Gleichheitsansprüche und Lebenspraxis Ambivalenzen geschlechtsneutraler Erziehung
Seitdem die Familiengründung keine Selbstverständlichkeit im Lebenslauf mehr ist und der Konrad Adenauer zugeschriebene Satz »Kinder kriegen die Leute immer« seine Gültigkeit verloren hat, haben Kinder für ihre Eltern vermehrt die Funktion als »Sinnstifter und Quelle emotionaler Bedürfnisbefriedigung«[1]. Das Kind rückt zunehmend ins Zentrum des familialen Geschehens. Es ist das Objekt von Wünschen und Projektionen – Elisabeth Beck-Gernsheim beschreibt dies als eine Entwicklung »vom Kinderwunsch zum Wunschkind«[2]2. Das ›ideale Kind‹ erfordert ein intensive parenting. Damit steigen die Ansprüche, die, zum Beispiel in Gestalt von Erziehungsratgebern, an die Eltern herangetragen werden und die sie sich selbst stellen. Erziehung wird zu einer immer anspruchsvolleren Aufgabe. In westlichen Gesellschaften ist die von Eltern in die Kinderbetreuung investierte Zeit in den letzten Dekaden gestiegen. In Deutschland lässt sich diese Entwicklung seit Beginn des 20. Jahrhunderts beobachten.[3] An die Stelle eines ›natürlichen Aufwachsens‹ tritt vermehrt eine gezielte Stimulierung der kognitiven und sozialen Fähigkeiten der Kinder durch die Eltern. Das (Wunsch-)Kind wird tendenziell zu einem ›Projekt‹, zu einem zu gestaltenden und optimal zu fördernden Nachkommen, dessen Entwicklung und Zukunft vom ›richtigen‹ Handeln der Eltern abhängen. Vor dem Hintergrund der von der Frauenbewegung angestoßenen breiten gesellschaftlichen Thematisierung der Geschlechterfrage gehört für viele Eltern dazu der Anspruch, ihre Kinder jenseits tradierter Geschlechtsstereotype zu erziehen.[4] Orientiert am Wert der Gleichheit der Geschlechter favorisieren sie eine geschlechtsneutrale Erziehung, bei der das Geschlecht des Kindes kein Kriterium ist bzw. sein soll für die Erziehungspraxis. Verbreitet ist eine solche Haltung insbesondere bei Eltern des individualisierten Bildungsmilieus.[5] Allerdings machen sie in großer Regelmäßigkeit die Erfahrung, dass die Kinder sich anders verhalten als von ihnen intendiert, dass sich insbesondere deren Spiel im Rahmen geschlechtstypischer Muster bewegt.[6]
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[2] Elisabeth Beck-Gernsheim, Vom Kinderwunsch zum Wunschkind, in: Eckart Liebau (Hg.), Das Generationenverhältnis. Über das Zusammenleben in Familie und Gesellschaft. Weinheim & München 1997, S. 107–123.
[3] Dies gilt für Mütter und Väter, wenngleich Mütter durchweg mehr Zeit aufwenden. Vgl. Florian Schulz & Henriette Engelhardt, The Development, Educational Stratification and Decomposition of Mother’s and Father’s Childcare Time in Germany: an Update for 2001–2013, in: Zeitschrift für Familienforschung, H. 3/2017, S. 277–299; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.), Familienreport 2024, Berlin 2024, S. 114 f.
[4] Vgl. Bettina Dausien & Katharina Walgenbach, Sozialisation und Geschlecht – Skizzen zu einem wissenschaftlichen Diskurs und Plädoyer für die Revitalisierung einer gesellschaftsanalytischen Perspektive, in: Bettina Dausien u. a. (Hg.), Geschlecht –Sozialisation – Transformation, Opladen u. a. 2015, S. 17–50, hier S. 23 f.
[5] Zur Milieuspezifität von Geschlechtspraktiken vgl. Nina Baur & Leila Akremi, Lebensstile und Geschlecht, in: Jörg Rössel & Gunnar Otte (Hg.), Lebensstilforschung, Wiesbaden 2012, S. 269–294, hier S. 285 ff.
[6] Vgl. Hannelore Faulstich-Wieland, Von geschlechtstypisch zu geschlechtskreativ? Bemühungen einer geschlechtsneutralen Erziehung im Rückblick, in: Robert Baar & Maja S. Maier (Hg.), Familie, Geschlecht und Erziehung in Zeiten der Krisen des 21. Jahrhunderts, Opladen 2022, S. 41–51.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-4-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024