Das Konferenz-Manifest Wider das akademische Tagungsunwesen

Von Christy Wampole

Wir sind der akademischen Konferenzen überdrüssig.

Wir sind Geisteswissenschaftler, die weder im Format noch im Inhalt von Konferenzen Geist erkennen können.

Wir saßen geduldig und brav Vorträge ab, die Zeile für Zeile monoton von einem Redner vorgetragen wurden, der nicht ein einziges Mal aufschaute, und fragten uns, warum wir das Paper nicht im Voraus haben lesen können, denn davon hätten wir mehr gehabt.

Wir versuchten, das Fehlen einer These oder gar eines einzigen interes­santen Satzes in einem zwanzigminütigen Vortrag zu ignorieren.

Unsere Kinnlade klappte fassungslos herunter, wenn ein Redner versuchte, einen dreißigminütigen Vortrag in ein Zeitfenster von zwanzig Minuten zu quetschen, indem er so schnell vorlas, dass man ihn nicht verstehen konnte.

Wir waren einer von zwei Teilnehmern an einem Panel.

Wir litten still, als jemand während eines kompletten Vortrages einfach nur die Passagen auflistete, in denen ein bestimmtes literarisches Motiv in einem Roman vorkam.

Unsere Gesichter verzogen sich, weil unsere Kollegen vorgaben, sie hätten die akademische Redeweise des Redners verstanden.

Wir hörten uns die ersten fünf Minuten eines Vortrages an, gerade lange genug, um begierig ein Wort aufzugreifen, aus dem man für die Fragerunde eine Pseudo-Frage machen konnte.

Wir fragten Diskussionsteilnehmer, ob sie »ein bisschen mehr über dies oder das erzählen«, »jenes etwas mehr aufschlüsseln« oder »hier noch etwas mehr herauskitzeln« könnten.

Wir hörten zu, wie Kollegen Fragen stellten, die mit ihrer eigenen For­schung zu tun hatten, aber keinerlei Relevanz für jemand anderen als sie selbst besaßen.

Bei besonders schlimmen Sitzungen bekamen wir Zettelchen oder reich­ten sie weiter, auf denen »Bring mich jetzt sofort um« stand.

Wir stellten gedanklich ein Klassifizierungsschema mit verschiedenen Konferenztypen auf: der Querdenker, der Entertainer, das Mauerblümchen, der Großtheoretiker, der Namedropper, der Konformist, der Nachplapperer, der philosophierende Angeber.

Wir kritzelten unsere Notizbücher voll und antworteten auf unwichtige E-Mails, während wir im Publikum eines Panels saßen.

Wir knabberten an unseren Fingernägeln und zählten die leeren Stühle im Raum.

Auf nationalen Konferenzen waren wir nur bei unseren eigenen Vorträgen anwesend und verbrachten den Rest des Wochenendes an der Poolbar, wo man mehr über die Freien Künste lernen konnte als auf der Konferenz selbst.

Wir hatten die Idee, uns ein Konferenz-Bingo patentieren zu lassen, bei dem die Spieler Bingokarten erhalten, auf denen verschiedene Konferenzvo­kabeln stehen, welche während der Gruppendiskussionen gesammelt wer­den müssen – »sub-semantisch«, »dialektisch«, »Normativität«, »mythopoe­tisch«, die Adjektivierung des Namens eines Philosophen (Meillassouxsisch, Cixousisch), »post«-irgendwas.

Wir hatten Tagträume, in denen nach der Art des Nummernprogramms im Varietétheater ein riesiger Stock aus einem der Bühnenflügel hervortrat und den leiernden Redner vom Pult wegzog.

Wir fragten uns: »Wenn das aus den Geisteswissenschaften geworden ist, sollten sie dann weiterhin existieren?«

Akademische Konferenzen sind eine Gewohnheit aus der Vergangenheit, die von der »Verwaltuniversität«2 – ein Begriff, der den momentanen Zustand auch der amerikanischen Gesellschaft insgesamt beschreibt, welche im Zu­stand eines bürokratischen Gefängnisses steckt, in dem das Gehirn nicht mehr arbeiten muss – als eine Möglichkeit wahrgenommen wurden, um Wissen vorzuführen und die Produktivität in Form von veröffentlichten Konferenz­berichten zu steigern. Wir trugen daran Mitschuld. Bis jetzt.

Wir glauben, dass es an der Zeit ist, uns selbst zu fragen: Was ist der Sinn einer Konferenz? Was hat dazu geführt, dass wir sie jedes Jahr wieder or­ganisieren, ohne deren Grundlage zu hinterfragen? Gibt es Möglichkeiten, Konferenzen ein neues Format zu geben oder soll man sie ganz abschaffen und sie durch etwas Intellektuelleres, Professionelleres und Zufriedenstellen­deres für alle Beteiligten ersetzen? Was ist unsere tatsächliche Motivation für die Organisation einer Konferenz und die Teilnahme an ihr? Besteht unser Antrieb darin, unsere Lebensläufe aufzupolieren? Wollen wir netzwerken oder interessiert uns, welche Forschung aktuell auf unserem Feld durchge­führt wird?

Wenn Konferenzen, wie viele Wissenschaftler vertraulich zugeben, ein ein­facher Weg sind, um die eigenen Freunde bequem wiederzusehen oder neue Kollegen kennenzulernen, sollten sie dann nicht durch ein weniger formelles Format ersetzt werden? Wie wäre es bspw. mit einem dreitägigen »Salon Philo­sophique«; oder mit großen Arbeitsgruppen? Möglich wäre auch das Szenario eines Speed Datings oder einer Wanderfreizeit. Warum sollte ein Doktorand mehrere Hundert Dollar ausgeben – die er zudem oft aus der eigenen Tasche bezahlen muss –, um zu einer Konferenz zu fliegen, ein Hotelzimmer zu bu­chen und einen Vortrag vor drei Teilnehmern zu halten, von denen zwei noch dazu seine Freunde sind, die am Vorabend in besagtem Hotelzimmer bereits die Generalprobe gehört haben? Wenn andererseits alle zufrieden sind mit Konferenzen als einem gewohnheitsmäßigen Brauch, warum reichen dann die Gefühle nach einer Konferenz typischerweise von Enttäuschung bis hin zu un­bändiger Wut – das Ganze freilich immer in gedämpften Tönen ausgedrückt?

Wir verstehen, dass dies ein sensibles Thema ist. Konferenzen fühlen sich notwendig an, doch ihr Zweck ist unklar. Wir bestreiten nicht ihr theoreti­sches Potenzial für die Geisteswissenschaften, sie schöpfen es bloß praktisch nicht aus. Uns ist zweifellos klar, dass wir nicht für alle sprechen. Manche Wissenschaftler lieben Konferenzen. Sie lieben das gerade beschriebene Ri­tual. Allerdings nehmen wir doch eine wachsende Unzufriedenheit bei vielen Wissenschaftlern wahr, welche sich dadurch zeigt, dass nach dem Ende von Konferenzen Augen verdreht werden und geseufzt und gemurrt wird. Des­halb legen wir das Thema jetzt offen zur Diskussion auf den Tisch.

Wir erwarten nicht, dass sich das Konferenzsystem in nächster Zeit än­dert. Bis es so weit ist, legen wir bescheiden den folgenden Vertrag vor, wel­chen Sie gern im Vorhinein an die Redner Ihrer nächsten Konferenz vertei­len dürfen. Und die Einladung könnte gebunden sein an das Lesen und die Unterzeichnung einer Vereinbarung zur Einhaltung der folgenden Kriterien für die Konferenzvorträge:

1

Ich verstehe, dass der Konferenzvortrag etwas tun soll, was ein wissen­schaftlicher Artikel nicht tun kann. Da direkter, realer Kontakt mit anderen Menschen stattfindet, sollte der Redner diese nicht alltägliche und deshalb besondere Möglichkeit nutzen und sich ernsthaft um einen Austausch mit den anderen Wissenschaftlern bemühen.

2

Ich werde meine Aufzeichnungen nicht monoton Zeile für Zeile und ohne in das Publikum zu schauen vorlesen. Ich werde mich nicht krampfhaft der verschiedenen Unterhaltungsgebote bedienen, wie Witzen, Anekdoten oder albernen Folien; aber ich werde mir Mühe geben, mich in mein Publikum hineinzuversetzen, das sich meinen Vortrag anhören muss.

3

Ich verstehe, dass eine Liste kein Vortrag ist. Ich werde nicht einfach das Vorkommen von literarischen Motiven in einem Werk auflisten.

4

Ich werde eine These haben – und falls nicht, werde ich zumindest einen Grund haben, warum ich meinen Vortrag halte.

5

Ich werde so wenig direkte Zitate wie möglich verwenden und nicht auf sie zurückgreifen, nur um Zeit zu füllen. Ich verstehe, dass das Publikum durch lange Textblöcke in »PowerPoint«-Präsentationen oder auf Tischvor­lagen abgeschreckt wird.

6

In der Fragerunde werde ich keine irrelevanten Fragen stellen, nur um eine Frage zu stellen. Wenn meine Frage sehr spezifisch und bedeutungslos für alle anderen außer mir selbst ist, werde ich nach dem Vortrag mit meiner Frage auf den Redner zugehen.

7

Ich werde keine Aussage treffen und dann ein Fragezeichen an das Ende setzen, um sie wie eine Frage klingen zu lassen.

8

Wenn ich tatsächlich eine Frage stelle, werde ich erstens nicht mehr als eine Minute brauchen, um sie zu stellen, und zweitens trage ich sie höflich vor, auch wenn ich mit dem Redner nicht übereinstimme.

9

Ich respektiere die Zeit, die sich meine Kollegen genommen haben, um mich reden zu hören. Ich werde mein Bestes tun, um so klar und prägnant wie möglich vorzutragen und deren Geduld zu belohnen.

10

Ich verstehe, dass ich mich möglicherweise mitschuldig mache am Tod der Geisteswissenschaften, wenn ich diese Empfehlungen nicht berück­sichtige.

Übersetzung: Karin Schweinebraten
Im Original erschienen in »The Stone«, einem Forum für zeitgenössische Philosophen und Denker zu aktuellen und zeitlosen Themen auf der Homepage der New York Times unter dem Titel »The Conference Manifesto«, 04.05.2015, URL: http://opinionator.blogs.nytimes.com/2015/05/04/the-conference- manifesto/?_r=0 [eingesehen am 13.08.2015].

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015