»Nun sag, wie hast du’s mit dem Transnationalismus?« Die transnationale Konfliktlinie und ihre Erklärungskraft für den Rechtsruck
»Die EU sollte den Bewohnern von Inselstaaten, die durch den Klimawandel bedroht sind, die europäische Staatsangehörigkeit anbieten und ihnen eine würdevolle Migration ermöglichen.« Als Ricarda Lang, Sprecherin der Grünen Jugend, am Morgen des 3. August 2018 in der TV-Sendung »ZDF heute« mit dieser Forderung zitiert wurde, ahnte sie vielleicht bereits, dass ihr ein anstrengendes Wochenende bevorstehen würde. Was dann aber wenige Stunden später in den Kommentarspalten der Online-Medien über die junggrüne Politikerin zu lesen war, mag sie dennoch überrascht haben und hatte jedenfalls mit dem, was sich in Lehrbüchern und Akademiereden unter demokratischer Debatte vorgestellt wird, nichts zu tun: In einem Zeitraum von 24 Stunden sammelten sich tausende Beschimpfungen, sexistische Beleidigungen, Morddrohungen sowie Todes- und Vergewaltigungswünsche an. Gleiches passierte Claudia Roth (Grüne), nachdem ihr – im Übrigen fälschlicherweise – durch Alexander Dobrindt (CSU) die Worte in den Mund gelegt worden waren, die Grünen wollten »alle aufnehmen, die als Flüchtlinge auf der Welt unterwegs sind«. Neben der schlichten Tatsache, dass die beiden hier von offener Aggression betroffenen Politikerinnen Frauen in starken Positionen sind, haben ihre Fälle noch etwas anderes gemeinsam: Die Frage nach freier Migration, die den Kern der Forderungen trifft, löst in Teilen der Gesellschaft heftige Emotionen aus.
In diesem Text wird die Position vertreten, dass es kein Zufall ist, wenn Forderungen nach mehr Migration zu harschen Reaktionen führen. Im Gegenteil sind Shitstorms von diesem Ausmaß Symptom einer ganz spezifischen neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie, die in ihrer Intensität eine Zäsur im politischen System darstellt. […]
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018