Wehret den Anfängen Von der notwendigen Selbstreflexion der Sozialdemokratie in Anbetracht des Rechtspopulismus

Von Kristina Meyer

Im Januar 2016 riefen drei Essener SPD-Ortsvereine unter dem Motto »Genug ist genug – Integration hat Grenzen. Der Norden ist voll« zu einem »Lichtermarsch « auf. Ihr Anliegen: Mehr als zwei Drittel der in Essen untergebrachten Flüchtlinge seien in nördlichen Stadtteilen angesiedelt worden – ausgerechnet dort, wo der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund mit vierzig Prozent ohnehin bereits sehr hoch liege, ebenso wie die Zahl von Menschen in prekären sozialen Verhältnissen. Die Jusos riefen zum Boykott der Veranstaltung auf, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft erklärte, solche Aktionen schadeten dem Ansehen ihrer Partei, die für eine offene und vielfältige Gesellschaft eintrete. André Stinka, Generalsekretär der SPD in Nordrhein-Westfalen, sagte den Marsch nach einem Treffen mit den drei Ortsvereinen ab: Es sei »eine vollkommen falsche Botschaft« an die Bevölkerung gesendet worden, außerdem habe man befürchtet, dass AfD und NPD den Marsch als »Plattform « nutzen würden.[1] Vier Monate später beendete der 46-jährige Essener Bergmann Guido Reil, einer der Befürworter des Protestlaufs, nach 26 Jahren seine Mitgliedschaft in der SPD und trat der AfD bei. Die SPD habe den »Kontakt zu normalen Menschen, zum praktischen Leben« verloren, erklärte Reil: In den Führungsriegen der Partei würden nur noch Akademiker akzeptiert. Er selbst bezeichnet sich als »national denkenden, sozialen Demokraten «, als einen, »der dagegenhält und auf Distanz zum Establishment bleibt«.[2]

Der »Überläufer« Reil ist kein Einzelfall. Aus vielen Ecken der Republik, vor allem aber aus dem Stammland der Sozialdemokratie an Rhein und Ruhr, ist von Parteiübertritten und Wählerwanderungen langjähriger SPD-Anhänger zur AfD zu hören. Die vorgebrachten Beweggründe gleichen sich: Ängste würden von der Partei nicht ernst genommen, Einwände gegen die kommunale Flüchtlingspolitik automatisch abgeblockt und moralisierend in die »rechte Ecke« gestellt, und ohnehin vertrete die SPD längst nicht mehr die Interessen der »kleinen Leute«. Warum kehren Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die jahrzehntelang in der SPD aktiv waren, ihr plötzlich den Rücken und unterstützen stattdessen eine Partei, in der völkisch-nationalistisches Gedankengut, ein exklusives Verständnis gesellschaftlicher Solidarität und revisionistische Geschichtsbilder vertreten werden? Wie reagiert die SPD bislang auf diese Abwanderungsbewegung – und könnte ein Blick zurück in die Parteigeschichte für den Umgang mit der AfD womöglich lehrreich sein?
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[1] Reiner Burger, Flüchtlingspolitik und SPD. Bloß keine falschen Signale senden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.2016.

[2] Daniel Godeck u. Horand Knaup, Stachel im Fleisch, in: Der Spiegel, 18.03.2017.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018