bestellung eines Exekutivteils – des Regierungschefs oder des Staatsoberhaupts (!) – in den Typologien enthalten, indes scheint dies eine eher untergeordnete Rolle in der Bestimmung des Verhältnisses beider Gewalten zu spielen. Dennoch verändert eine Direktwahl zumindest in Nuancen den Charakter eines Regierungssystems, weswegen die folgende Reklassifikation beide Merkmale einbezieht und innerhalb der Exekutive differenziert, ohne die unterschiedliche Gewichtung zu vernachlässigen. Auf diese Weise entsteht eine auf den ersten Blick komplexere Typologie, die allerdings substanzieller ist, sowie umfassender spezifische Besonderheiten berücksichtigt und dabei die Grundunterscheidung zwischen parlamentarisch und präsidentiell beachtet.[9]
[...]

[1] Vgl. Winfried Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, Opladen 1979.

[2] Vgl. Douglas V. Verney, Analysis of political systems, London 1959.

[3] Vgl. Maurice Duverger, A New Political System Model: Semi-Presidential Government, in: European Journal of Political Research, H. 2/1980, S. 165–187.

[4] Vgl. Frank Decker, Der Semi-Präsidentialismus als   "unechtes" Mischsystem, in: Zeitschrift für Politik, H. 3/2010, S. 329–342.

[5] Vgl. Bart Maddens & Stefaan Fiers, The direct PM election and the institutional presidentialisation of parliamentary systems, in: Electoral Studies, H. 4/2004, S. 769–793, S. 771.

[6] Vgl. Tal Lento & Reuven Y. Hazan, The vote of no confidence: towards a framework for analysis, in: West European Politics, H. 3/2022, S. 502–527; Or Tuttnauer & Reuven Y Hazan, Government–Opposition Relations and the Vote of No-Confidence, in: Political Studies 2023, online first, tinyurl.com/indes24111a.

[7] Allein der Prototyp für Präsidialsysteme, die USA, müssten ausreichen, um dies zu widerlegen. Schließlich wird der Präsident indirekt über Wahlleute gewählt. Falls in diesem electoral college kein Kandidat die absolute Mehrheit erhält, wählt das Repräsentantenhaus den Präsidenten, wodurch das System dann definitorisch nicht länger ein Präsidialsystem wäre.

[8] Vgl. Arend Lijphart (Hg.), Parliamentary versus presidential government, Oxford 1992; Ganghof, Beyond presidentialism and parliamentarism.

[9] Vgl. Mahir Tokatlı, Auf dem Weg zum "Präsidialsystem alla Turca"?: eine Analyse unterschiedlicher Regierungsformen in der Türkei seit 1921, Baden-Baden 2020, S. 136.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.1-2-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024