Mehr Optimismus wagen? Ein Interview mit Berthold Vogel über das Soziale-Orte-Konzept, die Verteidigung der Demokratie auf dem Land und die eigene Horizonterweiterung
INDES: Was sind Soziale Orte? Und was unterscheidet sie von „sozialen Orten“ im Alltagsverständnis, worunter man sich zum Beispiel Dorfgemeinschaftshäuser, (Wochen-)Märkte, öffentliche Parks und Ähnliches vorstellen könnte?
Berthold Vogel:
Der Ausgangspunkt unserer Forschung war, in sogenannte strukturschwache Regionen zu gehen und zu fragen, was passiert mit dem Zusammenleben vor Ort und mit der lokalen Demokratie, wenn Arbeitsplätze, Infrastrukturen und junge Leute sukzessive verschwinden? Welche Folgen hat das? Konkret, was bedeutet es, wenn der Bus nur noch zweimal täglich und das ausschließlich an Schultagen fährt, wenn es schon lange keine Einkaufsläden und Wirtshäuser mehr gibt, wenn der Hausarzt seine Praxis schließen musste, weil er keine Nachfolge findet, und wenn auch die Grundschule keine Zukunft mehr hat, da die Kinder vor Ort zur Rarität geworden sind. Diese Realität findet sich nicht überall im ländlichen Raum, aber sie findet sich dort immer öfter, und zwar nicht nur in Ostdeutschland.
In genau diesen Regionen waren wir unterwegs und wir waren nicht selten irritiert. Denn was wir gefunden haben, ist nicht nur Tristesse und Niedergang. Das Bemerkenswerte war, dass an vielen Orten zwar die Daten besorgniserregend waren und die Strukturentwicklung nichts Gutes versprach, aber die Realität sich dennoch nicht auf den Nenner des Abgehängtseins bringen ließ. In unserer Forschung sind wir bemerkenswert oft auf Menschen getroffen, die sich mit den beschriebenen Verlusten nicht abfinden und die daher einen Gegenakzent setzen wollen. Sie zeigen Vertrauen in das Gelingen neuer lokaler Stärke, obwohl die Strukturdaten dagegensprechen. Sie schaffen mit Realitäts- und Möglichkeitssinn neue Formen des Zusammenhalts. Das war interessant – und ja, es war und ist an vielen Orten auch imposant. Denn hier wird Energie für das demokratische Miteinander mobilisiert, und wir dachten uns: Das müssen wir durch Forschung sichtbar machen.
Soweit ein Exkurs zum Startpunkt, doch jetzt zu Ihrer Frage: Soziale Orte stehen dafür, dass neue Verbindungen, Kooperationen, Kreuzungspunkte vor Ort gelingen. So kommen beispielsweise bürgerschaftlich Engagierte mit Verwaltung und Kirche, mit Verein und Handwerksbetrieb zusammen und entwickeln Ideen, welche Leistungen der Daseinsvorsorge es konkret vor Ort braucht – im Bereich der Mobilität, des Wohnens, der Betreuung, der Beratung, des sozialen Miteinanders. Aber auch wirtschaftliche Aktivitäten werden auf den Weg gebracht – Genossenschaften werden gegründet und öffentliche Räume gestaltet. Wichtig ist, dass Soziale Orte nicht für sich allein leben. Sie sind angewiesen auf kommunale Einrichtungen und auf eine aktive Rolle von Gewerkschaften, Kirchen, Verbände als lokale Impulsgeber und regionale Partner.
Wir senden mit unserer Forschung eine klare Botschaft: Soziale Orte ersetzen keine öffentliche Infrastruktur. Sie sind kein Substitut und sie ersetzen keine öffentliche Verantwortung. Vielmehr erneuern sie und sie schaffen Infrastrukturen, die den veränderten Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung gerecht werden. Zudem sind Soziale Orte kein Nostalgieprojekt. Es geht nicht um eine Rückkehr in alte Zeiten, sondern um eine gemeinwohlorientierte Gestaltung kommunaler Verhältnisse in unserer und für unsere Zeit. Denn die Bedürfnisse der Daseinsvorsorge sind andere geworden, weil auch die Menschen vor Ort andere sind – sie sind im Durchschnitt älter, sie haben andere Mobilitätsbedürfnisse, sie benötigen länger Pflege und fragen in anderer Weise Gesundheitsdienste nach als noch in den 1980er Jahren. Auch arbeiten sie in anderer Weise und Familie heute ist nicht mehr Familie 1978. Soziale Orte sind daher keine Retroaktivität, sondern Zukunftsgestaltung unter den Rahmenbedingungen des demografischen Wandels, der Digitalisierung sowie der Energie- und Verkehrswende.
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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.1-2-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024