Konflikte im Hohen Haus Gründe und Folgen der stärker sichtbaren Auseinandersetzungen im 20. Deutschen Bundestag

Von Sven T. Siefken

Als Joschka Fischer am 12. Dezember 1985 im Hessischen Landtag zum Umweltminister vereidigt wurde, trug er weiße Basketballstiefel – für einige war dies Provokation, für andere sichtbares Zeichen der Veränderung. Diese Schuhe konnten später auch in Ausstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik beschaut werden. 36 Jahre danach trat der 20. Deutsche Bundestag 2021 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen, diesmal waren wohl – die Parlamentsstatistik erfasst das nicht – über hundert weiße Sportschuhe an den Füßen der Abgeordneten zu sehen. Nicht nur in Äußerlichkeiten hat sich das Parlament der Bundesrepublik als lernfähig und anpassungsfähig an neue gesellschaftliche Realitäten gezeigt. Das ist nicht weiter verwunderlich, handelt es sich doch um das einzige direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählte Verfassungsorgan des Bundes. Die anderen leiten ihre Legitimation mittelbar von der Parlamentswahl ab: der Kanzler und die Regierung, der Bundespräsident, das Bundesverfassungsgericht. Die Staatsrechtslehre hat hierzu das Modell der ungebrochenen Legitimationskette entwickelt, entlang welcher jedes staatliche Handeln auf den Willen der Bürgerinnen und Bürger mittelbar, aber eindeutig zurückverfolgt werden muss.[1] So ist der Bundestag die Institution, die in vielerlei Hinsicht am dichtesten an »den Menschen« ist, gesellschaftlichen Wandel aufnehmen und widerspiegeln soll. Durch die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen wechselt die Zusammensetzung des Parlamentes stets deutlich. Nicht nur die Stärkeverhältnisse der Parteien verändern sich von Wahl zu Wahl, sondern auch die Abgeordneten: Nach jeder Wahl gibt es etwa ein Drittel Neulinge. Der 20. Deutsche Bundestag ist diverser als zuvor, doch die Gesamtheit der Gesellschaft ist dort nicht spiegelbildlich vertreten und Kritiker weisen »im parlamentarischen Verfahren auf offensichtlich systematische Verzerrungen« und »eine dauerhafte Entkopplung von Bevölkerungsmehrheit und politischen Entscheidungen« hin.[2] Eine genaue Spiegelung (»descriptive representation« in der Terminologie von Hanna Pitkin[3]) ist indes auch gar nicht erforderlich, vielmehr geht es um »substantive representation«, also darum, dass die politischen Entscheidungen im Interesse der Menschen getroffen werden. Dafür muss dies allerdings in der Öffentlichkeit entsprechend verstanden werden. Symbolische Komponenten der Repräsentation können dazu einen Beitrag leisten.[4]
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[1] Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee & Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band II: Verfassungsstaat, Heidelberg 2004, S. 429–496.[2] Armin Schäfer, Vertreter des ganzen Volkes. Über Repräsentation und Repräsentativität, in: Merkur, H. 4/2024 S. 5–16, hier S. 14.

[3] Hanna Fenichel Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley 1967.

[4] Vgl. Sven T. Siefken & Alexander Kühne, Die parlamentarische Repräsentation als anspruchsvolle Regierungsform – überholt oder doch unverzichtbar für die Zukunft?, in: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, H. 2/2021, S. 245–256.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.1-2-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024