Editorial Heft 1-2025
Als der damalige Bundesfinanzminister Christian Lindner im September 2024 den »Herbst der Entscheidungen« ausrief, hätten wohl die wenigsten Beobachter:innen damit gerechnet, als wie zutreffend sich Lindners Worte in der Rückschau erweisen würden. Schließlich fielen nur wenige Wochen später, am 6. November, gleich zwei Entscheidungen von historischen Ausmaß: Morgens standen die Deutschen zur Meldung auf, dass mit Donald Trump erstmals seit dem 19. Jahrhundert ein US-amerikanischer Präsident nach einem vierjährigen Intermezzo ins Weiße Haus zurückkehren würde; und abends gingen sie mit der Nachricht ins Bett, dass die Ampel-Regierung nach monatelangem Streit geplatzt war. Mögen beide Entscheidungen für sich genommen nicht gänzlich überraschend gewesen sein, so war vor allem ihre zeitliche Verdichtung bemerkenswert – und hat zu Recht die Frage aufgeworfen, ob das Zusammenfallen beider Ereignisse nicht Ausdruck einer grundlegenden Krise des Regierens in westlichen Demokratien ist.[1]
Auch wenn die langfristigen Folgen von Trump-Wahl und Ampel-Aus noch nicht abzusehen sind, scheint ihre Charakterisierung als wegweisende Entscheidungen unstrittig. Wenig überraschend haben es beide Ereignisse daher in unser Heft – das sich im Schwerpunkt mit eben diesem Thema, nämlich sogenannten Schlüsselentscheidungen, befasst – geschafft. Darüber hinaus gibt es aber noch eine Reihe anderer Fallbeispiele, die sich mit Entscheidungen großer Tragweite befassen – und dabei ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Frage nach den Beweggründen der Beteiligten bieten.
Die Gründung des Umweltministeriums ausgerechnet unter dem christdemokratischen Kanzler Helmut Kohl 1986 ist ein gutes Beispiel für den Einfluss externer Ereignisse auf politische Entscheidungsträger:innen. Schließlich hatte die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl kurz zuvor den Handlungsdruck auf die Bundesregierung dermaßen erhöht, dass sie erstmals die bislang auf unterschiedliche Ressorts verteilten Verantwortlichkeiten für Umweltschutz und Reaktorsicherheit in einem neugeschaffenen Ministerium bündelte.
Zwei Beiträge widmen sich der deutschen Migrations- und Asylpolitik im Zeitverlauf. Dabei wird deutlich, wie sehr der von einem breiten überparteilichen Konsens getragene Asylkompromiss 1992 mit den beiden hochumstrittenen Bundestagsabstimmungen im Februar 2025 kontrastiert – und inwiefern parteipolitische Erwägungen in beiden Fällen eine zentrale Rolle gespielt haben.
Mit der Privatisierung der Deutschen Bahn 1993 steht zudem eine im wahrsten Wortsinne politische Weichenstellung im Fokus. Gut dreißig Jahre nach dieser Schlüsselentscheidung, die sich damals parteiübergreifender Zustimmung erfreute und deren Auswirkungen heute Millionen von Bahnkund:innen zu spüren bekommen, werden sowohl die damaligen Motive als auch die verkehrspolitischen Auswirkungen in den Blick genommen.
Am Beispiel der von Gerhard Schröder vorangetriebenen »Agenda 2010« zeigt sich, dass politische Schlüsselentscheidungen oftmals erst in der Rückschau gewürdigt werden – zumal mitunter von unerwarteter Seite. War (und ist) Schröders damaliges Reformpaket in seiner eigenen sozialdemokratischen Partei hoch umstritten, so wurde es von seiner christdemokratischen Nachfolgerin Angela Merkel in den höchsten Tönen gelobt.
An der 2009 eingeführten Schuldenbremse scheiden sich bis heute die Geister. Von ihren Befürworter:innen als notwendiges Stabilitätsinstrument gerühmt, wird sie von ihren Kritiker:innen als Hauptgrund für den Investitionsstau verantwortlich gemacht. Um diesen auch im Bundestagswahlkampf zu beobachtenden unterschiedlichen Positionen Rechnung zu tragen, widmen sich zwei Beiträge – einer pro, einer kontra – dieser umstrittenen Entscheidung..
Auch die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene »Zeitenwende« darf natürlich nicht fehlen. Im Zuge seiner Zeitenwende-Rede unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine brach der häufig als Zauderer gescholtenen Scholz nicht nur mit traditionellen Gepflogenheiten der Entscheidungsfindung, sondern warf auch jahrzehntelange Gewissheiten deutscher Außenpolitik in kürzester über Bord.
Anhand des Selbstbestimmungsgesetzes, das nur wenige Tage vor dem Ampel-Aus am 1. November 2024 in Kraft trat, lässt sich die teils sehr divergierende Einschätzung von Schlüsselentscheidungen nachvollziehen. Während die einen das Gesetz als Bedrohung der bestehenden Ordnung vehement ablehnten, wird es von anderen als überfällige Emanzipation begrüßt – eine Zäsur stellte es indes für beide Seiten dar.
Schließlich widmet sich unser Heft auch einer Nicht-Entscheidung. Am Beispiel der Passivität der deutschen und französischen Regierungen während des Genozids in Ruanda wird deutlich, dass auch die Entscheidung, nichts zu tun, eine Schlüsselentscheidung sein und verheerende Auswirkungen nach sich ziehen kann.
Diesen ganz unterschiedlich gelagerten Fallbeispielen vorangestellt ist ein einleitender Beitrag, der sich mit einer Begriffsgeschichte der Schlüsselentscheidung beschäftigt und deren besonderen Charakter zu eruieren versucht. Zudem widmet sich ein Querschnittsbeitrag der grundsätzlichen Frage, welche Rolle strukturelle Zwänge, Umweltfaktoren (oder poetischer: die Gunst der Stunde) und vor allem die Persönlichkeit, sprich: biografisch-individuelle Charakteristika der handelnden Personen, bei Schlüsselentscheidungen spielen – und inwiefern sich diese Einflussgrößen gegenseitig ergänzen. Denn obgleich der Ausspruch »L’état, c’est moi!« von narzisstischer Verblendung zeugen mag (wobei sich jüngst zeigt, dass diese Egomanie durchaus politische Erfolge zeitigt) – scheint gleichzeitig auch zu gelten: »structure is not everything«[2].
[2] David Patrick Houghton, George W. Bush, Iran and the Squandering of America’s Soft Power, in: David B. MacDonald u. a. (Hg.), The Bush Leadership, the Power of Ideas, and the War on Terror, Farnham 2012, S. 75–89, hier S. 77.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2025 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2025