Editorial
Generationen verbinden: Wenn man von einer Generation spricht, bedeutet dies stets, dass man zumindest eine vage Vorstellung von den Gemeinsamkeiten einer bestimmten Gruppe von Menschen hat und diese artikulieren möchte. So konstruiert man gemeinsame Berührungspunkte und einende Verbindungen, um daraus ein Identifikationsangebot für sich oder andere Menschen bereitzustellen. Dem Mensch als sozialem Wesen ist schließlich nur wenig wichtiger als der Bezug auf eine Gemeinschaft, und sei sie nur imaginiert. In jedem Bezug auf Generationen kann somit stets der Versuch gesehen werden, sich aktiv des eigenen Ortes im gesellschaftlichen Gefüge zu versichern. Die Suche nach Gemeinsamkeiten schweißt allerdings häufig erst dann zusammen, wenn sie nicht nur der positiven Selbstverortung dient, sondern auch als Abgrenzung zu anderen Gruppen herangezogen werden kann. Aus diesem Zusammenspiel von Selbstverortung und Abgrenzung dürfte sich ein guter Teil der Popularität der Generation in der Sozialwissenschaft und dem Alltag erklären. In unsicheren Zeiten, überwölbt von massenmedialer Berichterstattung, also dient die Generationsbeschreibung immer auch der Suche nach Orientierung, so Ulrike Jureit im einführenden Interview dieser Ausgabe.
Daneben besitzen Generationen aber immer auch ein gewissermaßen »reales«, von den Individuen nicht kontrollierbares Gravitationszentrum aus historischen Begebenheiten. Mit Karl Mannheim können wir annehmen, dass Generationen keinesfalls »nur« auf Grundlage bewusster Selbst- und Fremdverortungen entstehen. Im Gegenteil, es sei das Schicksal, das die Mitglieder einer Generationslagerung schließlich zum Generationszusammenhang – und damit zu einem wahrnehmbaren Zusammenschluss – verbinde. Dort also klingt es zumindest ganz anders: Menschen werden geprägt und können sich diesen Einflüssen kaum widersetzen. Sich bewusst entscheiden jedenfalls, ob man dieser oder jener Generation angehört, das funktioniert nach diesem Verständnis so leicht nicht.
Nun kann es das Schicksal jedoch gut oder schlecht mit einer Generation meinen. Gerade aus der Dynamik des Fortschritts drängt die Möglichkeit, die Umgestaltung der Gesellschaft zum Generationenprojekt werden zu lassen. Folgt man etwa Albert Hirschman oder auch Karl Marx, dann gehen gesellschaftliche Fliehkräfte vor allem aus Fortschritt, Prosperität, raschem wirtschaftlichen Wachstum hervor. Auf einem Höhepunkt solch goldener Zeiten prangt die Ziffer 1968 – und mit ihr die letzte als »heroisch« titulierte Generation der Bundesrepublik.
Heute wissen wir, dass mit dieser symbolischen Jahreszahl gewissermaßen eine Klimax erreicht wurde, und durchleben vielerorts ein Kontrastprogramm. Aufstiegswege sind blockiert, Rezessionen verstetigen sich in schnellen Zyklen. Das verbindende Gefühl ist die Erfahrung der Blockade, der Aussichts-und Hoffnungslosigkeit. Es bilden sich somit, in starkem Kontrast zu den hoffnungsvollen Jahren der Trentes Glorieuses, in einem wirtschaftlich und psychologisch depressiven Umfeld verlorene Generationen.
Diese trüben Erfahrungen sind es, denen wir in der vorliegenden Ausgabe der INDES nachspüren. Begonnen wird dabei mit Inspektionen aus verschiedenen Ländern. Einleitend gewährt Loïc Wacquant aus stadtsoziologischer Sicht Einblick in die Dynamiken, die zum Entstehen verlorener Generationen beitragen. Ferdinand Sutterlüty und Jens Gmeiner zeichnen in ihren Portraits nach, warum junge Menschen in ökonomisch und räumlich segregierten Stadtteilen der Großstädte Großbritanniens, Frankreichs und Schwedens randalieren, die sprichwörtlichen Riots veranstalten. Diese eher düsteren Schilderungen werden in Margarita Tsomous Portrait junger Menschen in Griechenland bestätigt – und um eine zumindest klein wenig optimistischere Perspektive ergänzt. Neben Griechenland ist auch Italien im Verlauf der wirtschaftlichen und sozialen Krise im Euroraum zum Brennpunkt geworden. Besonders betroffen scheint hier, so Romina Spina in ihrer Darstellung, die Generation der 30- bis 40-jährigen Italiener. Über Europa hinaus blicken die Darstellung der jungen Protestgeneration im Iran von Said Boluri und Nils C. Kumkars Inspektion der gebeutelten transnationalen Generation in den Protesten um Occupy Wall Street.
Wenngleich wir es hier mit aktuellen Phänomenen zu tun haben, ist es doch nicht so, dass diese verlorenen Generationen ohne historische Vorläufer wären. Erfahrungen der Blockade, der Ernüchterung, des Verlierens entstehen und entstanden in vielen Bereichen des sozialen Miteinanders und nicht zuletzt auch im intellektuellen und wissenschaftlichen Leben. So zeigt Oliver Neun in seinem Portrait der »New York Intellectuals« um Daniel Bell, wie sehr Erfolg und Niederlage intellektueller Generationen an bestimmte historische Umstände gebunden sind. Katharina Rahlf fragt in ihrer Darstellung der sprichwörtlichen »Lost Generation« um Hemingway und Fitzgerald, ob bzw. wie dieses Label zur Beschreibung solch einflussreicher Literaten passt.
Dem gegenwärtigen oftmals blockierten und perspektivlosen wissenschaftlichen Nachwuchs in der Bundesrepublik widmen sich demgegenüber Andrea Lange-Vester und Christel Teiwes-Kügler. Gerade wenn es um die Arbeits- und Lebensbedingungen junger Wissenschaftler oder Entrepreneure der Kreativbranche geht, wird man unweigerlich an die Diskussionen um die »Generation Praktikum« erinnert. Martin Gloger analysiert in seinem Portrait deren »realen« Gehalt. International ergänzt wird sein Portrait durch den Beitrag von Birte Schohaus, die die Lebenswirklichkeit niederländischer Altergenossen zwischen zwanzig und dreißig Jahren illustriert.
Auch wenn Kreativität, Bildung und Geist als wesentliche Ressourcen der Wissensgesellschaft gelten – eine erfolgreiche akademische Karriere garantierten sie weder früher noch tun sie dies heute. Zumal nicht bei politischen Aktivisten in turbulenten Zeiten. Jürgen Schmidt zeigt all dies am Beispiel einer Ikone: Karl Marx.
Spätestens mit dem Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus befinden wir uns auf dem Feld des Politischen. Aus der gegenteiligen Perspektive derer, denen eine Generation verlustig geht, beleuchtet Michael Lühmann, wie die FDP in jüngster Zeit mit den »Börsenboomern« eine sichergeglaubte Generation an Wählern verlor. Die Erfahrungen des Verlorenseins und Verlierens, des Ausgebremst- und Blockiertseins schließlich zeitigen charakterliche Folgen, verleihen manch skurriler Person Gehör. Dies verdeutlicht Franz Walter an »tusk«, dem Charismatiker der Bündischen Jugend.
In den Perspektiven diskutieren Hannah Bethke und Eckhard Jesse in der Kontroverse den Eklat um die nationalsozialistische Vergangenheit des Politikwissenschaftlers Theodor Eschenburg und die erhitzten Debatten über Beibehaltung oder Abschaffung des nach ihm benannten Eschenburg-Preises der DVPW. Die Rubrik »Konzept« greift eine aktuelle Methodendiskussion aus der US-amerikanischen Sozialwissenschaft auf. Richard Biernacki plädiert in seinem Beitrag scharf für eine Stärkung hermeneutischer Interpretationen und grenzt sie von quantitativen Kodierungsverfahren ab, die echte sozialwissenschaftliche Erkenntnis zu ersticken drohten. David Bebnowski schließlich widmet sich mit der »Alternative für Deutschland« politischen Newcomern und analysiert die speziellen Formen ihres expertokratischen Populismus. Die künstlerische Gestaltung dieses Hefts lag in den Händen von Fabian Hilbich. Seine Fotos und Illustrationen zwischen Streetart und Konzeptkunst stehen für den Versuch, auf morschem Boden und plastischem Verfall mit den Techniken des Samplings Neues und häufig genug Buntes zu schöpfen. Gerade die dunklen Szenarien, das verloren Geglaubte, so könnte man seine Werke mitsamt ihrer ironischen Brüche interpretieren, stehen somit nicht nur als Symbole des Verlusts und Niedergangs, sondern werden mitunter auch zum Sinnbild für Chancen.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2013 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013