Seid doch mal leise! Warum der Lärm unserer Zeit die Stille(n) braucht

Von Antje Kunstmann

Ungefähr hundert Jahre ist es her, dass der Psychiater C.G. Jung die Begriffe Extra- und Introversion prägte. Das Persönlichkeitsmerkmal, dessen Pole mit ihnen beschrieben werden, ist aber natürlich wesentlich älter. Es wird vor allem in der Interaktion mit der sozialen Umwelt sichtbar und ist mit handfesten Unterschieden, was Aufbau und Funktion von Nervensystem und Gehirn angeht, verbunden und etwa zur Hälfte angeboren: Etwa dreißig Prozent von uns sind introvertiert – sie wenden Energie und Aufmerksamkeit eher nach innen, sind ruhiger, nachdenklicher, zurückhaltender –, genauso viele zählen zu den Extravertierten, die sich stärker nach außen orientieren, und die größte Gruppe befindet sich in der Mitte – verhält sich also je nach Situation mal eher intro-, mal eher extravertiert – und wird als ambivertiert bezeichnet.

Wir werden immer lauter

Dass die Lauten den Ton angeben und als Ideal gelten, ist eine Erfindung der Moderne.[1] Denn seit der Industrialisierung leben Menschen immer seltener in Gemeinschaften, in denen sich die allermeisten von klein auf oder schon lange kennen und regelmäßig wiederbegegnen; umso wichtiger sind die Persönlichkeit und das Vermögen geworden, in der anonymen Masse immer wieder aufs Neue und schnell auf sich aufmerksam zu machen, Eindruck zu hinterlassen und sich zu behaupten. Im Internetzeitalter umfasst der soziale Raum, in dem wir derart zu bestehen haben, längst die ganze Welt. Hinzu kommen das kapitalistische Leistungsprinzip unserer Gesellschaft, das Menschen nach äußeren Maßstäben beurteilt und jeden von uns zur Marke macht, die es permanent in Szene zu setzen gilt, sowie die allgemeine Beschleunigung einer Welt, die sich ständig wandelt und jederzeit maximale Flexibilität von uns erfordert. Extravertierte Menschen sind unter diesen Bedingungen klar im Vorteil: Sie gehen offen auf andere zu, lieben Aufmerksamkeit und suchen sie, mögen den Wettbewerb mit anderen, haben wenig Schwierigkeiten, sich auf Neues einzustellen, und sind oft auch einen Tick schneller als introvertierte Charaktere. Nicht zuletzt wird unsere Welt auch im Wortsinn immer lauter: Die Lärmverschmutzung nimmt zu, ständig strömen neue Reize auf uns ein, durch Smartphones und andere digitale Geräte begleiten sie uns durch Tag und Nacht. Stille ist rar geworden und ein Rückzug schwieriger. Wir leben mit einem Grundrauschen, einer permanenten Stimulation, die den Leisen schnell zu viel wird, die Lauten aber besser verkraften und manchmal sogar brauchen, um sich wohlzufühlen. Die Ursache dafür liegt in einem unterschiedlichen Erregungsniveau des Gehirns. Untersuchungen zeigen, dass Intros sensibler auf Hintergrundgeräusche reagieren und Stille bevorzugen, um zu lernen und zu arbeiten. Unter diesen Bedingungen erzielen sie auch bessere Ergebnisse. Extravertierte dagegen schneiden besser ab, wenn es nicht zu ruhig ist und sie zum Beispiel Musik hören.[2] Sogar die menschliche Psyche hat sich dem lauten Ideal ein Stück weit angepasst: Bereits von 1935 bis 1970 hat die Extraversion in westlichen Nationen kontinuierlich zugenommen[3] und auch für US-amerikanische Studierende der Geburtsjahrgänge 1966 bis 1993 findet sich ein deutlicher Anstieg in der Ausprägung dieser Persönlichkeitsdimension.[4] Vielleicht verhält es sich ein bisschen wie bei einer Party, auf der langsam die Musik aufgedreht wird: Je lauter es um uns wird, desto lauter werden auch wir.

Wie Linkshänder in einer rechtshändigen Welt

Introversion ist dagegen zu etwas geworden, das man am liebsten loswürde. Die US-amerikanische Autorin Susan Cain nennt sie ein Persönlichkeitsmerkmal »zweiter Klasse«, »das irgendwo zwischen enttäuschenden und pathologischen Merkmalen angesiedelt ist«[5]. In einer 2021 veröffentlichten Studie aus der Schweiz gaben 24,6 Prozent von gut 1.500 Befragten an, sie wären gerne extravertierter; den umgekehrten Wunsch, nämlich introvertierter zu sein, äußerten nur 0,2 Prozent, also praktisch niemand.[6] Schon bei unseren Kindern sehen wir es nicht gern, dass sie in sich gekehrt und lieber für sich sind; in der Schule werden der mündlichen Beteiligung und dem Präsentieren heute viel größere Bedeutung beigemessen. Kinder sollen aus sich herauskommen, aufgeschlossen sein und spontan. Wie ein Linkshänder in einer rechtshändigen Welt – so fühle es sich heutzutage an, ein introvertiertes Kind zu sein, schreibt der schwedische Autor Linus Jonkman, und vergleicht die Art, wie wir mit den Stillen umgehen, mit der Zeit, als Schülerinnen und Schülern im Unterricht auf die Finger geschlagen wurde, wenn sie mit der »falschen«, also der linken Hand schrieben. Es bestehe das Risiko, »dass wir eine ganze Generation von Introvertierten auf die gleiche Weise behandeln, indem wir ihnen beibringen, dass ihre Persönlichkeit falsch ist«[7].

Auch introvertierte Menschen können sich extravertiert verhalten, dauerhaft zu empfehlen ist es nicht. Die US-amerikanische Psychologin Katharine Benziger geht davon aus, dass viele Menschen gegen ihre Persönlichkeit leben und dass dieses Verfälschen unglücklich und krank macht, schlichtweg weil es Stress bedeutet.[8] Wer als introvertierter Mensch sich selbst als defizitär und extravertiertes Verhalten als Maßstab wahrnimmt, ist erwiesenermaßen unzufriedener.[9] Das negative Bild, das unsere Gesellschaft von den Stillen zeichnet, schadet indes nicht nur ihnen selbst, sondern auch uns allen. Denn gerade in unserer lauten Welt brauchen wir introvertierte Menschen und ihre Fähigkeiten.

Aus ihnen erwachsen echte Stärken; viele gängige Annahmen über Introvertierte sind hingegen schlicht Vorurteile. Wer seine Meinung nicht sofort herausschreit, sondern erstmal für sich behält, dem wird zum Beispiel schnell unterstellt, er hätte keine. Dabei denken Introvertierte oft gründlicher nach und besitzen im sogenannten präfrontalen Kortex, der eine wesentliche Rolle in Denk- und Entscheidungsprozessen spielt, offenbar mehr graue Substanz, also Nervenzellkörper.[10] Außerdem sind Introvertierte, eben weil sie nicht so sehr auf Aufmerksamkeit und Anerkennung von außen angewiesen sind, in ihrem Denken und Handeln oft besonders unabhängig. Fast acht von zehn »Intros« sagen, dass sie bei Entscheidungen ganz auf ihre Intuition und ihr eigenes Empfinden vertrauen; dagegen geben zwei Drittel der Extravertierten an, jemanden zu brauchen, der sie in die richtige Richtung lenkt, und jeder zweite hat einen Hang zu vorschnellen Entscheidungen.[11] Einfallslose Langweiler sind Introvertierte ebenfalls nicht. Da sie ihre Aufmerksamkeit gern nach innen kehren, haben sie oft sogar einen besonders guten Zugang zur Welt der Fantasie. Kreativität benötigt trotz aller Brainstorming-Runden und offener Bürolandschaften, die Innovationen fördern sollen, immer auch Rückzug und Stille. Wir alle – auch die Extravertierten – haben mehr und bessere Ideen, wenn wir die Chance haben, allein und in Ruhe über etwas nachzudenken.

Auch die Politik braucht das Schweigen

Aber die Debatte verlangt doch das Wort! Selbstredend, doch erstens ist es ein Vorurteil, dass Introvertierte sich nicht trauen, den Mund aufzumachen. Schüchternheit ist etwas anderes als Introversion und Selbstbewusstsein etwas anderes als forsches Auftreten und in der leisen Variante nicht weniger stabil. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass introvertierte Menschen auch in der alles andere als leisen Politik erfolgreich sind, wie Barack Obama[12] oder Angela Merkel bewiesen haben. Und zweitens braucht die Debatte das Schweigen genauso wie die Rede. Natürlich ist Schweigen vielsagend und kann auch bedeuten, dass jemand sich einem Thema oder seinem Gegenüber verweigert. Dann wird die Stille zum unüberhörbaren Konfliktfall und beklemmend. Aber Schweigen kann eben auch zugewandt und verbindend sein. Denn nur wer still sein kann, kann zuhören. Ohne diese Fähigkeit können wir uns in Gesprächen und Diskussionen nicht aufeinander beziehen und monologisieren, statt zu kommunizieren. Auch die Politik ist voll vom Reden um des Redens willen, vom Reden als Machtinstrument, um die andere Seite zum Schweigen zu bringen und stets das letzte Wort zu haben. Aber zu einem Ergebnis oder auch nur irgendwie voran wird man nicht kommen, ohne die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen und ihr auch zuzuhören. Insofern sind introvertierte Menschen meist sehr angenehme Gesprächs- und auch Arbeitspartner und eben nicht automatisch unsoziale Eigenbrötler, wie ein weiteres gängiges Vorurteil lautet. Teams mit Extravertierten funktionieren besser, sobald ein Introvertierter dazu kommt,[13] auch die Lösungen werden besser, wenn unterschiedliche Charaktere zusammenarbeiten. Zwar haben extravertierte Menschen das Talent, andere mit ihrer Energie und offen gezeigten Begeisterung anzustecken, aber dieser positive Effekt hält oft nicht lange an; weniger extravertierte Charaktere fühlen sich dann mehr und mehr an den Rand gedrängt und dominiert. Auf lange Sicht und wenn es zu Konflikten kommt, überzeugt eher die introvertierte Art, sich zurückzunehmen und anderen Raum zu geben.[14]  Eben weil sie so gut wie nie schnelle Lösungen haben, denen sofort alle zustimmen, profitieren deswegen auch politische Verhandlungen und Debatten von den Stillen.

Zeit für eine stille Revolution?

Es gibt also gute Argumente, den Lauten nicht das Sagen zu überlassen, Susan Cain, die vor gut zehn Jahren den Weltbestseller Quiet: The power of introverts in a world that can’t stop talking (deutsch: Still: Die Kraft der Introvertierten, Goldmann) veröffentlichte, beobachtet mittlerweile ein größeres Selbstbewusstsein leiser Menschen. Sie sieht gar Zeichen für eine »quiet revolution«, einen Wertewandel, der zwar noch lange nicht abgeschlossen sei, aber unumkehrbar begonnen habe.[15] Auch die Digitalisierung nutzt den Introvertierten, weil sie ihnen die Kommunikation erleichtert, die ihnen von Angesicht zu Angesicht und gegenüber den redegewandteren Extravertierten oft schwerfällt. Es gibt immer mehr Literatur über die Stärken der Stillen, Unternehmen beschäftigen sich damit, wie sie sich besser nutzen lassen, und der schwedische Autor Linus Jonkman schreibt: »Wir bewegen uns auf eine Kultur zu, in der das Introvertierte mehr und mehr überwiegt.«[16] Ob das wirklich stimmt, bleibt abzuwarten. Momentan ist unsere Welt immer noch ziemlich laut und funktioniert weiterhin meist nach dem Motto »Ich rede, also bin ich.«

[1] Vgl. Susan Cain, Still. Die Kraft der Introvertierten, München 2013, S. 36 f.[2] Vgl. Sepehrian Firouzeh & Ketabi Afsaneh, The effect of background music, noise and silence on performance of introvert and extrovert students on the academic aptitude test, in: Contemporary Psychology, H. 2/2014, S. 213–217, http://bjcp.ir/article-1-389-en.pdf.

[3] Vgl. Richard Lynn & Susan Hampson, Fluctuations in national levels of neuroticism and extraversion, 1935–1970, in: British Journal of Social and Clinical Psychology, H. 2/1977, S. 131–137, https://dori.org/10.1111/j.2044-8260.1977.tb00208.x.

[4] Vgl. Jean Twenge, Birth cohort changes in extraversion. A cross-temporal meta-analysis, 1966–1993, in: Personality and Individual Differences, H. 5/2001, S. 735–748, https://doi.org/10.1016/S0191-8869(00)00066-0.

[5] Cain, Still, S. 16.

[6] Vgl. Mirjam Stieger u. a., Changing personality traits with the help of a digital personality change intervention, in: Proceedings of the National Academy of Scienes, H. 8/2021, htpps://doi.org/10.1073/pnas.2017548118.

[7] Linus Jonkman, Introvertiert. Die leise Revolution, Mannheim 2021, S. 201.

[8] Vgl. Interview with Dr Katherine Benziger, in: ACLW Leadership Interviews, hg. v.  Australian Center for Leadership for Women Pty Ltd., 2020, S. 9–20, https://aclw.org/wp-content/uploads/2020/01/02-Katherine-Benziger.pdf.

[9] Vgl. Rodney Lawn u. a., Quiet flourishing. The authenticity and well-being of trait introverts living in the west depends on extraversion-deficit beliefs, in: Journal of Happiness Studies, H. 20/2019, S. 2055–2075, https://link.springer.com/article/10.1007/s10902-018-0037-5.

[10] Vgl. Avram Holmes u. a., Individual differences in amygdala-medial prefrontal anatomy link negative affect, impaired social functioning, and polygenic depression risk, in: Journal of Neuroscience, H. 50/2012, S. 18087–18100, https://doi.org/10.1523/JNEUROSCI.2531-12.2012.

[11] Rehana Khalil, Influence of extroversion and introversion on decision-making ability, in: International Journal of Research in Medical Sciences, H. 5/2016, S. 1534–1538, https://dx.doi.org/10.18203/2320-6012.ijrms20161224.

[12] Vgl. bspw. Kelly Candaele, Dispatches from the Democratic National Convention: Part I, in: Los Angeles Review of Books, 06.09.2012, https://lareviewofbooks.org/article/dispatches-from-the-democratic-national-convention-part-i/ oder Peter Barker, Education of a President, in: The New York Times Magazine, 12.10.2010.

[13] Vgl. Amy Kristof-Brown u. a., When opposites attract. A multi-sample demonstration of complementary person-team fit on extraversion, in: Journal of Personality, H. 4/2005, S. 935–958, https://dor.org/10.1111/j.1467-6494.2005.00334.x.

[14] Vgl. Kristin Culen-Lester u. a., Energy’s role in the extraversion (dis)advantage. How energy ties and task conflict help clarify the relationship between extraversion and proactive performance, in: Journal of Organizational Behavior, H. 7/2016, S. 1002–1022, https://doi.org/10.1002/job.2087.

[15] Susan Cain im persönlichen Gespräch mit der Autorin im Mai 2022.

[16] Jonkman, Introvertiert, S. 52.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.  1-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2023