Politische Prediger und Provokateure Vom Verschwinden der Intellektuellen und der konzeptionellen Entleerung der Politik

Von Franz Walter

Historiker haben häufig darauf hingewiesen,[1][2] dass Transformationsprozesse nur schwer konstruktiv zu steuern sind, wenn die großen gesellschaftlichpolitischen Herausforderungen sich in einem engen Zeitraum überschneiden oder »verschürzen«[3]. Diese Konstellation interessiert hier. Denn in ihr entfaltet sich der Moment, den Anführer fundamental orientierter sozialer Bewegungen brauchen – die Schöpfer und Apostel eines neuen Denkens, die Idole einer aufgewühlten Jugend, die Prediger revolutionärer Ideen, die Magier des großen Wortes, die Feuerköpfe der befreienden Tat, aber auch die Frontideologen der Gegenrevolte.[4] Dieser Typus hat uns interessiert. Er war nie Held von Geburt aus. Seine Ausstrahlung hielt kaum ein Leben lang. Er war angewiesen auf den richtigen Moment, wenn die bisherigen Legitimationsgrundlagen zerbrachen, traditionelle Deutungsmuster nicht mehr überzeugten, überkommene Institutionen nicht mehr trugen, bewährte Alltagsroutinen bedrohlich ins Rutschen gerieten. Dann kamen die neuen Heilande mit ihren Erlösungsversprechen zum Zuge. Zuvor hatte man sie, soweit überhaupt wahrgenommen, oft als schräge Sonderlinge abgetan. Und war der historische Moment vorbei, erlosch auch wieder ihre Strahlkraft; es wurde einsam um sie. Späteren Generationen war kaum noch verständlich zu machen, warum diese Figuren eine begrenzte Zeit so begeistern konnten, was so faszinierend an ihren Reden und geistigen Ergüssen gewesen sein sollte. Nach Jahren wirkte das meiste nicht selten lediglich skurril und exaltiert. […]

Anmerkungen:

[1] Bei diesem Text handelt es sich um leicht variierte Auszüge aus der Einleitung des Buches »Rebellen, Propheten, Tabubrecher. Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. und 21. Jahrhundert«, das im Juni 2017 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist.

[2] Siehe Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001, S. 153; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, München 1995, S. 1294.

[3] Reinhart Koselleck, Krise, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617–650, hier S. 640.

[4] Den Versuch, eine derartige Situation zu skizzieren, unternahm u. a. schon William H. Friedland, For a Sociological Concept of Charisma, in: Social Forces, Jg. 43 (1964), H. 1, S. 18–26, hier S. 18.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017