Sport und Identität Über Grenzen, Möglichkeiten und Bedingungen nationaler Aufladung

Von Wolfram Pyta

Als Historiker ihre Scheu vor dem Gegenstand »Sport« überwanden und sich daran machten, das in diesem Kulturphänomen enthaltene Erkenntnispotenzial freizulegen, geriet die Frage nach der identitätskonstituierenden Kraft des Sports ins Zentrum ihres Interesses. Dies lag daran, dass sich historisch vorgehende Wissenschaften bei dieser Entdeckung des Sports von disziplinären Zugriffen leiten ließen. Kultursoziologen, Kulturhistoriker und historisch vorgehende Literatur- und Medienwissenschaftler konnten dabei eine gemeinsame Leitfrage als heuristisch besonders ergiebig identifizieren: Indem sie von der Beobachtung ausgingen, dass »Sport nicht als eine selbstzweckhafte Körperpraxis angesehen«[1] werden kann, kam der Aspekt einer außerhalb der sportlichen Eigenlogik angesiedelten Bedeutungszuweisung in ihr Blickfeld. Solche Sport-Wissenschaftler sind mithin nicht erpicht, eine sportimmanente Antwort darauf zu finden, warum am 4. Juli 1954 das deutsche Team entgegen allen Erwartungen die »ungarische Wunderelf« im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft besiegen konnte. Sie konzentrieren sich vielmehr auf die Frage, warum diese zunächst rein sportliche Begebenheit kulturell veredelt wurde und eine symbolische Güte erhielt, die sie zum Wendepunkt nationaler Selbstverständigungsdiskurse in der jungen Bundesrepublik macht.[2]

In sportlichen Praxen ist also außersportlicher Sinn verborgen – und die sinnhafte Aneignung durch eine Öffentlichkeit, die in vielen Fällen gar keine praktische Beziehung zur kulturell aufgewerteten Sportart besitzt, ist ein legitimer Erkenntnisgegenstand. Die Bilanz der Forschung fällt dabei eindeutig aus: Nicht alle, aber bestimmte Sportarten, die sich in die nationale Sportkultur eingegraben haben, leisten einen wichtigen Beitrag zur Gemeinschaftsstiftung. Gemeinschaften bilden sich über kollektiv geteilte Dispositionen, die emotionale Valenz besitzen, zur sinnhaften Expression fähig sind und in Prozesse medialer Massenkommunikation eingespeist werden. Sie sind keine gleichsam naturalen Zugehörigkeitskollektive, sondern unterliegen einem Prozess beständiger Konstruktion und Neuaneignung durch diejenigen, die sich als Angehörige solcher Gemeinschaften bekennen.

Sport verfügt über die ausgeprägte Fähigkeit, an alle wichtigen Gemeinschaftsofferten anschließbar zu sein: Er kann sich mit dem Bekenntnis zur »Heimat« vermählen[3], der Großgemeinschaft »Nation« zur Expression verhelfen wie auch für das Konstrukt »Europa«[4] Aufbauhilfe leisten. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich damit, wie bestimmte sportliche Praxen mit nationaler Bedeutung aufgeladen wurden. Er lässt sich dabei von der Prämisse leiten, dass Nation als Bekenntnisgemeinschaft nach symbolischer Expression verlangt. [...]

Anmerkungen

[1] Wolfram Pyta, Sportgeschichte aus der Sicht des Allgemeinhistorikers – Methodische Zugriffe und Erkenntnispotentiale, in: Andrea Bruns u. Wolfang Buss (Hg.), Sportgeschichte erforschen und vermitteln, Hamburg 2009, S. 9–21, hier S. 10.

[2]Vgl. Thomas Raithel, Fußballweltmeisterschaft 1954. Sport – Geschichte – Mythos, München 2004.

[3] Vgl. Sebastian Hösch, Heimattage, Paderborn 2019, vor allem S. 17–41.

[4] Dazu Wolfram Pyta, Football Memory in a European Perspective, in: Historical Social Research, Jg. 40 (2015), H. 4, S. 255–269.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020