Editorial Heft 2-2023

Von Katharina Rahlf  /  Volker Best

Höher, schneller, weiter – moderne Gesellschaften und ihre Teilsysteme, ob Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder (Leistungs-)Sport, sind auf Erfolg ausgerichtet, feiern die Erfolgreichen und eifern ihrem Vorbild nach.

Zumindest in der Wirtschaft und in Selbstoptimierungsworkshops hat (mittlerweile) auch Misserfolg durchaus seinen Platz und Sinn – allerdings als Lerngelegenheit und damit Sprungbrett für künftiges Gelingen. „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better“, so lieben Unternehmens- und Lifestylegurus ihren Beckett. Wenn jemals ein Zitat aus dem Kontext gerissen wurde, dann freilich dieses, denn Beckett versuchte sich in seinem schon sinnfällig Worstward Ho („Aufs Schlimmste zu“) betitelten vorletzten literarischen Werk keineswegs auf einmal als Positivität versprühender Mindset Coach, sondern stellte einmal mehr so meisterlich wie niederschmetternd die Absurdität aller Existenz heraus. Im Weiteren heißt es dann etwa: Try again. Fail again. Better again. Or better worse. Fail worse again. Still worse again. Till sick for good. Throw up for good. Go for good.“ Ein ungleich düstereres Szenario.

Wie also verhält es sich mit fundamentalem Scheitern, mit Misserfolgen und Fehlern, die sich auch mit größtmöglichem Optimismus nicht als „wertvolle Lernerfahrung“ auf dem Weg zu letztlich noch besseren Ergebnissen – eben: Erfolg – (um)deuten lassen? Und ist nicht ebenso oft wie in der heutigen Niederlage das Gelingen übermorgen im Moment großen Erfolgs der Kern kommenden Niedergangs angelegt? „Noch so ein Sieg, und wir sind verloren“, wird König Pyrrhos I. von Epirus nach einem zu teuer erkauften Sieg über die Römer 279 v. Chr. in den Mund gelegt.

Während es in Kultur oder Sport bei aller Überbietungslogik zumindest so etwas wie Sympathie für den Underdog gibt und Selling out zugunsten größeren wirtschaftlichen Erfolgs oftmals als Verrat an sportlichen und künstlerischen Idealen gescholten wird, gilt doch auch hier der Zweite als erster Verlierer beziehungsweise will niemand auf Dauer die sprichwörtliche zweite Geige spielen.

In der Politik scheint Scheitern schlicht keine Option. Viel Erfolg etwa mit der Erklärung, dass sich aus einer aufgedeckten Steuerverschwendung zumindest Lerneffekte für einen optimierten Mitteleinsatz in der Zukunft ziehen lassen. Fehler werden hier oft besonders unbarmherzig geahndet und daher häufig in nebulöse Paraphrasen gehüllt – was wiederum das ohnehin große Misstrauen in Politiker:innen noch weiter steigert. Insbesondere das Scheitern in der Politik steht daher im Fokus unseres Interesses; daneben interessieren uns aber auch Perspektiven auf Misserfolg in Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur, Musik und Psychologie.

Dafür, dass es sich bei Scheitern um ein omnipräsentes gesellschaftliches Phänomen handelt, wird ihm seitens der Sozialwissenschaften erstaunlich wenig Aufmerksamkeit zuteil. Beim Befahren wenig erforschter Routen Schiffbruch zu erleiden – daher nämlich stammt der Begriff des Scheiterns –, stimmt uns indes nicht bang, wissen wir bei unserer Unternehmung doch Seneca an unserer Seite: „Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt.“ In diesem Sinne: Fall wieder. Fall besser. Oder noch tiefer.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.  2-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2023