Editorial

Von Julia Bleckmann, geb. Kiegeland  /  Matthias Micus  /  Marika Przybilla-Voß

Im April 2017 jährt sich zum hundertsten Mal das Gründungsdatum der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, kurz: USPD. Den meisten werden weder die Organisation noch das Kürzel sonderlich bekannt sein. Und dies, so kann man mit Blick auf die reinen Fakten sagen, mit einigem Grund. Schließlich bestand die Partei nur wenige Jahre, von 1917 bis 1931, als relevanter politischer Faktor hatte sie gar spätestens im September 1922 bereits zu existieren aufgehört, als in Nürnberg ihre Delegierten zusammen mit Vertretern der damals sogenannten Mehrheitssozialdemokratischen Partei Deutschlands (MSPD) bei einem gemeinsamen Parteitag die Wiedervereinigung beider Verbände zur – mit Blick auf die Namensgebung wenig originellen – Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (VSPD) vollzogen. Faktisch kam das der Rückkehr der Unabhängigen in die SPD gleich, nachdem erstere schon zwei Jahre zuvor, Ende 1920, durch den Übertritt der damaligen Parteimehrheit zur KPD einen Gutteil ihres Massenanhanges verloren hatten.

Dennoch werden im Verlauf des Frühjahres zahlreiche sozialdemokratische Parteigliederungen aus Anlass des Jubiläums der Zeitspanne zwischen Kriegsende und Republikgründung gedenken, dabei die linke Parteiengeschichte in der Zwischenkriegsepoche Revue passieren lassend. Die Parteizeitung der SPD, der Vorwärts, wird Artikel dazu publizieren und die parteinahe Friedrich-Ebert-Stiftung widmet der USPD-Gründung im Februar unter dem Titel »Weltkrieg. Spaltung. Revolution – Sozialdemokratie 1916–1922« eine zweitägige Tagung.

Wie erklärt sich dieses Interesse an einer mittlerweile doch sehr fernen Vergangenheit, woraus speist sich das Bedürfnis des erinnernden Rückblicks? Womöglich resultiert das Geschichtsbewusstsein – auch – aus der Krise der SPD in der Gegenwart. Dergleichen zeigte sich jedenfalls früher verlässlich: Immer dann, wenn es bedrohlich wurde, erinnerten sich Parteien ihrer Traditionen, ihrer Mythen und Legenden. Mithin: So wie politische Gegner, gar ideologische Feinde, einen kräftigen Kitt für politische Gruppen darstellen, deren Anhänger ihre internen Differenzen im Angesicht der äußeren Bedrohung hintanstellen, so stabilisierend wirken sich Erinnerungen an einschneidende Ereignisse, fundamentale (Richtungs-)Kämpfe, überzeugungsfeste Vorderleute auf sie aus. Parteien, so lautet eine Binsenweisheit der historisch erklärenden politischen Kulturforschung, sind das Resultat zentraler historischer Konfliktlinien, fundamentale Konflikte ließen sie entstehen und machten sie groß, die Erinnerungen daran festigen sie auch noch lange danach.

Und eben daran fehlte es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht, zumal auf der Linken. Wenn auch eher abstrakt, so waren doch sowohl das politische Ziel – der Sozialismus –, der Weg dorthin – die Vergesellschaftung der Produktionsmittel – als auch das sogenannte historische Subjekt – das Proletariat – noch weitestgehend unbestritten. In der Auseinandersetzung mit den Konservativen, Nationalen und Kaisertreuen focht man für die Schwachen und Benachteiligten und – als Zwischenetappe – für Frieden, für Gleichberechtigung, für Demokratie. Nicht zuletzt die revolutionsschwangeren Zeitläufte forderten klare Bekenntnisse; auch an charismatischen, die sozialistische Idee sinnträchtig verkörpernden Führern bestand infolgedessen kein Mangel. Möglich ist es also durchaus, dass der Rückblick der Sozialdemokraten auch der geschundenen Gegenwartsexistenz gilt, die durch den Rückblick auf vermeintlich bedeutsamere, entscheidungssattere, gesinnungsstärkere Epochen aufgerichtet werden soll.

Darüber hinaus aber ist die Gründung der USPD ein Ereignis, das in der Folgezeit für den vermeintlichen Hang der politischen Linken zu Friktionen und Zerwürfnissen eine geradezu symbolische Bedeutung gewonnen hat. Die Politik des Burgfriedens zahlreicher sozialistischer Parteien mit ihren nationalen Regierungen im Ersten Weltkrieg einerseits und die Oktoberrevolution 1917 andererseits hatten zwischen 1914 und 1920 zum Zusammenbruch der Zweiten Internationalen und zu neuen Spaltungen innerhalb der Arbeiterbewegung geführt, welche den stetigen Konzentrationsprozess der vorangegangenen Jahrzehnte beendeten. Die neuere Geschichte linker Entzweiungen in eine sozialdemokratische und eine kommunistische Richtung – sowie in »dritte Wege« zwischen den beiden – nahm hier ihren Ausgang.

Insofern drängt sich das hundertjährige Jubiläum der USPD-Gründung 1917 für eine Darstellung und Bestandsaufnahme der Linken geradezu auf. Nicht nur, dass die Gründung selbst in eine spektakuläre Phase hochverdichteter Entscheidungen, emotionalen Überschwangs und tiefgreifenden Wandels fiel, dadurch an sich schon Stoff genug für eine Vielzahl interessanter Analysen bietet. Darüber hinaus zeitigte dieses Datum Folgen und Wirkungen weit über den damaligen Moment hinaus. Die Geschichte der und des Linken in Deutschland (und darüber hinaus) ist und bleibt mehr oder weniger unmittelbar mit dem April 1917 verbunden, da sich durch die Initialzündung zu ihrer politischen Auffächerung neue Räume zur politischen, kulturellen, thematischen Entfaltung linkssozialdemokratischer Kräfte und Ambitionen öffneten.

Vielleicht kann die vorliegende INDES auf diese Weise einen Beitrag leisten zu einer Diskussion über die Geschichte, das Wesen und die Zukunft des Sozialdemokratischen, die schon seit Längerem geführt werden müsste. Und selbst wenn der Augenblick zu Beginn eines Bundestagswahljahres nicht eben günstig für eine derartige Debatte erscheint: Wann, wenn nicht im Wahlkampf, sind politisches Selbstbewusstsein und strategische Selbstsicherheit vonnöten? Beide aber setzen, sofern nicht ohnehin vorhanden, einen vorgelagerten Prozess der Selbstvergewisserung voraus. Und dass eine unzweideutige Orientierungsklarheit in der zeitgenössischen Sozialdemokratie erschütterungsresistent vorhanden wäre – dies zu behaupten, wäre beinahe so kühn, wie es die Gründung der USPD im Frühjahr 1917 gewesen war. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017