»Es lag nicht an mangelnder Information« Ein Gespräch mit Daniela Münkel über das Ende der DDR aus Sicht des MfS, das dortige Berichtswesen und die Verflechtungen zwischen den Geheimdiensten der BRD und DDR

Interview mit Daniela Münkel

2019 haben wir dreißig Jahre »Mauerfall« gefeiert, wobei die Dimension der Re­volution, die zu diesem Ereignis führte, hierbei ins Hintertreffen geraten ist. Wie war es möglich, dass in einem »durchherrschten« Staat wie der DDR diese Revo­lution möglich war? Haben die Sensoren, also etwa das Ministerium für Staats­sicherheit, versagt? Oder hat das womöglich greise Politbüro die Warnungen nicht ernstgenommen? Anders gefragt, welches Lagebild zeichnete das MfS im Herbst 1989 – mit welchem Blick schaute die Stasi im Jahr 1989 auf die DDR?

Das Jahr 1989 fing für die Staatssicherheit relativ unspektakulär an. Es gab zwar einzelne Demonstrationen, in Leipzig oder Ostberlin, aber noch mit wenigen Teilnehmern. Das wurde natürlich zur Kenntnis genommen. Das Berichtswesen der Staatssicherheit jedoch, das dazu gedacht war, die engere Partei- und Staatsführung darüber zu informieren, was wirklich los war und nicht darüber, was man hören wollte, lief relativ normal weiter. Es wurde über die Kirchen berichtet, auch darüber, dass mancherorts die Stimmung nicht so gut sei oder über Wirtschaftshavarien und Versorgungsengpässe, aber das lief im Wesentlichen in bekannten Bahnen ab. Das erste Mal, dass dies ein bisschen durchbrochen wurde, war im Kontext der Kommunalwahl am 7. Mai 1989. Es wusste zwar jeder, dass die Wahlen gefälscht waren, aber da­durch, dass Wahlbeobachter vor Ort waren, konnte man das erstmals nach­weisen und veröffentlichen. Im Nachhinein erscheint diese Situation als die erste im Jahr 1989, in der die DDR-Regierung öffentlich delegitimiert wurde. Dies führte auch zu einer anderen Sichtbarkeit der Opposition. Erstmalig gab es breitere, öffentliche, wenn auch immer noch begrenzte, Unterstützung für sie. So fanden danach an jedem Siebten des Folgemonats kleine Demonstra­tionen in Berlin auf dem Alexanderplatz statt. Das nahm die Staatssicherheit sehr wohl wahr, ging auch dagegen vor, aber das war alles noch überschaubar.

Dennoch, was an diesem 7. Mai passierte, änderte die Berichtslage des MfS schon. Am 1. Juni 1989 schrieb das MfS einen langen, durchaus kenntnisreichen Bericht über die Opposition und die Oppositionsgruppen in der DDR – mögli­cherweise der Selbstvergewisserung wegen, man habe alles im Griff. Im Nach­hinein wirkt es dabei durchaus so, als ob sie jeden Oppositionellen kannten. So schrieb das MfS, es habe ca. 150 bis 160 Gruppen gegeben, häufig unter dem Dach der Kirche, 2500 Sympathisanten, davon wurden 600 Personen zum har­ten Kern gezählt und 60 zu den Führungspersönlichkeiten – den vermeintlich wahren »Feinden des Sozialismus«. Angesichts dieser Überschaubarkeit und der genauen Niederschriften glaubte man, der Dinge Herr zu sein. Und dieser Ein­druck wurde dementsprechend auch der Partei- und Staatsführung vermittelt.

Dieser Eindruck blieb dann bestehen?

Nein. Mit dem Gründungsaufruf des Neuen Forums vom 9./10. Septem­ber und dem folgenden Antrag auf Zulassung setzte sich im Spätsommer 1989 eine Dynamik in Gang, die weder von den Initiatoren noch vom Staat, noch vom MfS oder von irgendwem sonst vorausgesehen worden war. Innerhalb kürzester Zeit erhielt das Neue Forum massiven Zuspruch. Immer mehr Men­schen unterschrieben den Gründungaufruf, Versammlungen wurden quasi überrannt und es folgten weitere Gründungen von Gruppen und Parteien: Demokratischer Aufbruch, Sozialdemokratische Partei der DDR usw. – auch all das wurde zur Kenntnis genommen, akribisch protokolliert und nach oben weitergegeben. In dieser Zeit begann die Staatssicherheit, sich zum Chronis­ten des Untergangs zu entwickeln. Und im Hintergrund stand stets die Frage, wie der Staat und die Staatssicherheit damit umgehen sollten. Gewaltsam oder nicht gewaltsam? Im September und Oktober demonstrierten immer mehr Menschen in immer mehr Städten und Orten der DDR. Und mit dem 9. Ok­tober, der großen Demonstration in Leipzig, die erstmals friedlich und ohne brutalen Eingriff des Staates vonstattenging, erlebte man einen Wendepunkt, der letztlich über die Alexanderplatz-Demonstration zum Mauerfall führte. Die Staatssicherheit hat das also alles wahrgenommen. Sie hat akribisch auf­geführt, was die Oppositionsgruppen wollten und wie viele Menschen aktiv waren. Es wurde auch registriert – und als besonders gefährlich erachtet –, dass nicht nur Oppositionelle, sondern immer mehr Träger des Staates, SED-Mitglieder, unzufrieden waren. Der Punkt ist also eher, dass die Staatsfüh­rung das Ganze nicht wahrnehmen wollte, vielleicht auch nicht wahrnehmen konnte. Es lag nicht an mangelnder Information über die Situation, sondern es lag an Ignoranz und Starrköpfigkeit.

Hätte die Staatssicherheit mit ihrer Personenstärke und dem Anspruch, tief in die Bevölkerung hineinzuhorchen, nicht viel stärker Seismograph anstatt Chronist des Untergangs sein müssen? Hätte ein funktionierender Sicherheitsapparat nicht in der Lage sein müssen, die Brisanz der unterschwelligen Stimmungen erfassen müssen, anstatt Entwicklungen bloß nachzuvollziehen und niederzuschreiben?

Das MfS spürte diese Unzufriedenheit schon, wusste um deren Brisanz. Aber das, was im September passierte, hat niemand vorausgesehen. Und wir blicken jetzt nur auf die Situation in der DDR. Parallel dazu gab es ja auch noch die Ausreisewelle über Ungarn, die Flüchtlingszüge aus Prag. Der DDR liefen die überwiegend jungen Menschen weg. Auch diese existenzbedrohen­den Ereignisse wurden registriert. Aber nochmals, die Dynamik, die dann einsetzte, hätte meiner Einschätzung nach kein Geheimdienst und keine Geheimpolizei voraussehen können. Auch die Akteure der Opposition nicht, die waren selbst von den Reaktionen auf die Zusammenkünfte und von der Resonanz, welche etwa der Aufruf des Neuen Forums fand, derartig über­rascht, dass sie es gar nicht fassen konnten. Sie waren mitnichten darauf vor­bereitet. Auch in der Bundesrepublik hatte niemand, mag er noch so gut in­formiert gewesen sein, vorausgesehen, was da passieren würde. Ich glaube, das war ein Prozess, der sich so schnell dynamisierte, dass er in der Form schwer überhaupt voraussehbar war.

Dabei setzen die Geschehnisse alte Traumata frei. Als man sich zur Bespre­chung im September zusammensetzte, fragte Erich Mielke, ob nun ein neuer 17. Juni bevorstünde. Die Erinnerung an den Volksaufstand berührte schließ­lich den Kern des MfS, war es 1953 doch das Ministerium für Staatssicher­heit, das verantwortlich gemacht wurde, diesen Volksaufstand nicht voraus­gesehen zu haben. Das Berichtswesen des MfS, über das wir hier sprechen, war ja seine direkte Folge – man wollte so etwas in Zukunft vermeiden. Aber Mielke suchte nicht den Konflikt, er war bereits seit 1957 Minister für Staats­sicherheit, auch weil er ein Gespür dafür hatte, wie mit den Machtkonflikten innerhalb der SED umzugehen war. Und man merkte im September, dass sich dieses Politbüro wahrscheinlich nicht mehr halten würde – und dass der neue Mann nicht mehr Erich Honecker war. Das wirkte sich nun auch auf das Be­richtswesen aus, mit dem man sich nun offensiver gegen »die Alten« wandte.[...]

Das Gespräch führten Matthias Micus und Michael Luehmann.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019