Editorial Heft 4-2023
»ICH WILL RAUS, DU SAU« / »ICH WILL HIER RAUS – – – ICH AUCH!«, eingeritzt in marode Wände, abblätternde Tünche.
Ein Türspion, von außen süffisant mit »Fernsehnraum [sic]« beschriftet.
Zwei Perspektiven auf denselben Ort: eine Gefängniszelle. Was hier am Beispiel der Zentralen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen so lapidar vor die Kamera tritt, fokussiert die Quintessenz sämtlicher Gefängnisse: Die einen befinden sich »drinnen«, möchten raus, dürfen es nicht, werden beobachtet; die anderen blicken von »draußen« auf die Insass:innen, kontrollierend, auch voyeuristisch – und wenn ihnen das Gesehene genügt, schieben sie kurzerhand die Klappe vors Guckloch.
Gefängnis und Gesellschaft: Das ist eine komplexe, auf paradoxe Weise durch Nähe und Distanz gekennzeichnete Beziehung. Haftanstalten schließen ihre Insass:innen räumlich und sozial von der Gesellschaft ab, zugleich kommt ihnen eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung zu.
Mit diesem Thema verbinden sich jedenfalls zahlreiche politik-, sozial-, medien- und geschichtswissenschaftliche Facetten und Fragen. Welche Funktionen erfüllen Gefängnisse, was ist der Sinn von Strafen und auf welche Weise spiegeln sich in ihnen Staat und Gesellschaft? Sodann: Wie haben sich die Praktiken des Einsperrens im geschichtlichen Verlauf gewandelt?
Entsprechend vielfältig sind die Perspektiven der Beiträge dieses Heftes: In der Retrospektive geht es etwa um die wechselvolle Geschichte des Wiener Zucht- und Arbeitshauses sowie um die Frage, ob das Gefängnis im 19. Jahrhundert nurmehr einen Ort weiblicher Unterdrückung oder gar der feministischen Emanzipation darstellte. Ebenso weitet sich der Blick über Europa hinaus: auf die repressive Gefängnispolitik El Salvadors und die perfide Ökonomie des »Schuld-Wechsels« in Ruanda, mittels derer die Täter von den Überlebenden des Tutsizids komplette Vergebung forderten.
Zum Charakter von Gefängnissen als »geschlossenen Gesellschaften« gehören auch Fragen zum soziodemografischen Profil der Häftlinge, zur Re-Integration von Ex-Häftlingen in die Gesellschaft und zu Kontaktmöglichkeiten zwischen Gefängnis und Außenwelt.
Hier geht es um Prinzipen der Resozialisierung und Schuldübernahme sowie um sich selbst bestätigende Diagnosen, aber auch um die – mindestens extern beschränkten, mitunter rigide untersagten – Ausdrucksmöglichkeiten der Gefangenen. Ein Beitrag begleitet die Produktion einer Gefängniszeitung, ein anderer analysiert Graffiti – wie die eingangs zitierten – als Form widerständiger Kommunikation.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Thematisierung der Institution Gefängnis in Kunst und Kultur: Als Johnny Cash 1968 im Folsom State Prison vor 2.000 Insassen auftritt, gerät das Gefängnis nicht nur zur Bühne eines der legendärsten Konzerte der Musikgeschichte, festgehalten als Live-Album samt authentischer Geräuschkulisse – mit dem Song Greystone Chapel hat auch der Gefangene Glen Sherley, aus dessen Feder das Stück stammt, via Cashs durchdringender Stimme einen Auftritt. Und last but not least ist das Gefängnis eine populäre Filmlocation, wie der Streifzug durch knapp neunzig Jahre Hollywoodgeschichte zeigt. Dramatische Schicksale in karger Umgebung, oft unter brutalen Bedingungen eingesperrt, bieten seit jeher ideales Drehbuchmaterial.
Doch egal, ob als Anlass für New Hollywood-typische Sozialkritik oder, optimistischer gewendet, als erstaunliche Kraft- und Inspirationsquelle in Szene gesetzt: Das Gefängnis im Film ist ein von außen uneinsehbarer Raum, in dessen klaustrophobische Enge nur die Kameralinse einen Einblick gewährt – oder eben der Türspion.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.4-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024