Paradoxien der Klimadiplomatie Welten und Weltbilder im Wandel
Man kann Stuttgart 21 für vieles kritisieren, aber gewiss nicht dafür, dass die Öffentlichkeit überrumpelt worden wäre. Seit den 1990er Jahren wurde rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof fleißig geplant und geworben, mit allem, was Infrastrukturprojekte heute so zu bieten haben. Da wurden Machbarkeitsstudien angefordert, Genehmigungsverfahren initiiert, Ausstellungen konzipiert und Computersimulationen gebastelt. Der öffentliche Enthusiasmus hielt sich in Grenzen, aber die meisten Menschen hatten noch andere Sorgen; und wenn sich über Jahre nur Papiere und Pixel bewegen, dann macht sich irgendwann die Gewissheit breit, dass aus dem Projekt sowieso nichts mehr werden wird. Aber dann kam ein Ministerpräsident, der das Projekt zur Chefsache erklärte und gegen alle Zweifel durchdrückte. Der Rest ist bekannt.
Auch die Klimadiplomatie ist ein Großprojekt, das nach endlosen Verhandlungen Ergebnisse produziert, mit denen niemand glücklich wird. Ein Beispiel ist das Atomkraftwerk Hinkley Point C, das derzeit in Somerset im Südwesten Englands gebaut wird. Da stand am Anfang ein Premierminister namens Tony Blair, der sich im Vorfeld des Klimagipfels von Kopenhagen als Vorkämpfer des Klimaschutzes präsentieren wollte. Blairs Amtszeit ist längst Geschichte und Kopenhagen zum größten Fiasko der internationalen Umweltpolitik geworden; aber die Verhandlungen über neue Atomkraftwerke auf den britischen Inseln sind trotzdem lustlos weitergelaufen. Die Energiekonzerne waren nicht begeistert, konnten aber darauf vertrauen, dass sich die Politik ein Scheitern irgendwann nicht mehr leisten konnte. Und so ist am Ende nach fast sechs Jahren ein Vertrag unterschrieben worden, über den sich die Stromkunden künftiger Jahrzehnte noch lebhaft beklagen werden. […]
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015