Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit Eine Grundfrage der politischen Kultur im demokratischen Verfassungsstaat

Von Marcus Höreth

Wolfgang Janisch von der Süddeutschen Zeitung sah am 16. November 2023 das Bundesverfassungsgericht »unterwegs auf gefährlichem Kurs«, weil es sich im Besitz einer »Lizenz zum Mitregieren« wähne.[1] Anlass für seine Kritik ist ein »anmaßendes« Urteil des Gerichts tags zuvor, in dem es das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz von 2021 als verfassungswidrig einstufte.[2] Zur Erinnerung: Die Ampel-Regierung gab sich große Mühe, mittels dieses Gesetzes die im Haushaltsjahr 2021 nicht unmittelbar benötigte Corona-Kreditermächtigung in Höhe von 60 Milliarden Euro in den »Energie- und Klimafonds« (EKF) zu überführen und so für künftige Haushaltsjahre nutzbar zu machen. Doch Karlsruhe machte diesem Ansinnen einen Strich durch die Rechnung. Seit diesem Urteil stürzt die Koalition von einer Krise zur nächsten. Eine gemeinsame Regierungslinie ist nicht erkennbar; zu zerstritten zeigen sich die ungleichen Partner. Ohne Zweifel hat der höchstrichterlich auferlegte Sparzwang – zum Beispiel mit den erzürnten Bauern – Geister auf den Plan gerufen, die ein geräuschloses und effizienteres Regieren unmöglich gemacht haben. Jedenfalls hätten sich die Regierenden durchaus über diese Entscheidung aufregen und die kritische Frage aufwerfen dürfen, ob sich das Gericht einmal mehr in grenzverletzender Weise in die Regierungspolitik eingemischt habe Tatsächlich war aus den Regierungsreihen keine Empörung zu vernehmen – stattdessen wurde folgsam Besserung bei der Erstellung des Nachtragshaushalts versprochen. In unserer schnelllebigen Mediendemokratie flaute die Aufregung über das Urteil dann schnell wieder ab, obwohl die dahinterstehende Problematik ein echter Dauerbrenner ist. Es dreht sich hier um eine Grundfrage der politischen Kultur im demokratischen Verfassungsstaat, nämlich darum, wie sich die Bürger das Verhältnis zwischen demokratisch verantworteter Politik einerseits und der Verfassung verpflichteter Rechtsprechung andererseits vorstellen (wollen) und wo dabei die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit liegen (sollen).
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[1] Wolfgang Janisch, Unterwegs auf gefährlichem Kurs, in: Süddeutsche Zeitung, 16.11.2023.

[2] Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Zweiten Senats vom 22.11.2022, - 2 BvF 1/22.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.1-2-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024